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Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht

Bernadette Olderdissen
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Wie ich die acht Jahreszeiten in Schwedens Norden erlebte

„Ein wunderbares Buch über gelebte Träume. Lehrreich, aber nie belehrend, nachdenklich, aber auch selbstironisch und vor allem prall voll von Leben.“ - Backnanger Kreiszeitung

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Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht — Inhalt

Die nordischen Jahreszeiten hautnah erfahren

Autorin und Journalistin Bernadette Olderdissen erfüllt sich ihren Traum von Natur und Wildnis mit einem Experiment in Schwedisch-Lappland: Ein Jahr lang will sie als Bewohnerin eines 200-Seelen-Dorfs am Polarkreis die acht Jahreszeiten des samischen Kalenders erleben.

Stadtflucht in ein entschleunigtes Leben

Empfangen wird sie im Januar vom vereisten Meer und von verschneiten Wäldern, von Dunkelheit und Polarlichtern. Die neuen Nachbar:innen helfen ihr, sich an die neue Umgebung anzupassen – und erste Frühlingsboten zu erkennen. Und während das Licht heller und die Luft wärmer wird, schenkt die Natur Lapplands Bernadette Lebenslektionen, mit denen sie nie gerechnet hätte.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 31.08.2023
256 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-89029-577-0
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€ 17,99 [D], € 17,99 [A]
Erschienen am 31.08.2023
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60484-0
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Leseprobe zu „Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht“

Prolog: In welchem Rhythmus lebst du?
Als ich sechs Jahre alt war, begann ich mit dem Cellospielen. Eines Tages brachte mein Lehrer einen komisch tickenden Apparat mit, um mir Rhythmus beizubringen. Das Metronom tickte mal hastig, dann wieder gemächlich, und ich sollte danach spielen. Ich mochte es nicht. Hatte keine Lust, mich Vorgaben zu unterwerfen, die aus meiner kindlichen Sicht eintönig klangen und mit den harmonischen Melodien von Musikstücken nichts gemein hatten. 
Genauso verspüre ich jetzt, über dreißig Jahre später, immer weniger Lust, im Takt [...]

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Prolog: In welchem Rhythmus lebst du?
Als ich sechs Jahre alt war, begann ich mit dem Cellospielen. Eines Tages brachte mein Lehrer einen komisch tickenden Apparat mit, um mir Rhythmus beizubringen. Das Metronom tickte mal hastig, dann wieder gemächlich, und ich sollte danach spielen. Ich mochte es nicht. Hatte keine Lust, mich Vorgaben zu unterwerfen, die aus meiner kindlichen Sicht eintönig klangen und mit den harmonischen Melodien von Musikstücken nichts gemein hatten. 
Genauso verspüre ich jetzt, über dreißig Jahre später, immer weniger Lust, im Takt der meist zu schnell tickenden City durchs Leben zu hasten. Denn meine Antwort darauf, in welchem Rhythmus ich lebe, ist klar: als Wahlhamburgerin vor allem in dem von Bus-, U-Bahn- und Zugfahrplänen, von Ampelschaltungen, Öffnungszeiten der Geschäfte, Bars und Restaurants. Die Liste ist lang, das Tempo rasant (mit Ausnahme mancher Ampeln).
Dann schlage ich im Oktober 2020 für eine viertägige Pressereise in Schwedisch-Lappland auf, in letzter Sekunde, bevor auch die nördlichste schwedische Region Norrbotten zum Corona-Risikogebiet erklärt wird. Schon am ersten Abend vor Ort lerne ich etwas, das mich neugierig macht: Die zu den letzten Ureinwohnern Europas zählenden Samen, die einst nomadisch mit ihren Rentieren lebten und noch heute in Schweden, Norwegen, Finnland und Russland zu Hause sind, teilen das Jahr nicht in vier, sondern in acht Jahreszeiten ein: Winter (auf Samisch Dálvvie), Frühlingswinter (Gijrradálvvie), Frühling (Gijrra), Frühlingssommer (Gijrragiessie), Sommer (Giessie), Herbstsommer (Tjakttjagiessie), Herbst (Tjakttja) und Herbstwinter (Tjakttjadálvvie). Sie leben so nach den Zyklen der Natur und den Bedürfnissen der Rentiere.
Die wenigen Tage im Norden offenbaren mir, dass diese Norrbottener (auf keinen Fall „Lappen“, das ist ein Schimpfwort für die Samen!) einen anderen Zugang zur Natur haben als ich. Sie wollen nicht nur jede freie Minute draußen verbringen, selbst bei minus vierzig Grad, und lesen in Tierspuren und -losungen wie in einem Buch, sondern behaupten sogar, dass der Herbst die „Jahreszeit der Antriebskraft“ sei, ein Neustart!
Zurück in Hamburg klopfen Fragen bei mir an: Was wäre, wenn auch du nicht nur Natur to go im Stadtpark oder -wald oder beim Wochenende im Grünen erleben, sondern über acht Jahreszeiten hinweg im Rhythmus der Natur leben würdest? Was passiert in dieser überwiegend unmanikürten Weite Lapplands? Wie würde sich diese Erfahrung auf deinen Umgang mit der Natur und auf deine Lebenseinstellung auswirken? Die Fragen klammern, und da ich Konjunktive nicht mag, fällt bald eine Entscheidung: Ich probiere das aus! Mache ein Experiment über einen Jahreszyklus hinweg, wobei ich möglichst viel Zeit draußen verbringen werde. Allein und mit Menschen, die in diese Natur hineingeboren wurden. Die keinen Erholungswald kennen, sondern nur Wald, und Natur nicht hauptsächlich als sonnengebadetes Grün, sondern mit all ihren Facetten erfahren. So beginnt eine Reise, die für mich einem leeren Notizbuch gleicht, das die arktische Natur und die in und mit ihr lebenden Menschen über acht Jahreszeiten hinweg mit Geschichten füllen dürfen.
Ich möchte dabei nicht über den ultimativen Natureskapismus erzählen. Nicht darüber, wie ich alle in Schweden produzierten DIY-Möbel in meiner Wohnung abbaue, dem Vermieter den Schlüssel in die Hand drücke und im nordischen Nichts als Einsiedlerin ohne modernen Schnickschnack neu anfange. Weder über die Natur als Wundermittel gegen jedes Unglück noch über Klimahorrorszenarien. Vielmehr möchte ich mich auf die Natur in einer Weise einlassen, die über eine Verschnaufpause am Rande des Alltags hinausgeht. Ich möchte offen sein all dem gegenüber, was mich empfängt oder auch abschreckt, um die Lektionen mit nach Hause zu bringen und, wo immer möglich, in den Stadtalltag zu integrieren. Ob ich sogar lerne, warum der Herbst für Antrieb und Neustart steht?


Die Jahreszeit der Pflege: Winter, Dálvvie
circa Mitte/Ende Dezember bis Anfang März
Es ist Samstag, der 8. Januar 2022, mehr als ein Jahr nach meinem Amuse-Bouche in Schwedisch-Lappland. Drei Tage nach meiner Ankunft in meinem neuen Heimatdorf Båtskärsnäs, kurz Baskeri, mit etwa 200 Einwohnern, zwanzig Kilometer von der Kleinstadt Kalix entfernt. Ich liege auf dem Rücken auf der zugefrorenen Ostsee, irgendwo zwischen Baskeri und den im Eis festgefrorenen Inselchen seines Schärengartens. Starre in den Himmel. Über mir tanzen lautlos hellgrüne Lichter am Himmel der Polarnacht oder skábma, wie sie in samischer Sprache heißt. Die Lichter bewegen sich nach eingespielter Choreografie, sinnlich, als würde ein Maler einen in Grün getunkten Pinsel über eine tiefschwarze Leinwand schwingen. Von den minus zwanzig Grad spüre ich nichts, nehme meinen kalten Rücken und Po kaum wahr. Ich weine, bis die Tränen auf meinen Wangen festfrieren. Ich bin angekommen. Endlich. Nach einer Vorbereitungszeit und Ankunft, bei der ich um etliche Nerven und Geduldsfäden ärmer geworden bin.
Es wäre das Bequemste gewesen, ich hätte mein Jahr in Schwedisch-Lappland im Frühling oder Frühlingssommer begonnen. Wenn die Sonne nicht mehr untergeht und die Straßen frei von Eis und Schnee in der Sonne dürsten. Stattdessen plante ich meinen einjährigen Umzug für den 2. Januar. Wollte mitsamt Auto und begleitet von meinem Freund Diego, der einen Kleintransporter mietete, über Travemünde mit der Fähre nach Helsinki und von dort aus weiter nach Schwedisch-Lappland. Die Variante mit der kürzesten Fahrtzeit auf möglicherweise schneestürmigen Straßen. „Bist du wahnsinnig, da mitten im Winter hinzufahren? Warum tust du dir das an? Das ist fürchterlich kalt und dunkel, da wirst du doch schwermütig! Viele begehen da im Winter Selbstmord!“, lauteten die gängigen Fragen und Prophezeiungen meiner deutschen Freunde. Brauchte ich den Adrenalinkick und die Gefahr, schon bei der Anreise mit dem Hamburger Auto ohne Allradantrieb und mit Allwetterreifen im Schnee stecken zu bleiben? Nein. Ich fuhr im Winter los, weil ich nach vier Monaten Vorbereitung endlich loswollte. Weil das neue Kalenderjahr auch für einen neuen Beginn in meinem – wie bei vielen von uns – coronageplagten Berufsleben als Reisejournalistin und -autorin stehen sollte. Vor allem aber, weil es sich richtig anfühlte, mein Jahr im Rhythmus der Natur in tiefster Dunkelheit und Kälte zu beginnen, denn unter diesen Bedingungen wurde auch die Idee für dieses Experiment geboren. Und bei der äußeren Finsternis hat die Natur vorgesorgt: Sie wird schon zu Beginn des Jahres mit jedem Tag lichter.
Doch dann drohte alles in letzter Minute zu platzen.
Leben im Rhythmus der Natur – damit würde ich im Januar 2022 in Lappland anfangen. So stand es im Terminkalender. Den Dezember plante ich dagegen in meinem Rhythmus. Schnell noch für zwei Tage nach Neapel jetten zum 70. Geburtstag von Diegos Vater, dann eine Woche Arzttermine – Frauenarzt, Zahnarzt, Booster-Impfung. Leichte Halsschmerzen ignorierte ich, Zeit, mich auszukurieren, fehlte. Mein Körper bedankte sich – Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, die Halsschmerzen explodierten, die Nase machte dicht. Dafür hatte ich gar keine Zeit! Ich wollte packen, organisieren, bis zum letzten Tag Sport treiben, mich von Freunden verabschieden, einen Sauna- und Spa-Tag einlegen. Das Leben hatte andere Pläne. An einem Samstagabend fuhr mich Diego zur Notfallpraxis, damit ich mir etwas gegen die packevollen Nebenhöhlen verschreiben lassen konnte. Die Praxis hatte eine bessere Idee: PCR-Test. Ich rollte die Augen. Aber gut, wenn ich danach etwas für meine Nebenhöhlen bekam.
In der Nacht schüttelte ich mich in den Schlaf, wachte morgens in einem Schweißpool auf – und fühlte mich geheilt. Den PCR-Test vergaß ich zunächst, checkte erst abends die App. Statt Entwarnung folgte eine Ohrfeige: roter Hintergrund, weiße Schrift: POSITIV. Ach du Scheiße! Ich doch nicht! Ich war zwei-, nun sogar dreimal geimpft! Und Schweden? Wie lange musste ich in Quarantäne? Der Anruf des überforderten Gesundheitsamtes und Klärung ließen auf sich warten. Ich spulte das Jammerlappen-Programm runter. Das auch noch! Hatte ich in den letzten beiden Jahren nicht genug mitgemacht? Wie oft hatte ich gelesen, dass „Warum passiert mir das?“ die falsche Frage ist und die richtige „Was kann ich davon lernen?“ lautet. Das wusste ich. Wenn die Wellen um mich herum ruhig waren. Aber wenn es stürmte, dann trieb die richtige Frage schiffbrüchig auf dem Ozean des Gedankenchaos.
Meine Quarantäne wurde bis einschließlich 28. Dezember angeordnet, die Abfahrt nach Schweden war für die Nacht auf den 3. Januar geplant. Ich atmete auf. Meine Nase tropfte. Das musste jetzt aber aufhören! 48 Stunden vor Quarantäneende musste ich symptomfrei sein, mein Körper musste … Moment mal! Wie ist das mit Leben im Rhythmus der Natur? Ist dieses Virus nicht auch ein Teil davon? Ein Körper ist doch ein bisschen wie die Jahreszeiten, auch er durchläuft seine Zyklen. Bei Frauen nicht nur den Monatszyklus, sondern bei allen Menschen Zyklen von Gesund- und Krankheit.
Der 2. Januar kam, mit zwölf Grad und Regen in Hamburg. Wir beluden Auto und Transporter mit Kisten und Koffern. Der für Finnland notwendige Coronatest fiel negativ aus, und pünktlich um 23 Uhr ging es auf die Fähre. Großräumige Kabine mit Meerblick, dreißig Stunden entspannen, durchatmen, genießen. Am nächsten Tag saß ich am Kabinenfenster, schaute hinaus auf die graue Ostsee. Doch statt mit Trübsinn erfüllte mich das Bild mit Freude, ich wollte die Zeit nicht vorspulen. Mit dem Blick zoomte ich die schüchternen Wellen heran, von denen sich viele zögerlich brachen, um sogleich weiterzurollen. Ewig im Fluss mit der Richtung des Windes. Jetzt grau, mit dem nächsten Sonnenstrahl blau. Das Meer spiegelte den Himmel urteilslos wider. War unter der aufgekräuselten Oberfläche tief und ruhig, ein bisschen wie ich.
Helsinki begrüßte uns in den frühen Morgenstunden mit Minusgraden und Eisschollen, die auf der Ostsee trieben. Auf der Autofahrt nach Oulu brach herein, was wir befürchtet hatten: Schneestürme. Die Flocken wuselten so dicht, dass man den Vordermann nur noch dank Nebelleuchte erriet, und teils puderten vorbeirasende Lastwagen die Windschutzscheibe so dick ein, dass ich sekundenlang blind und betend weiterfuhr. Vor Kurzem hatte ich gelesen, dass man beim Singen nicht gleichzeitig Angst verspüren kann, also drehte ich meine Lieblingsmucke auf und sang. In meiner Fantasie wurde der aufgewirbelte Puderschnee zu Dampf auf einer Bühne, der einen Star und die ersten Bässe eines kraftvollen Liedes ankündigt. Ja, gegen die Angst wurde ich zum Star auf meiner eigenen Bühne und sang mir Mut an.
Endlich, ein Straßenschild hinter der Schneetapete: Oulu. Elf Stunden für 600 Kilometer. Doch der nächste Tag gab sich Mühe, die Strapazen wettzumachen: Auch der Coronatest in Oulu fiel negativ aus, und als ich das blaue Sverige-Schild am Straßenrand erspähte, schloss ich einen Moment dankbar die Augen und fuhr fast den Grenzbeamten über den Haufen, der Coronanachweise überprüfte. Um zwölf Uhr hatte ich einen Termin bei der Autowerkstatt in Kalix, die meine wacker durchhaltenden Allwetterreifen gegen die in Deutschland verbotenen Reifen mit Spikes auswechseln sollte. Um 12:03 Uhr brauste ich in die Einfahrt, das Tor wurde für mich hochgerissen, und ich fuhr mit durchgetretenem Gaspedal auf die Werkfläche. Jetzt konnte wirklich nichts mehr schiefgehen.
Frisch bereift ging es von der Schnellstraße auf sechs Kilometern runter zur Küste bis Båtskärsnäs, durch noch winzigere Dörfer, vor allem aber durch eingezuckerten Wald. Eine unerwartete Empfindung überkam mich: Diese Kilometer fühlten sich an wie eine lang herbeigesehnte Heimkehr. Wie oft hatte ich bei Meditationsversuchen ein rotes Schwedenhaus inmitten von weißer Weite visualisiert, als Ort der Geborgenheit. „Nach 200 Metern haben Sie das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite“, verkündete das Navi, und ich jauchzte.
Das junge Hausbesitzerpaar begrüßte mich herzlich, innerhalb kürzester Zeit war ich mit allem, was es zu Haus und Dorf zu wissen gab, vertraut. Diego kochte, ich packte aus. Da klopfte es an der Tür. Maria, die 59-jährige Mutter des Hausbesitzers, wollte mir Badezimmerteppiche und Handtücher bringen. „Ich wohne schräg gegenüber, in dem gelben Haus. Wenn was ist, komm vorbei.“ Kaum war die Tür hinter Maria ins Schloss gefallen, da war auch schon was: kein Wasser mehr da. Was hatte ich bloß falsch gemacht? Ich rief verschämt Maria an, sie kam mitsamt Partner Peter zurück. „Oje, das ist sicher ein Rohrbruch, das passiert schon mal, wenn es so kalt ist. Die Wasserrohre hier im Dorf sind alt und halb verrottet.“ Ich war müde, die Erschöpfung von der Reise steckte mir in den Knochen, das Adrenalin ebbte ab.
Maria zückte ihr Handy und rief jemanden an, der jemanden kannte, der bei der Gemeinde von Kalix arbeitete. Ich verstand viel jävla (verdammt) und helvete (Teufel) und begriff auch ohne perfekte Schwedischkenntnisse, dass das nichts Gutes bedeutete. Maria sah mich entschuldigend an. „Tja, Wasserrohrbruch, aber sie sind schon dran.“ Wie lange sollte das denn dauern? Wenn in Hamburg das Wasser einige Stunden abgestellt wurde, war das richtig lang, und dann bekam man meist fünf Tage vorher Bescheid, um Eimer und Töpfe mit Wasser abzufüllen. Aber jetzt? Ich hatte keinen Tropfen Wasser im Haus. Maria winkte ab. „Ich bringe dir einen Kanister.“ Was sie auch tat. Zehn Liter waren gesichert. Vorsichtshalber fuhr Diego aber noch mal die zwanzig Kilometer nach Kalix, um einen Katastrophenvorrat an Wasserflaschen zu kaufen. Ich versuchte, positiv zu denken und das Leben im Rhythmus der Natur gleich auszuprobieren. Griff zur Schaufel vor dem Haus und füllte drei Eimer mit Schnee, die ich unter der Heizung platzierte. War ich clever, da konnte ich zumindest die Toilette spülen und nach dem Abendessen eine fixe Schneedusche nehmen! In der Zwischenzeit stellten wir das Bier im Schnee kalt. Drei Stunden später schaute ich nach. Der Schnee war immer noch Schnee. Wie jetzt?
Immer wieder drehte ich am Wasserhahn. Nichts. Meine Geduld bröckelte. Mit den Wasserreparaturheinis und mit dem Schnee und überhaupt. Also ungeduscht schlafen. Am Morgen war bestimmt wieder alles gut.
War es nicht. Maria schrieb, auf dem Marktplatz stehe ein Vattenbil, wo man sich Wasser holen könne. Ein Wasserauto? Was sollte das sein? Ich ging hin. Dort stand ein Laster, beschriftet mit Vatten, Wasser, wo die Leute mit Eimern und Kanistern in der Schlange warteten. Trotzdem war am Abend meines zweiten Tages in Baskeri die erste Nervenkrise da. Diego war auf dem Weg zurück nach Helsinki, gestresst, ungeduscht, ich war müde, einsam, stank, und mir war kalt. Am liebsten hätte ich das Auto genommen und wäre nach Hause gefahren. Aber das kündigte mit rotem Warnzeichen einen Motorfehler an, irgendwas mit dem Kühlungsmittel. Ob ich den Karren trotz Überhitzungsgefahr in eine Werkstatt in Kalix kriegte? Ich heulte ins Kopfkissen. Was hatte ich mir da bloß eingebrockt? Ich fühlte mich wie eine Nichtschwimmerin, die ins tiefe Ende des Pools gesprungen ist und erwartet, plötzlich schwimmen zu können. Leben im Rhythmus der Natur? Ich hatte keine Ahnung davon, kam nicht mal 36 Stunden ohne Wasser klar, Schnee schmolz auch vor der Heizung nicht, und das Auto fand das alles genauso scheiße wie ich.
Dann die Überraschung am übernächsten Morgen: Wasser! Und das Auto schaffte es zur Werkstatt – wo mir der Besitzer trotz Brückentag öffnete und einen Blick unter die Motorhaube warf. Dort entdeckten wir eine irre schöne Eisskulptur, die der freundliche Kerl (oder Karl, wie man Männer in Schweden nennt) fünfzehn Minuten lang mit heißem Wasser zum Schmelzen brachte. Um dem zeternden Wagen daraufhin ein neues Kühlungsmittel zu verpassen, sodass auch der nun lapplandtauglich war.
Ich freute mich wie eine Schwedin, die gleichzeitig Nordlichter und einen Albino-Elch sieht – bis mir Maria am Nachmittag eine SMS der Gemeinde Kalix weiterleitete: „Aufgrund eines Wasserrohrbruchs in Båtskärsnäs sind wir gezwungen, allen Haushalten das Wasser abzustellen …“ Nein! Ich wuchtete meinen halb leeren Kanister unter den Wasserhahn. Zu spät. Ich war erst seit zwei Tagen im Norden, doch mein Respekt vor der Macht der Natur, vor der Kälte und dem Eis, war immens. Meine Schneesammlung hatte sich nach drei Tagen zwar zu jeweils einem Viertel Eimer Wasser verflüssigt, aber der Schnee konnte mich mal. Lernen wollte ich noch nichts. Erst recht nicht darüber, dass die Natur ihr eigenes Ding dreht und dass Schnee, wenn er noch nicht bereit ist zu schmelzen, halt nicht schmilzt. Es sei denn, man kocht ihn im Topf ab, wie ich später erfahren würde. In meinen ersten Tagen in Lappland kapierte ich weder das Konzept von Langsamkeit noch, dass alles die Zeit braucht, die es eben braucht. Ich steckte im Actionmodus der Stadt, schaffte es noch nicht, mich dem Rhythmus der Natur unterzuordnen. Meine Antennen suchten weiter nach den Signalen „Funktionieren“ und „Abereinbisschenplötzlich“.
Doch als ich am Abend dieses 8. Januar auf dem Eis liege und jede Millisekunde der grünen Tanzshow mit dem Blick aufsauge, da passiert etwas. Da denke ich nicht mehr an den wasserlosen Start und Frust, weil mir keine puderschneesanfte Ankunft bereitet wurde. Und selbst wenn ich in dem Augenblick wüsste, dass mir Maria bald die nächste SMS der Gemeinde Kalix weiterleiten wird mit der Ankündigung, das Wasser müsse ein drittes Mal abgestellt werden, würde das bei mir plötzlich nicht mehr als ein Schulterzucken hervorrufen. Das Wasser in Båtskärsnäs ist wie das Licht im Winter. Äußerst rar, also muss man es in vollen Zügen genießen, wenn es da ist. Ich bin angekommen. Ab dem Moment, als mir der Himmel sein grünes Välkommen tanzt. Und was kann ich froh sein, dass ich gleich so eine schöne Geschichte zum Erzählen habe, denn wie langweilig wäre es, wenn immer alles glattliefe?

Wenn die Sonne gegen halb zehn aufgeht und sich die Blaumeisen schon an den Vogelhäusern der Vorgärten satt futtern, gehe ich raus. Stets zieht es mich die knapp 300 Meter runter zum Meer – zum Bottnischen Meerbusen, wie sich das nördliche Ende der Ostsee nennt –, der aufgehenden Sonne entgegen. „Du bist wie Ikarus“, scherzt mein über siebzigjähriger Nachbar Gunnar, dessen täglicher Sonnengruß im Schneeschaufeln besteht. „Dich zieht es immer zum Licht.“
Stunden bevor die strahlende Rundung über den Horizont lugt, kündigt der arktische Himmel das Spektakel mit Farbfanfaren an. Jeden Tag aufs Neue eine Prophezeiung, die keine Trompeten und Posaunen braucht, nur Nuancen, die in ihrer harmonischen Ouvertüre eindeutig verraten, was da kommt. Tiefes Blau wird zu Babyrosa wird zu Orange und manchmal Rot, bis der Himmel das Ganze am frühen Nachmittag zurückspult. Wie ein Lebenszyklus mit seinem Beginn in Babyschritten, den knallorangen Jugendjahren, der grellen Sonne am Mittagshimmel als Mittelpunkt der Existenz bis zum sachten Zurückfahren des Lichts und einem ruhigen Abgang, der nichts vermissen lässt. Ein ganzes Leben in gut drei Stunden.
Viele Leute haben mich vor meiner Abreise nach Lappland gefragt, ob ich nicht Angst hätte vor der Dunkelheit. Ehrlich gesagt dachte ich gar nicht darüber nach, zumal die Ostseeküste im Winter etwa drei Stunden Licht abbekommt und keine vollkommene Dunkelheit wie nördlich des Polarkreises. Nach wenigen Tagen in meinem neuen Zuhause habe ich eine Antwort auf diese Frage: Nein, die Dunkelheit macht mir keine Angst, ich vermisse auch nicht mehr Licht. Denn wichtig ist nicht die Anzahl an täglichen Sonnenstunden, sondern die Intensität des Lichts, wenn es da ist. Was bringen mir sieben Stunden meist grauer Tageshimmel in Hamburg, wenn ich dafür drei Stunden praller Arktissonne mit filmreifem Auf- und Abtritt genießen kann? Klar, wir sind auf Wollen gepolt, und Wollen bedeutet oft mehr, nicht weniger. Aber ich will nicht mehr Licht, sondern die Höchstqualität des wenigen, das mir die Arktis schenkt.
Fast geht es mir sogar zu schnell mit dem Längerwerden der Tage. Bin ich von Deutschland gewohnt, dass das Licht ab Januar eher schleppend mehr wird, so ist die Rückkehr der Sonne das wohl Einzige in Lappland, das mit Schmackes passiert. Als wollte sich das Leben ins Rampenlicht zurückdrängen. Wirkte die Sonne am 5. Januar noch wie ein schüchternes Tier, das erst nach halb zehn am Morgen hervorlugte und sich um dreizehn Uhr schon wieder versteckte, so zeigt sie sich nur zwei Wochen später bereits gegen neun, um mutig bis vierzehn Uhr zu bleiben. Selbst an grauen Tagen quetscht sich meist ein Stück aufgehender Feuerball durch einen Streifen am Horizont und verwandelt den Wolkenhimmel in ein Flammenmeer. Vielleicht trainiert die Sonne für die Mittsommernächte, wenn ihr die Puste nicht ausgehen darf. Tag für Tag freue ich mich auf die ersten und letzten Minuten des Lichts – und für meine ungeduldige Natur ist es wunderbar, dass dazwischen nicht viel Zeit liegt.

Wenn die zwischenzeitlich gestiegenen Temperaturen von minus zehn auf minus zwanzig Grad sinken, spürt man das als Erstes in der Nase. Es kitzelt in den Nasenlöchern, und den Schal bedeckt eine sanfte Eisschicht. Wobei die Samen den Begriff kalt überhaupt erst ab etwa minus zwanzig Grad benutzen: galmmas. Wie eine Eissüchtige zieht es mich täglich hinaus auf die zugefrorene Ostsee. Noch immer will ich kaum glauben, dass die Eisschicht so dick ist, dass ich zu allen Archipelinseln in Sichtweite laufen kann. Und dass sogar die von den Einheimischen heiß geliebten Schneemobile übers gefrorene Meer flitzen. Zunächst faszinieren sie mich, bin ich sogar neidisch, wenn jemand per Schneescooter seinen Hund auf dem Eis Gassi führt oder mit Anhänger zu den Inselsommerhäuschen düst. Doch bald nerven sie mich. Meine Ohren machen ein Schneemobil schon aus weiter Ferne aus. Und der Gestank! Ist die Luft normalerweise rein, so wabert der Auspuffmief minutenlang über dem Boden. Ein wenig schäme ich mich, ein Mensch zu sein und in diese Natur vorzudringen, selbst wenn ich es so weit möglich zu Fuß tue. Menschen stören in dieser Wildnis nur, denke ich. Störe ich auch? Oder nehme ich mich, uns Menschen, zu sehr als getrennt von der Natur wahr? Stelle ich die Städte mit ihrem Komfort und aller Rennerei ans eine und die Natur ans andere Ufer eines reißenden Flusses ohne Brücken? Ich sehne mich danach, mich mehr als Teil von ihr zu empfinden, sie mit frisch bebrillten Augen, offenen Ohren und einer fein gestimmten Nase zu entdecken. So beginnt bereits in meinen ersten Wochen in Lappland ein Umpolen meiner Sinne. Jeder Tag weit weg von einer Metropole, von Menschenmassen, Beton und Dauerbeschallung lässt mich deutlicher spüren, dass auch ich einen Platz in der Natur habe und verdiene. Und dass ich diesen Platz mit solcher Fürsorge behandeln möchte wie mein Haus, auch wenn ich dort manchmal etwas ungewollt kaputt mache.
Wenn das Knattern der Schneemobile verklungen ist, knirscht nur noch der Schnee unter meinen Sohlen. Oder nein, er klingt anders, wenn er Meereis und nicht festen Boden bedeckt. Auf dem Eis schmatzt er! Wenn mir selbst dieses Schmatzen zu laut wird, bleibe ich stehen. Lausche den Geschichten der Stille, die mir mehr geben als meine eigenen, die ich mir schon Hunderte von Malen erzählt habe. Für die Einheimischen sind die Worte der Stille olle Kamellen. Sie sind sich ihrer genauso wenig bewusst wie ein Stadtmensch des Hintergrundchors aus Motorengeräuschen, Sirenen und Stimmen. Oft ernte ich ein erstauntes „Jaha?“, wenn ich Maria, Peter und anderen Dörflern von der Stille vorschwärme. Für mich ist sie dagegen eine Meisterverführerin, sie macht mir das Präsentsein schmackhaft, und verliere ich mich im Gequatsche in meinem Kopf, holt sie mich zurück.
Meist bin ich allein mit meinem wie Rauch aufsteigenden Atem. Viele Leute haben mich gefragt, ob ich mich in Lappland nicht einsam fühlen würde. Ich überlege. Sehe weiße Weite vor mir. Nein. Ich fühle mich umarmt, adoptiert von dieser Natur, die mir erstmals seit Langem das Gefühl vermittelt, ich selbst sein zu dürfen. Was habe ich mich oft in Gruppen oder bei Gesprächen einsam gefühlt, wo ich schauspielern musste – bloß nicht das Falsche sagen oder tun, bloß wie erwartet aussehen. Aber niemals bei Solomomenten in der Natur, nicht einmal auf der zugefrorenen Ostsee, wo alles um mich herum auf ewig erstarrt wirkt. Denn einige Zentimeter tiefer gibt es lebendiges Wasser, nur oberflächlich ist es ruhig. Manchmal, wenn ich ganz still auf dem Eis stehe, vernehme ich gar ein Glucksen. „Das Schnarchen des Meeres“, nenne ich es und stelle mir vor, wie das Meer döst und Kraft für Frühling und Sommer sammelt. Für die Zeit, wenn Wellen die Strände lecken, Boote über die Wasseroberfläche brausen und sich Menschen in das Abkühlung versprechende Nass stürzen.
Mit fast jedem Schritt auf dem gefrorenen Wasser lege ich eine Sorge mehr auf Eis. Das Gedankenkarussell friert ein. Ich spare Energie für jeden Atemzug, für meine Nasenlöcher, die mit dem Aufwärmen nicht nachkommen. Auf einer Mini-Insel mit zwei Häusern sinke ich bis zur Hüfte im Schnee ein. Bleibe stehen, zu Regungslosigkeit verdammt. Oder mit der Erlaubnis innezuhalten. Ich staune. Über Äste, die sich unter der Schneelast bis zum Boden biegen, aber nicht brechen. Es gibt doch ein Sprichwort, dass man sich manchmal biegen muss, um nicht zu brechen!
Den Umgang mit den Lasten des Winters lehren jedoch nicht nur die Bäume, sondern auch manche Tiere. Wenige Tage später lerne ich auf der Arctic Moose Farm bei Överkalix vom König des Waldes persönlich. Bevor mir Farmbesitzer Ola, gebürtiger Same, seine gut ein Dutzend Elche vorstellt, deutet er auf imposante Geweihe, die auf Tischen neben dem Gehege verteilt liegen. Ob er die Tiere alle geschossen habe, frage ich, und der Mann in den Siebzigern kräuselt die Stirn. „Weißt du nicht, dass ein Elch jedes Jahr sein Geweih abwirft und es wieder nachwächst?“ Ich schüttle den Kopf, und er erklärt: „Nach der Brunftzeit im Herbst brauchen die Elchbullen ihr Geweih nicht mehr, sie müssen ja nicht mehr schön sein.“ Doch das ist längst nicht alles: Sei ein ausgewachsener Elch über 600 Kilogramm schwer, wiege das Geweih zusätzliche dreißig Kilogramm. „Im Winter müssen die Tiere in der freien Wildbahn Energie sparen, um zu überleben, und da ist ein Geweih unnötiger Ballast. Deswegen wird es meist im Januar abgeworfen, mal früher oder später, und wächst ab dem Frühjahr nach.“
Was für ein praktischer natürlicher Prozess! Ohne Bedenken, ob das Geweih nicht doch zu schick und schade ist, um es wegzuwerfen. Meine Gedanken schweifen ab, ich überlege, wie viele Kilo Ballast ich mit mir herumschleppe. Erst recht in schweren Zeiten, denn dann sprießt im Kopf das üppigste Geweih, ein Gebein aus schlimmen Erinnerungen, Sorgen und Existenzängsten. Ich habe schon die Bäume beneidet, aber so ein Elch ist noch cleverer!
Ola erzählt weiter, dass sich die Basthaut am Elchgeweih ab September oder Oktober verhärte und ablöse, womit die Tiere an Bäumen und Büschen rieben, um ihren Duft zu verteilen. Und das ist nicht alles: Elchkühe fänden nicht nur den Duft von alter Haut sexy, sondern auch den Uringeruch der Bullen! Denn die graben im Herbst Gruben, pieseln hinein und verteilen den Urin dann über ihr Geweih – was bei Elchkühen den Eisprung auslösen soll.
Der größte Elchbulle der Farm, der zehnjährige Oskar, hat sein Geweih bereits verloren, seine Kumpels halten noch daran fest. „Kannst du dir vorstellen, dass ein Elchbaby gegen Mittsommer mit fünf Kilo auf die Welt kommt, nach fünf Monaten aber schon hundert Kilo wiegt?“, fragt Ola, während er die sich um ihn scharenden Tiere füttert, die sich anrempeln und anröhren. Manche sind so zahm, dass sie sich von Ola und selbst von Besuchern knutschen lassen – aber nicht an diesem Tag. „Muss wohl meine Zähne noch putzen“, grunzt der alte Mann, als ihm eine Elchkuh statt ihrer Schnauze den Allerwertesten zuwendet. „Apropos – an einem Elchzahn kann man ablesen, wie alt das Tier ist. Das ist wie mit Baumringen.“
Auf der Rückfahrt beschäftigt mich eine Ausgangsfrage meines Lapplandprojekts: Was passiert zu jeder der acht Jahreszeiten in der Natur? Mir dämmert, dass diese Frage vom Stadtmenschen in mir stammt. Immer soll, muss irgendwas passieren. Wäre es in der nördlichen Weite nicht sinnvoller zu fragen: „Was lehrt mich die Natur zu jeder Jahreszeit?“ Im Winter darf alles zur Ruhe kommen, Vierbeiner, die ihn nicht verschlafen, werden wie die Elche in den Energiesparmodus gezwungen. Pflanzen und Tiere geben ihr Bestes, um keine Reserven zu vergeuden, und was diesem Ziel zuwiderläuft, kommt weg. Nicht wochen-, sondern monatelang. Damit sich dann, wenn der Winter spät wird und der Frühling reift, alle gesparte Kraft in Erwachen und Streben nach Neuem entlädt. Nicht als Sabbatical nach oder vor der großen Lebenskrise. Jahr für Jahr. Ruhe und Neuanfang als Lebenszyklus, der Überleben sichert. Was würde im Januar mit einem Baum passieren, wenn man ihn zwangsenteisen und zum Blühen zwingen würde? Was mit einem Elch mit üppigem Geweih? Ich vermute, beide würden sterben. Weil sie im Gegensatz zu uns Menschen gar nicht erst versuchen, gegen ihre Natur zu leben.
Wenn ich das zu Eis gewordene Meer und die vereisten Flüsse betrachte, wenn Äste unter der Last gebogen stillhalten, wenn Früchte, die die Kunst des Loslassens nicht rechtzeitig erlernt haben, an den Bäumen erstarrt sind, dann spüre ich: Da passiert nichts! Da muss auch nichts passieren. Da ist einfach Stille und Frieden, nur die Schneekristalle funkeln in den Sonnenstrahlen. Ein Seindürfen, so, wie es gerade ist. Die Samen nennen den Winter „die Zeit der Pflege“. Wann habe ich, wann haben wir das verlernt? Warum gönnen wir uns nicht regelmäßig unsere „Zeit der Pflege“ und warten stattdessen darauf, dass uns Krisen dazu zwingen? Weil der Takt von Fortschritt und Haben den Rhythmus unserer eigenen Jahreszeiten so lange übertönt hat, dass wir ihn nicht mehr wahrnehmen? Miete, Strom, Benzin und der Steuerberater wollen schließlich bezahlt werden! Was haben es die Bäume gut, die einfach rumstehen dürfen!

Bernadette Olderdissen

Über Bernadette Olderdissen

Biografie

Bernadette Olderdissen, geboren 1981, ist eine deutsche Reiseschriftstellerin und Journalistin. Ihre Artikel erscheinen unter anderem bei Spiegel online, taz, Swiss Globetrotter Magazin und Stuttgarter Zeitung, und ihre Geschichten waren Teil verschiedener Reiseanthologien wie „Deutschland im...

Veranstaltung
Vortrag
Donnerstag, 25. April 2024 in Wolgast
Zeit:
Uhr
Ort:
Buchhandlung Wolgast ,
Lange Str. 17/18
17438 Wolgast
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Vortrag
Sonntag, 15. September 2024 in Schleswig
Zeit:
17:30 Uhr
Ort:
Stadtpark Königswiesen - Kulturzelt,
24837 Schleswig

NORDEN - das Kulturfestival in Schleswig auf den Königswiesen (norden-festival.com)

Im Kalender speichern
Medien zu „Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht“
Pressestimmen
Backnanger Kreiszeitung

„Ein wunderbares Buch über gelebte Träume. Lehrreich, aber nie belehrend, nachdenklich, aber auch selbstironisch und vor allem prall voll von Leben.“

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