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Wolfspirit

Wolfspirit

Gudrun Pflüger
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Meine Geschichte von Wölfen und Wundern

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Wolfspirit — Inhalt

Die packende Überlebensgeschichte einer beeindruckenden Frau

Ihr Zusammentreffen mit einem wilden Wolfsrudel ist eine Sensation. Nach Monaten der Spurensuche in der kanadischen Wildnis umringen Gudrun Pflüger während einer Filmaufnahme plötzlich mehrere Küstenwölfe – und nehmen sie in ihrer Mitte auf. Eine Begegnung, aus der die Wildbiologin fortan Lebensmut und Vertrauen schöpft und die ihr schon bald darauf im Kampf gegen einen aggressiven Hirntumor zur überlebenswichtigen Stütze wird. Tief beeindruckt von der Zielstrebigkeit der Tiere, kann sie ihre Erkrankung besiegen. Eine berührende Lebensgeschichte, die mehr ist als ein Abenteuerbericht und von der heilsamen Verbundenheit mit der Natur erzählt.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 10.03.2014
256 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40524-9
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Leseprobe zu „Wolfspirit“

Vorwort


An was denken Sie, wenn Sie Wolf hören? An Rotkäppchen und dunkle Wälder? An scharfe Zähne und Gefahr? An unmoderne Kreaturen, für die in unserer heutigen Gesellschaft und Landschaft kein Platz mehr ist?
Oder an eine sanfte Berührung, die Ihr Leben retten kann?
Dies ist meine Geschichte. Es gibt so viele Geschichten, wie es Menschen gibt. Viele schweigen, einige erzählen sie weiter, und Einzelne schreiben sie auf. Am Anfang dachte ich, das sei einfach. Ein Jahr nach dem anderen zu beschreiben, schön linear. Doch das Leben ist nicht geradlinig und [...]

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Vorwort


An was denken Sie, wenn Sie Wolf hören? An Rotkäppchen und dunkle Wälder? An scharfe Zähne und Gefahr? An unmoderne Kreaturen, für die in unserer heutigen Gesellschaft und Landschaft kein Platz mehr ist?
Oder an eine sanfte Berührung, die Ihr Leben retten kann?
Dies ist meine Geschichte. Es gibt so viele Geschichten, wie es Menschen gibt. Viele schweigen, einige erzählen sie weiter, und Einzelne schreiben sie auf. Am Anfang dachte ich, das sei einfach. Ein Jahr nach dem anderen zu beschreiben, schön linear. Doch das Leben ist nicht geradlinig und die verschiedenen Erfahrungen haben so unterschiedliche Bedeutungen und Beziehungen zueinander, dass mir eine strikt chronologische Reihenfolge nicht passend erschien. Gewählt habe ich eine Struktur, die dem komplexen Lebensgeflecht angemessener ist und dem Faktor Zeit nicht mehr Bedeutung gibt, als er in meinem Leben tatsächlich hat. Ich besitze nicht mal eine Uhr, und in der Wildnis Kanadas und während meiner Krankheit hat Zeit überhaupt keine Rolle mehr gespielt, nur noch das Sein oder Nicht-mehr-Sein.
Meine Motivation, dieses Buch zu schreiben, ist meine tiefe Verbundenheit mit allem Natürlichen und Einfachen. Wölfe gehören dazu. Sie sind einfach Tiere. Doch sobald wir anfangen, sie als Projektionsflächen für unsere eigenen Ängste und Schwächen zu nutzen, werden sie zu Problemtieren, die es zu verscheuchen oder sogar auszurotten gilt.
Meine Erfahrungen mit Wölfen sind ganz andere. Dank ihnen habe ich meine Liebe zum Leben gespürt, meinen Willen zum Überleben gestärkt und meinen Respekt gegenüber allem Lebendigen genährt.
Ohne meine intensiven Erlebnisse in der Wildnis, die mich oft an meine Grenzen gebracht haben, hätte ich nicht gewusst, wie weit meine eigenen Kräfte reichen und woher sie eigentlich kommen. In der ungezähmten Natur habe ich gelernt, das Unkontrollierbare zu respektieren, anzunehmen und schließlich als überlebenswichtigen Teil meines eigenen Lebens zu erkennen.
Während ich mit meiner Krankheit gerungen habe, prägte ich den Begriff des Wolfspirit, der alle kraftvollen Eigenschaften der Wölfe vereint – ihre Zielstrebigkeit, Ausdauer, Leidensfähigkeit, ihren Teamgeist, ihre Freude und ihren Lebenswillen. Ich habe sie erfolgreich für meine eigene Heilung einsetzen können.
Wir müssen dringend alles daran setzen, unsere noch natürlichen Lebensräume zu erhalten, nicht nur aus Gründen der Biodiversität – auch für unser eigenes Seelenheil. All unsere Lebenskraft hat ihren Ursprung in der freien Natur. Diese Botschaft ist für mich untrennbar mit den wilden, frei lebenden Wölfen Kanadas verbunden.


Herbst 1997 Stadt Salzburg. Mozart zum Quadrat. Es ist wieder mal so ein Salzburger Regentag. Salzburg-Kenner wissen, wovon ich rede. Zwischen zwei Vorlesungen schau ich im nahe gelegenen Einkaufszentrum vorbei, hier gibt es guten Topfenstrudl. Ich habe noch etwas Zeit und lasse mich daher an einem Stand von ein paar Mitarbeitern der Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“ ansprechen. Normalerweise nicht meine Art, aber Dinge passieren eben mit Grund. Sie arbeiten mit Anfangsschockern, mit Bildern von brutal gehaltenen Tieren auf Pelztierfarmen oder in der Massentierhaltung, von gehäuteten Kadavern, eingesperrten vierbeinigen Zirkusartisten und qualvoll verendeten Wildtieren in Fallen. Bilder, die die Menschen emotional erreichen und zur Aktion bewegen sollen. Wie man zu solchen Angelmethoden steht, ist für mich zweitrangig. Wichtig ist, dass es solche Menschen gibt, die sich in die Sache des Größeren stellen. Größer als die Bedeutung des isolierten, kleinen, eigenen Lebens. Ich unterschreibe eine Mitgliedschaft.
In einem ihrer Magazine lese ich einen Bericht über ein Wolfsforschungs- und Informationsprojekt in den kanadischen Rocky Mountains. Ich beschließe, die Patenschaft für eine der dort besenderten Wölfinnen zu übernehmen. Als Dankeschön bekommen die Paten regelmäßige Updates „ihres“ Wolfs. Sie heißt Chinook und sie führt mich auf die Spur der wilden Wölfe.


Neue Dimensionen – Kootenay
Auf den Spuren der Wölfe

Winter 2000/2001 „Wo kommst du denn her?“ Weit und breit gibt es hier keine Siedlung, und trotzdem stapft da plötzlich ein kleiner Hund neben mir her und sieht mich mit dem typisch intensiven Blick eines Border-Collies an. Er legt seinen Kopf schief, und aus seinen dunklen Knopfaugen lese ich den Aufruf „Let’s Go!“. „Go home, Buddy – ich kann dich nicht mitnehmen, ich mache eine Längsquerung des Nationalparks und komm nicht mehr hierher zurück!“ Den Kleinen kümmert das allerdings wenig, und so hoppelt der junge Hund verspielt vor mir her. Mir fällt der Anhänger an seinem Halsband auf, er heißt Murphy, eigentlich Jesus Murphy, und ist unter einer darauf notierten Telefonnummer wieder loszuwerden. „Also gut, komm mit, ich weiß eh nicht, wo ich dich hier abgeben soll.“
Das einzige Anzeichen von menschlicher Existenz war gleich nach dem Ausstieg aus dem Auto eine offene Wiese mit einer verschneiten Lodge an ihrem anderen Ende. Kein Auto, keine Stimmen, keine Menschen. Mein Forscherkollege Danny hat mich in unserem „Burrito“, dem alten unzuverlässigen Ford des Kootenay-Nationalparks mit der Farbe der mexikanischen Tortillarolle, zur Südgrenze des Schutzgebiets gebracht; ich will auf meinen Langlaufschiern entlang der East Kootenay Fire Road den Nationalpark nach Norden queren und auf Höhe der ersten Brücke über den Kootenay River Richtung Westen abbiegen und damit auf den Highway stoßen, wo Danny mich am Ende des Tages abholen soll. So der Plan.
Der Kootenay-Nationalpark grenzt im Norden und Osten an den berühmteren Banff-Nationalpark und erweitert somit das Schutzgebiet in die Provinz British Columbia hinein. Er wird manchmal auch etwas abfällig „Highway-Nationalpark“ genannt. Denn seine Entstehung verdankt er nicht einem Schutzgedanken weitsichtiger Naturliebhaber, sondern der Tatsache, dass während des Baus der ersten Ost-West-Straßenverbindung über die Rockies der Provinz British Columbia das Geld ausgegangen ist und sie sich an die Regierung in Ottawa für eine Finanzspritze wenden musste. Die Regierung sprang ein unter der Bedingung, dass British Columbia dafür das Gebiet drei Kilometer rechts und links entlang der neuen Straße der „Krone“ in Ottawa abtreten und einen Nationalpark schaffen muss. Gesagt, getan.
Heute schneidet der Highway 93 den Kootenay-Nationalpark der Länge nach in der Mitte durch. Er ist die kürzeste Verbindung zwischen den kalten Prärien mit der boomenden Großstadt Calgary und dem klimatisch lieblichen Columbia Valley mit dem großen Lake Windermere. Viele Einwohner Calgarys rasen übers Wochenende schnell mal zu ihren Zweitwohnsitzen am See oder den Schigebieten von Panorama. Und wenige bleiben unterwegs stehen. Auch die meisten Touristen beschränken ihren Besuch auf Banff und Jasper und so bleibt der Kootenay-Park selbst – abgesehen vom furchtbaren Highway – relativ ruhig. Die Straße ist geradlinig und hat keine Einzäunung. Der Blutzoll unter den Wildtieren ist extrem hoch. Auf halbem Weg liegt die Kootenay Crossing, wo ein Parkranger lebt, Park-Straßentrupps und im Sommer auch die Feuerwehr stationiert sind und ein kleines „Bunkhouse“ steht, in dem gelegentlich Wissenschaftler, die im Park arbeiten, untergebracht sind. Das nächste Geschäft ist in Radium Hot Springs im Columbia Valley, siebzig Kilometer entfernt. Seit wenigen Wochen bewohne ich das Bunkhouse und seit Kurzem teile ich es mit Danny und seinem Brokkoli fressenden, alten Labrador Barkley.
Carolyn Callaghan, die Leiterin des „Central Rockies Wolf Projects“ mit Sitz in Canmore, zirka hundertzwanzig Kilometer entfernt, hat mich in den Kootenay-Nationalpark geschickt: „Gudrun, unsere Wölfin Willow ist verschwunden. Sie war das einzige Tier des Kootenay-Rudels mit einem Sender. Nun ist es schwierig geworden, den Rest der Wölfe zu orten. Ich erwarte, dass wir nun viele Kilometer nach ihr suchen müssen. Daher möchte ich dich in den Kootenay-Park versetzen. Du bist gut auf Schiern und es macht dir nichts aus, allein im Busch zu arbeiten.“ Das war der Anfang eines ereignisreichen Winters und meiner Lehrzeit als Feldforscherin.
Vierundzwanzig Kilometer, so sagt mir die Landkarte, ist mein heutiges Vorhaben lang. Ich rechne um: Dafür brauche ich zwei Stunden, mit abweichendem Spurensuchen und Pausen, um bestimmte Markierungen ins GPS-System einzuspeichern, vielleicht drei? Meiner Erfahrung nach laufe ich fünfzehn Kilometer pro Stunde, großzügig bemessen. Oder soll ich sagen „europäisch bemessen“, auf gut gepflegten Langlaufloipen? Hier sinke ich bei jedem Schritt in den Schnee, von Gleiten keine Spur. Auch die Funktion des Feuerwehr-Zugangwegs, nämlich, dass sie der Feuerwehr schnellen Zugang zu Waldbränden am linken Ufer des Flusses garantieren soll, stelle ich bereits nach einem Kilometer infrage: Da liegt ein Baum neben dem nächsten und entweder robbe ich auf allen vieren unter ihnen durch oder steige drüber. Die dichten Äste machen alles noch schwieriger. Bald schwitze und fluche ich, vor allem nach jedem Blick auf das GPS-Gerät, das mir anzeigt, dass ich nach einer weiteren Stunde wieder nur 1,4 Kilometer vorangekommen bin. Jede neue Zeithochrechnung verschiebt meine Ankunftszeit empfindlich nach hinten, und ich werde etwas nervös: Ich habe keine andere Wahl, als weiterzustapfen, ich muss es bis zur Brücke schaffen, und zwar heute noch.
Murphy scheinen meine Sorgen nicht im Geringsten zu stören. Fröhlich springt er vor mir her. Plötzlich aber bleibt er wie erstarrt stehen und fixiert die dichten Büsche zwei Meter vor uns: Sein Gebell wird aggressiv, was mich verunsichert: „Was regt dich da so auf, Murph? Komm – let’s go –, wir müssen weiter, unser Weg ist noch verdammt lang.“ Der kleine Hund aber bleibt wie angewurzelt stehen. Ich beginne mit meinen Stöcken durch die Luft zu fuchteln und laut und bestimmt diesen Geist hinter den Ästen zu vertreiben. Nach ein paar Minuten beruhigt sich Murphy, und ich kann ihn zum Weitergehen bewegen. Kaum zehn Meter hinter der Wegbiegung kreuzen superfrische Cougarspuren unseren Weg. Ein Puma also. Ich drehe mich zu Murphy um und stoße einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus: „Jesus – Murphy. Jetzt hast du mir aber gscheit geholfen.“ Im dicht verschneiten Wald hätte ich das Tier nie wahrgenommen. Wie alle Katzen schleicht sich auch der Puma an seine Beute heran, meist von hinten und auf ganz leisen Pfoten – trotz seines Gewichts von bis zu hundert Kilogramm. Er ist ein Meister der Heimlichkeit. Und er ist mir unheimlich.
Zwei Wochen später kommt es zu einem ganz tragischen Vorfall auf einer frequentierten Loipe in der Nähe von Banff. Eine junge Frau geht alleine Langlaufen und kommt nicht mehr zurück. Man findet Blut- und Ziehspuren und die getötete Langläuferin im Busch ein paar Meter von der Loipe entfernt. Und Pumaspuren. Später finden die Parkranger den vermeintlichen Täter, er ist abgemagert und krank und zeigte daher offensichtlich abartiges Verhalten. Trotzdem ist es für uns alle ein Schock.
Gott sei Dank weiß ich auf meiner Tour mit Murphy noch nichts von diesem Ereignis, und ich habe andere Sorgen, denn das Licht verlässt uns langsam und ich kann noch immer keine Funkverbindung mit irgendjemanden aufbauen. Auch Murphy zeigt erste Erschöpfungserscheinungen. Aber wir sind auf uns allein gestellt, und jeder Schritt, den ich jetzt nicht mache, wird mir am Ende fehlen. Ich erlebe zum ersten Mal – und es folgen noch viele Male –, dass die Zeit nur noch eine Dimension hat, dass nicht mehr Vergangenheit und Zukunft, ja nicht mal mehr Gegenwart, sondern nur noch das „Sein“ all meine Zeit bestimmt.
Solche Extremsituationen in der Einsamkeit verschieben meine Grenzen. Jedes Mal finde ich durch die Erinnerung an vergangene haarige Momente wieder neue Kraft, es auch dieses Mal zu schaffen. Einmal breche ich durchs Eis des Kootenay River, und sofort erfasst die starke Strömung des Gebirgsflusses meinen gesamten Körper. Ich bin total eingesunken, das Eiswasser lähmt mich, aber meine Gedanken sind glasklar: Schnell raus, irgendwie! Ich klammere mich mit beiden Oberarmen an die Eiskanten, kann der Kraft des Wassers kaum standhalten, weiß aber, dass es, wenn ich den Halt verliere, mich unter die Eisdecke spült und dass dies das sichere Ende wäre. Die Eisränder halten, vorsichtig und doch schnell stemme ich mich daran hoch und hoffe und bete. Zuerst schiebe ich meine Brust langsam nach vorne. Das Eis hält. Flach liegend robbe ich mit weit weggespreizten Armen und Beinen ans rettende Ufer.
Mein Schutzengel bleibt weiter bei mir. Denn mein Auto könnte ja Stunden entfernt geparkt sein. Aber es ist in Sichtweite. Als ich es erreiche, ist meine gesamte Kleidung steif gefroren. Und mein Engel lässt mich weiterhin nicht im Stich. Denn bis zu meiner Unterkunft brauche ich nur fünf Minuten mit dem Auto. Dann erst flattert er davon und überlässt mich der heißen Badewanne.
Ich gewöhne mir bald ab, solche Abkürzungen zu nehmen. Weil es immer einen sehr guten Grund für die Normalroute gibt, für den Weg, den die Hausherren und -damen mit ihren Wildpfaden vorgeben. Sie kennen die Abgründe und steilen Felsbänder, die Sümpfe und die richtig undurchdringlichen Abschnitte. Nichts in der Natur ist „einfach so“ – alles hat seinen Sinn und Ursprung. Mit der Zeit lerne ich diese Zusammenhänge auch wieder zu sehen und zu verstehen. Und ein neuer innerer Pfad entsteht.
Irgendwann – und es ist wirklich egal, wann – sehe ich vor mir die Umrisse der ersehnten Brücke auftauchen, kann Danny anfunken, aber er ist ohnehin schon auf der Suche nach mir. Zusammen mit Murph sinke ich ziemlich erschöpft in den Autositz. Nie wieder werde ich meine altgewohnten Maßstäbe von Zeit und Distanz auf die Wildnis Kanadas übertragen! Dies habe ich nun auf die harte Weise gelernt. Danny schüttelt nur den Kopf: „Ich hab dir doch gesagt, das schaffst du nie in drei Stunden. Wir sind in Kanada!“ Er ruft die Rangerstation an, um Entwarnung zu geben. Sie sind nämlich auch schon alarmiert.
Daheim tritt Barkley ein paar Tassen Hundefutter an Jesus Murphy ab und frisst dafür die nächsten zwei Tage noch mehr Brokkoli. Solange dauert es, bis der ausgebüxte Jesus Murphy nach meinem Telefonat mit seinem Besitzer abgeholt wird. Dann fährt ein Auto vor, und der kleine Hund springt freudig auf, als sein Herrchen aussteigt. Ein sportlich gekleideter Mittfünfziger mit jugendlichem Aussehen und dynamischem Auftreten. Ein George Clooney, nur noch attraktiver. Ich mache ihm einen Kaffee, und viele, viele Hunderte sollen in den nächsten Jahren noch gemeinsam getrunken werden. Und er beginnt zu erzählen. Wir lachen viel. Es wird eine Schicksalsbegegnung. Bereits nach ein paar Minuten wird uns klar, dass wir uns eigentlich schon zehn Jahre früher hätten treffen können: In Finnland, bei den Nordischen Weltmeisterschaften der Junioren. Lyle Wilson, so der Name des Sonnyboys, war damals als Trainer der kanadischen Damenmannschaft dort, ich als Athletin für Österreich. Wir sind auf einer Wellenlänge, das merken wir sofort. Als er spät am Tag endlich seinen Hund ins Auto steckt, dreht er sich noch einmal um: „Und melde dich, nun weißt du ja, wo wir sind!“
Während des Winters im Kootenay-Nationalpark fahre ich regelmäßig nach Canmore zu Carolyn, um eine Fortbildung für uns Feldforscher zu besuchen oder einfach um einzukaufen und unter Menschen zu sein. Auch Danny fährt regelmäßig diese Strecke zu seiner Freundin. Manchmal bekommen wir auch Besuch von Mel, Melanie Percy, einer erfahrenen Feldbiologin, die uns vor Ort Tipps gibt. Auch wenn die Entfernungen hier weit sind, ich habe immer das Gefühl, gut betreut zu werden, und merke, wie stark uns unsere gemeinsamen Ziele und Interessen zusammenschweißen.
Alle Tracker arbeiten nach strengen moralischen Regeln: Wir nennen das Verfolgen der Spuren „back tracking“, denn sobald wir auf Spuren stoßen, werden diese in die Gegenrichtung verfolgt. Das Motto heißt: Jene Forschung ist die beste, bei der die Forschungsobjekte gar nicht merken, dass sie untersucht werden. Denn nur dann zeigen sie unbeeinflusstes Verhalten. Für die Informationen, die wir brauchen, ist es egal, in welche Richtung wir gehen. Daher folgen wir den Wölfen rückwärts. Man muss nur umgekehrt denken. Zum Beispiel, wenn ich frischen dunklen Kot finde, weiß ich, dass ich bald auf einen Kill stoßen werde; wenn ich einen Kill finde, erwarte ich als Nächstes eine Jagdsequenz … Alles speichere ich ins GPS-Gerät und lade es am Abend in den Computer. Ein Hauptaugenmerk legt Carolyn auf das Überwinden von Barrieren. Diese können vielgestaltig sein: Flüsse, Zäune, aber vor allem Straßen. Wie verhält sich die Wolfsfamilie, wenn sie zu einer Straße kommt? – Denn das ist der Hauptüberschneidungspunkt von menschlichen Aktivitäten und dem Alltag der Wölfe. Und nicht wenige, vor allem junge, unerfahrene Tiere kommen nicht auf der anderen Seite an. Wir wollen die Regelmäßigkeiten herausfinden, wo und wie die Rudel die Straßen kreuzen, um sichere Möglichkeiten für Mensch und Tier zu erarbeiten.
Wann auch immer Barrieren auftauchen, wird die Einheit des Rudels zu einer Ansammlung von Individualisten. Jeder löst das Hindernis auf seine Weise; einige lässt das ganz cool und sie marschieren gerade hinüber, manche queren diagonal, wieder andere drehen ab und laufen einige Meter den Straßenrand entlang, andere schlüpfen zurück in den Wald und tauchen erst dann auf, wenn die meisten Kumpel schon auf der anderen Straßenseite sind und hetzen dann mit ein paar schnellen Sprüngen hinterher. Diese ­Momente, in denen ich die unterschiedlichen Persönlichkeiten der einzelnen Wölfe im Schnee niedergeschrieben sehe, faszinieren mich besonders.
An Tagen nach frischem Schneefall, wenn die Kristalle an der Schneeoberfläche unter der Wintersonne wie Millionen von wertvollsten Diamanten funkeln und nur durch eine Perlenschnur aus Wolfspfotenspuren durchbrochen werden, dann könnte ich stundenlang auf dieses Kunstgemälde schauen, das die Natur da vor mir hingemalt hat. Und dann bringe ich es oft auch nicht fertig, es durch meine eigenen plumpen Stiefelabdrücke zu zerstören. Es ist einfach zu schön, als dass ich jetzt da reinsteige. Es überkommt mich so ein Respekt vor diesen Tieren und wie harmonisch ihre Spuren in die Landschaft passen, dass ich ihnen in einer eigenen Spur daneben folge. Der Mensch muss nicht immer den letzten Pinselstrich ­machen.
Der Highway im Kootenay-Nationalpark folgt für eine lange ­Strecke dem Kootenay River mit seinen Mäandern, Seitenarmen und Sandbänken, mit seinen steilen, hohen Wänden aus glazialem Schotterwerk und sanften Uferwiesen. Er ist, wie jeder Fluss auf dieser Erde einmal war und eigentlich für immer sein sollte, eine Lebensader. Entlang seines Verlaufs wandern die Wildtiere, und ­herangeschwemmte Pflanzen blühen auf. Man kann die Dynamik der Natur beobachten. Ich liebe diesen Fluss, vor allem weil er so vielgestaltig und lebendig ist und an seinen Ufern so viele Nachrichten in den Sand gedrückt sind. Immer wenn ich – ein paar Jahre später auch als Co-Guide für Touristen – hinunterpaddeln kann, entdecke ich den Park neu. Das Reisen auf dem Wasserweg war in der Wildnis immer schon das relativ einfachste. Die menschliche Besiedelung des Westens von Nordamerika hat sich entlang der Flussläufe entwickelt. Auch für die Indianer und die spä­teren „Entdecker“ waren sie die Hauptwanderrouten. Auch die Kootenay-Wölfe folgen dem Flusslauf und bringen mich an Plätze im Park, die ich ohne sie nie gesehen hätte. Wölfen zu folgen, das habe ich gleich in meinem ersten Winter im Kootenay-Nationalpark gespürt, heißt auch, vertrauensvoll in eine unbekannte Richtung zu gehen.




Über Gudrun Pflüger

Biografie

Gudrun Pflüger, 1972 in Graz geboren, ist eine Biologin und ehemalige Skilanglauf- sowie Berglauf- und Crosslauf-Sportlerin. Sie war zehn Jahre im Spitzensport und gewann u. a. mehrmals die Weltmeisterschaft im Berglauf. Nicht zuletzt dank ihrer Ausdauer bekam sie eine Stelle als Wolfsforscherin in...

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