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Wofür es keinen Namen gibt

Wofür es keinen Namen gibt

Piedad Bonnett
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Ich bin keine Witwe, ich bin keine Waise, ich bin eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat

„Bonnett ringt um die passenden Worte für ihren Schmerz, beschwört Erinnerungen herauf und denkt auf einer höheren Ebene über den Lauf des Lebens, Fürsorge, Schicksal, Krankheit, den Tod nach. Das lässt keinen Leser kalt.“ - Wiener Zeitung

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Wofür es keinen Namen gibt — Inhalt

Piedad Bonnett erzählt in ihrem Buch von der vielleicht schrecklichsten Erfahrung, die Eltern machen können: dem Selbstmord ihres 28-jährigen Sohnes Daniel, der unter Schizophrenie litt. Daniel war zunächst ein ganz normaler junger Mann wie viele andere, er war künstlerisch begabt, und er liebte das Leben, bis seine Krankheit ihn daran zerbrechen ließ. Bonnett begibt sich in ihrem Buch auf die Suche nach ihrem Sohn und stellt Fragen, die er selbst ihr nicht mehr beantworten kann: Wer war Daniel wirklich? Was wusste ich von ihm, und was wusste ich nicht? Hätte ich ihm helfen können in seiner Einsamkeit und wie? Sie schreibt mit der klaren und zärtlichen Sprache des Herzens – mit einer Sprache, die jeden berührt.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 01.09.2017
Übersetzt von: Petra Strien-Bourmer
160 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97839-2
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Leseprobe zu „Wofür es keinen Namen gibt“

Unwiederbringlich

Wir suchen uns einen freien Platz zum Parken und finden ihn fünfzig Meter entfernt von dem alten fünfstöckigen Gebäude, das, würdevoll, aber reizlos, fast am Ende der 84th Street zwischen der 2nd und der 3rd Avenue aufragt, einer der typischen New Yorker Straßen der Upper East Side, gediegen und beinahe immer ruhig trotz der Läden, die in den Erdgeschossen betrieben werden. Aus dem Kofferraum des Wagens holen wir zwei große Koffer, leicht zu heben, da leer. Vor dem Haus angekommen, bleiben wir, wie vom gleichen Gedanken bewegt, stehen [...]

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Unwiederbringlich

Wir suchen uns einen freien Platz zum Parken und finden ihn fünfzig Meter entfernt von dem alten fünfstöckigen Gebäude, das, würdevoll, aber reizlos, fast am Ende der 84th Street zwischen der 2nd und der 3rd Avenue aufragt, einer der typischen New Yorker Straßen der Upper East Side, gediegen und beinahe immer ruhig trotz der Läden, die in den Erdgeschossen betrieben werden. Aus dem Kofferraum des Wagens holen wir zwei große Koffer, leicht zu heben, da leer. Vor dem Haus angekommen, bleiben wir, wie vom gleichen Gedanken bewegt, stehen und blicken nach oben, als wollten wir die vier Stockwerke abschätzen, die wir gleich hinaufsteigen müssen. Camila öffnet die Eingangstür, und vor uns liegen der riesige dunkle Hausflur – einer dieser Orte, an denen das leiseste Geräusch widerhallt – und die Treppen aus Granit, die uns letzten August endlos erschienen, als Camila, Renata und ich hier treppauf, treppab liefen, euphorisch, keuchend, mit allen möglichen Sachen beladen. Jetzt hingegen liegt etwas Verkrampftes in unserem Schweigen, in der schwerfälligen und zugleich ungeduldigen Art, wie wir dieselben Stufen hinaufsteigen, sodass die Metallräder der Koffer auf dem Granit scheppern. Pamela öffnet die Tür und begrüßt jeden von uns mit einer festen Umarmung und ihrem reizenden Lächeln, das nicht einmal die Trauer zu vertreiben vermag. Nach einem kurzen Wortwechsel durchqueren wir die Küche und den kleinen Wohnraum und betreten zögernd das Zimmer. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist das riesige offen stehende Fenster und dahinter die Feuerleiter. Mit einem kurzen Blick nehme ich alles auf: das sorgfältig gemachte Bett, den mit Büchern überhäuften Schreibtisch, den von Heften in Beschlag genommenen Nachttisch, das fein säuberlich über den Stuhl gehängte karierte Jackett. Einige Augenblicke lang sagen wir nichts, machen wir nichts, obwohl innerlich von einem Gefühlssturm geschüttelt. Dann öffnet Camila den Schrank, und wir sehen die aufgereihten Schuhe, die Pullover und Hemden sorgsam eingeräumt. Es ist das Zimmer eines gepflegten, disziplinierten, ordnungsliebenden Bewohners. Verstört wechseln wir ein paar knappe Sätze, die effizient sein wollen, und teilen uns die Räume auf, um das zu erledigen, weswegen wir hergekommen sind. Keiner weint: Ließe einer von uns den Tränen freien Lauf, würde er die anderen mit seinem Schmerz mitreißen. Für einen Moment habe ich das Gefühl, wir verletzten mit unserer Gegenwart eine fremde Privatsphäre; und zugleich das erschreckende Empfinden, wir befänden uns auf einer Bühne. Ich frage mich, was hier geschah in den letzten zwanzig Minuten von Daniels Leben. Hat er vielleicht ein letztes Mal Zwiesprache mit sich selbst gehalten, ängstlich, verzweifelt, untröstlich? Oder wurde sein wacher Verstand getrübt von einem Heer dunkler Schatten? Beim Anblick dieses nüchternen Raums kommen mir die Verse von Wisława Szymborska in den Sinn, die ich jahrelang mit meinen Studenten gelesen habe. Jetzt scheint mir, sie wurden exakt für diesen Augenblick geschrieben: Es schien nicht so, als gäbe es aus diesem Zimmer keinen Ausweg, zumindest durch die Tür, als gäbe es nicht auch irgendeine Aussicht, zumindest durch das Fenster. Die Weitsichtbrille lag auf dem Fensterbrett, und eine Fliege summte, das heißt, sie lebte noch. Sicher glaubt ihr, wenigstens der Brief schuf etwas Klarheit. Wenn ich euch aber sagte, da gab es keinen Brief. So viele sind wir, Freunde, und alle passten wir in einen leeren Umschlag, er lehnte an einer Vase.

Ich blättere die Bücher, die Hefte durch, eines nach dem anderen. Im Grunde meines Herzens bitte ich inständig, es möge ein Tagebuch, eine persönliche Notiz auftauchen. Aber es gibt nur Textbesprechungen und Unterrichtsaufzeichnungen, akkurat, in winziger, gedrängter Schrift geschrieben. In seinem Rucksack finde ich die Karte, die ich ihm vor zwei Tagen geschickt habe, beigefügt ein Geldschein, damit Du Dir eine kleine Freude machst. In Liebe, Deine Ma. Camila zieht die Schubfächer der Kommode auf und räumt Hemden und Socken heraus. In einem Paar Strümpfe findet sie eine kleine Rolle Dollarscheine, dort verstaut, um sie vor einem möglichen Eindringling zu verbergen. Da lenkt Rafael, mein Mann, unsere Aufmerksamkeit auf das, was er soeben entdeckt hat: akkurat aufgereiht auf dem Schreibtisch liegen die Uhr, das Portemonnaie, der iPod und das Handy. Unsere Augen füllen sich mit Tränen. Als wir hinausgehen, jetzt mit vollgepackten Koffern, öffnet sich die Tür der Nachbarwohnung, und zwei runzlige alte Damen, die offensichtlich nur auf ein Geräusch von uns gewartet haben, um herauszukommen, überreichen uns einen kleinen Blumenstrauß mit einem Kärtchen und umarmen uns zutiefst ergriffen. In dem Moment erscheint auf dem Treppenabsatz ein Pärchen mit einem Kind; sie bleiben stehen, voller Scheu. Ob wir Verwandte des Studenten seien, der sich gestern umgebracht habe. Auch ihnen tut es unendlich leid. Die Frau, eine junge, freundlich wirkende Blondine, sagt uns, sie sei zu dem Zeitpunkt, als sich der tragische Vorfall ereignete, da gewesen und habe Daniel Anlauf nehmen hören. Meine Tochter Camila wundert sich und tritt vor: Sie haben ihn Anlauf nehmen hören? Wo waren Sie denn? In ihrem Stockwerk, ganz oben. Von dort hörte sie trampelnde Schritte auf dem Dach. Nun wird schließlich alles klar: das offene Fenster, die Feuerleiter, die nicht nur nach unten auf die Straße führt, sondern auch nach oben bis aufs Dach des Gebäudes.

Daniel starb in New York, am Samstag, dem 14. Mai 2011, mittags um zehn nach eins. Er hatte gerade sein achtundzwanzigstes Lebensjahr vollendet und absolvierte seit zehn Monaten ein Masterstudium an der Columbia University. Renata, meine ältere Tochter, überbrachte mir die Nachricht zwei Stunden später per Telefon mit fünf Worten, von denen das erste, mit zitternder Stimme vorgebracht, wohl wissend, welches Entsetzen sie am anderen Ende auslösen würde, natürlich lautete: Mama. Die vier restlichen verkündeten ohne Umschweife oder fromme Lügen die Tatsache, die schlichte und einfache Wahrheit, dass ein unendlich geliebter Mensch für immer gegangen ist und nie mehr zurückkehren, uns nie mehr ansehen oder anlächeln wird. In einem solch unvorhergesehenen tragischen Fall verweist die Sprache uns auf eine Realität, die der Verstand noch nicht zu begreifen vermag. Ehe ich meine Tochter detailliert befrage, genauer nachforsche, verneinen meine Worte das Gehörte ein ums andere Mal in einem kleinen, sinnlosen Wutanfall. Doch die Wucht der Fakten ist nicht zu leugnen: „Daniel hat sich umgebracht“ meint das, und nichts anderes, benennt ein Geschehen, das zeitlich wie räumlich unumkehrbar, an dem nicht mehr zu rütteln ist, weder mit einer Metapher noch mit einer veränderten Darstellung. Daniel hat sich umgebracht, wiederhole ich immer und immer wieder im Kopf, und obwohl ich weiß, dass meine Zunge niemals Zeugnis über das ablegen kann, was die Sprache übersteigt, ringe ich auch heute wieder hartnäckig mit den Worten, um einzutauchen bis auf den Grund seines Todes, das gestaute Wasser aufzuwühlen, nicht auf der Suche nach der Wahrheit, die es nicht gibt, sondern damit die Gesichter, die er zu Lebzeiten hatte, in den schillernden Reflexionen der dunklen Oberfläche aufscheinen.

Dein Sohn ist gestorben, nun musst du einen Koffer packen, um dorthin zu reisen, wo sein Leichnam dich erwartet. Und du tust es. Jemand hilft dir, sagt eine schwarze Hose, sagt die Schuhe verstaut man besser in einem Beutel. Drei Stunden ist es her, drei Stunden einer Zeit, die bereits angefangen hat zu rasen, immer schneller, bis sie sich auflösen wird, und du bist nicht in Ohnmacht gefallen, bist nicht auf die Knie gesunken, wankst nicht am Rande des Strauchelns, des Wahnsinns. Nein. Du befindest dich, wie es in den Handbüchern zur Trauer heißt, in einem Zustand des Schocks, der Benommenheit. Dein Schmerz der ersten Minuten nach Erhalt der Nachricht ist in kaltes Entsetzen, in Fassungslosigkeit, in Sich-Dreinfügen umgeschlagen, ähnlich wie wenn wir in den Operationssaal geschoben werden oder wenn wir feststellen, dass wir das Flugzeug verpasst haben, mit dem wir in eine ferne Stadt fliegen wollten. Du versuchst an Strümpfe zu denken, an Pyjamas, an Medikamente und wiederholst in deinem Kopf, in dich hinein, die Worte, die du soeben gehört hast, mit dem Wunsch, eine körperliche Reaktion möge dich aus der Starre lösen, ein Weinkrampf, ein Fieberschub, ein Schütteln, etwas, das diese Gefasstheit zerstört, die so sehr der Lüge, dem Tod selbst gleichkommt. Ich habe dir einen Schal eingepackt, sagt die Stimme. Perfekt, danke.

Das Alltägliche pflegt grausam zu sein. Am Flughafen, kurz vor Mitternacht, empfängt uns der Angestellte der Fluggesellschaft mit einem Ausdruck des Missfallens. Warum wir erst so spät zum Schalter kämen? Wir erklären ihm, unser Sohn sei vor wenigen Stunden gestorben, wir nähmen den erstmöglichen Flug, für den wir unter äußersten Schwierigkeiten noch Sitzplätze hätten bekommen können. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, inspiziert der Mann die Pässe mit der misstrauischen Miene so vieler in unserem Land, in deren Augen wir, ihre Landsleute, immer schuldig sind. Ich schaue mir seine breiten Hände an mit den schlecht geschnittenen Nägeln, am kleinen Finger ein protziger, mit Steinen besetzter Goldring, den zusammengekniffenen Mund, die gerunzelte Stirn, die keinerlei Reaktion erkennen lässt, nachdem er unsere Erklärung vernommen hat. „Gehen Sie“, brummt er. Das ist alles, was er sagt.

Du musst schlafen, sage ich mir, denn was uns erwartet, ist hart, niederschmetternd. Doch das ist leichter gesagt, als getan. Zum einen, weil die Gedanken keine Ruhe geben, sie surren in meinem Kopf wie ein gefangener Käfer in einer Tüte. Zum anderen, weil ich mich gerade erst von einer Operation erhole, die vor nicht einmal einer Woche erfolgt ist, und ich immer noch Schmerzen habe. Irgendwann habe ich einmal geschrieben, in der Luft „dehnt sich die Zeit wie zwischen zwei Gedankenstrichen“, und heute sehe ich das bestätigt in diesen sechs langen, von Visionen durchzogenen Flugstunden. Es ist ein erdrückendes Gefühl der Verwunderung, der Ungläubigkeit: Kann ich diese Person sein, die sich auf der Reise befindet, um ihren Sohn zu beerdigen? Ja, Piedad. Das ist eine Tatsache. Es hat sich ereignet. Noch nie haben mir so deutliche Worte derart unwirklich geklungen. Mit den wenigen Informationen, über die ich verfüge, rekonstruiere ich im Geiste die Gegebenheiten, ebenjene, die jeden Tod einzigartig machen, in diesem Fall noch einzigartiger, da Daniel nicht friedlich in seinem Bett gestorben ist, betäubt von Beruhigungsmitteln, ein Tod, wie wir ihn uns alle erträumen, sondern vom Dach eines fünfstöckigen Gebäudes gesprungen ist, um unten auf dem Asphalt zerschmettert zu werden. Ich versuche mir vorzustellen, welcher Kampf in ihm getobt haben muss zwischen dem Wunsch, Schluss zu machen, und seiner Angst, und frage mich, ob es ein Selbstmord aus einem spontanen Impuls heraus war oder im Gegenteil eine wohlüberlegte Tat, das, was die Experten „Bilanzsuizid“ nennen. War er schon vorher einmal aufs Dach gestiegen, um den Weg zu bereiten? Woran dachte er, als er sprang? Was fühlt man im Fallen? Verliert man das Bewusstsein? Sind wir, die wir ihn lieben, ihm in den letzten Stunden durch den Kopf gegangen? Die Fragen tauchen auf und ersterben augenblicklich wieder, besiegt, geschlagen. „Die Wahrheit ist ein Dschungel“, schreibt Javier Marías.

Dort oben, mitten in der nächtlichen Dunkelheit, stürmen unerbittlich die Bilder auf mich ein. Bilder vom Leben, Bilder vom Tod. Ich durchlebe noch einmal Daniels Geburt im Wasser, das gedämpfte Licht im Kreißsaal, die Musik, der winzige Körper, noch mit der Nabelschnur verbunden, mir behutsam auf die Brust gelegt, damit ich sein noch beschmiertes Köpfchen streicheln und küssen kann: das atmosphärische Stimmungsbild einer neuen Ära, ein wenig sentimental, ein wenig kitschig, absichtlich so arrangiert, damit seine Ankunft auf dieser Welt für ihn ein sanfter Übergang wird. Ich denke an die ganze Zärtlichkeit, die ganze Fürsorge, all das zunichtegemacht durch die aus den Fugen geratenen Schatten der Angst und des Todes.

Als wir uns in seinem Zimmer befinden und die anderen sich darum kümmern, seine Kleidung und sonstigen Habseligkeiten durchzusehen, stapele ich seine Bücher in einen der Koffer. Plötzlich, als bärge der Zufall die Lösung, fällt mein Blick auf den Umschlag eines Buches mit Werken von Jenny Saville, einer von Daniels Lieblingskünstlerinnen, auf dem „Reverse“ abgebildet ist, ein Gemälde, das ein junges, aufgedunsenes Gesicht zeigt, seitlich auf einer glänzenden Unterlage liegend, die es teilweise widerspiegelt. Die Pinselstriche suggerieren, dass da Blut im Gesicht ist und im Mund, der sich in einer grotesken Geste halb öffnet. Die Augen wirken erschreckend leer.

Ich finde die Sammelmappe mit Zeichnungen und Gemälden, die Daniel während seines Studiums gewissenhaft angefertigt hat, und blättere sie nun ganz anders durch, auf der Suche nach Erhellendem. Ich sehe eine Frauenskizze, eine Puppe, schrecklich und obszön, mehrere Selbstporträts von 2001, verstörend, traurig; ich sehe die Palette von Ölgemälden mit abstrakten Motiven, Stiche, Kohlezeichnungen, Acrylbilder … Mich beeindrucken seine Beherrschung, seine kommunikative Kraft, die scharfe Grenze zwischen der thematischen Emotionalität und der technischen Strenge. Mit achtzehn Jahren begann Daniel Kunst zu studieren. Schon seit Langem galt seine Leidenschaft dem Zeichnen und Malen, weshalb er bereits vor dem Abitur bei einem Lehrer Unterricht nahm und sich zwei Sommer lang zum Studium an der Art Students League von New York einschrieb. Einige Male erzählte er uns, wenn er von einem dieser Kurse heimkam, halb spöttisch, halb stolz, dass viele seiner Kommilitonen, alle älter als er, des Öfteren um ihn herumstanden, während er malte, und sein Geschick bewunderten. Obwohl er selbst nie so recht an sein Talent glauben wollte, wirkte er, als er sich an der Fakultät für bildende Kunst einschrieb, ziemlich enthusiastisch. Am ersten Unterrichtstag kehrte er mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen heim: Einer seiner Lehrer, vielleicht der für Kunstgeschichte, hatte ihnen auf theatralische Weise den verheerenden Satz gesagt, den er in den vier Jahren seines Universitätsstudiums unentwegt zu hören bekommen sollte: „Jungs, vergesst die Malerei. Die Malerei ist tot.“

„Das Leben ist rein physisch.“ Dieser Vers von Watanabe hat mir immer gefallen. Ebenso wie folgende Zeilen von Blanca Varela: „[…] es ist die Lust der Seele / welche der Körper ist.“ Was mir wenige Stunden nach Daniels Tod bis zur Verzweiflung fehlt, sind Daniels Hände, seine Wangen, über die mein Handrücken strich, wenn ich ihn traurig sah, seine Stirn, die ich so oft küsste, als er ein Kind war, seine vom vielen Sonnen braun gebrannten Schultern. Seine Einzigartigkeit. Seine Art zu lachen, zu gehen, sich zu kleiden. Sein Geruch. Ein absurder Gedanke verfolgt mich: Das Universum wird nie mehr noch so einen Daniel hervorbringen. Es wird immer jemand kommen, der mir sagt, uns bleibe die Erinnerung, unser Sohn lebe auf eine andere Art und Weise in uns fort, uns blieben die glücklichen Erinnerungen als Trost und dass er ein Werk hinterlassen habe … Doch das wahre Leben ist rein physisch, und was der Tod uns nimmt, ist ein Körper, ein unwiederbringliches Gesicht: die Seele, welche der Körper ist.

Wenige Stunden nach Daniels Tod riefen meine Kinder mich an, um nachzufragen, ob ich einer Organspende zustimmen würde. Einen Moment lang war ich erschüttert beim Gedanken an seinen sportlichen Körper, die Schönheit, die, ob real oder nicht, mich insgeheim voller Stolz und Verzückung auf meinen Sohn hatte blicken lassen, und ich hauchte ein verzweifeltes Nein. Doch sie machten mir klar, dass es eine kleinliche Geste wäre, dass sein Herz, seine Lunge für jemanden, der den Wunsch hat zu überleben, die einzige Rettung sein könnte. Da stimmte ich zu und machte mich auf der Bettkante sitzend bereit, die Person anzuhören, die dafür zuständig war, mein Einverständnis entgegenzunehmen. Am anderen Ende der Leitung sprach eine Frau, ihr Ton war sanft und fest zugleich. Es passiert ja immer, dass eine Stimme ein imaginäres Gesicht hervorruft, und ich stellte mir ein dunkelhäutiges vor, das Gesicht einer üppigen Frau mit großen, mitfühlenden Augen. Ich hörte mir geduldig ihre Beileidsbekundungen an, die vom Gesetz vorgeschriebenen Formalitäten, ihren Dank im Voraus und dann eine ungeahnte Liste von Organen, die weit über sein Herz, seine Nieren, seine Augen hinausging. „Die Rückenhaut.“ „Ja.“ „Die Beinknochen.“ „Ja.“ Und Daniel, mein geliebter Sohn, der Junge mit den vollen Lippen und der sonnengebräunten Haut, löste sich zusehends auf, mit jedem meiner Worte mehr. Das Leben ist rein physisch.

Man sagt uns, wir müssten noch mindestens drei Tage warten, bis sein Leichnam zur Bestattung freigegeben würde, also füllen wir die leeren Stunden auf unterschiedlichste Weisen, während mich ein niederschmetternder Gedanke nicht mehr loslässt: Jetzt, in den Händen der Pathologen, ist sein Körper nicht mehr sein Körper, sondern ein kalter Gegenstand, den man von oben bis unten seziert hat. Und ich denke voller Dankbarkeit an Adam, Renatas Mann, das letzte Familienmitglied, das Daniel vor seinem Tod noch sah, und der die Güte hatte, meinen Töchtern den Schock der Identifizierung zu ersparen. Um den Preis, dass er jetzt auf ewig mit dem Anblick des vom Tod entstellten Gesichts belastet ist. Von der Küche in Renatas Wohnung aus, wo wir jeden Morgen sitzen und unseren Kaffee trinken, sehen wir schnell und lautlos wie in einem Stummfilm die Autos auf der Autobahn vorbeifahren. Ein milchiger Dunst, der bis knapp über den Boden herabgesunken ist, breitet sich wie ein Schleier aus und verzerrt die Fernsicht auf die Brücke, die Bäume. Es regnet, regnet, regnet. Die Zeit scheint jetzt endgültig stillzustehen. Da man mir einen Tag vor Daniels Tod einen Literaturpreis verliehen hat, erreichen mich ununterbrochen telefonische Mitteilungen, die ich eine nach der anderen beantworte, meistens nur mit knappen Dankesworten, und fast immer verkünde ich die schreckliche Nachricht. Wieder erhalte ich Post, diesmal Kondolenzschreiben. Darin versucht die Ratlosigkeit über den Tod sich in Worte zu fassen, doch nahezu alle beklagen, wie sehr Worte sich als untauglich erweisen und überhaupt unzulänglich sind. Uns spenden diese fernen Grüße und die immer mit ihnen verbundenen Umarmungen trotz allem Trost. Das wohlwollende Zureden der Freunde beschert uns ein gewisses Maß an Benommenheit, gerade genug, um nicht in Verzweiflung zu versinken. Stundenlang sitzen wir, jeder in einer anderen Ecke der Wohnung, geistesabwesend am Computer oder am Telefon und wirken zeitweilig geradeso, als führten wir ein absurdes Theaterstück auf. Auf Daniels Pinnwand bei Facebook haben meine Töchter die lakonische Nachricht hinterlassen, dass er freiwillig aus dem Leben geschieden sei. Es gibt massenhaft Reaktionen, lärmend, schmerzlich, sentimental und vollkommen anders als die persönlichen Briefe. Vergeblich sage ich mir, dass wir uns dem Massenwahn des Netzes nicht mehr entziehen können, dass auch Ehrlichkeit in der Betrübnis steckt, die aus all diesen Botschaften tropft; und doch spüre ich in diesen emotionalen Ergüssen fast so etwas wie Schamlosigkeit. Einem alten nordamerikanischen Brauch folgend, bringen Renatas Freunde selbst zubereitete Speisen vorbei. Sie kommen ganz diskret nur bis zur Haustür und ziehen sich gleich wieder zurück, um die Privatsphäre der Familie nicht zu stören. Der Kühlschrank füllt sich nach und nach mit Gerichten: Es gibt Tacos, indisches Essen, Nudeln. Mit dieser Gabe für unseren Lebenserhalt tragen die Freunde dafür Sorge, dass die häuslichen Verrichtungen unsere von der Trauer schon genug gebeutelten Körper nicht noch restlos schwächen. Und plötzlich passiert es, dass wir ein Schokoladeneis kosten, eine Soße loben, ein weiches Brot, einen Fisch. Wir sind am Leben.

Piedad Bonnett

Über Piedad Bonnett

Biografie

Piedad Bonnet wurde 1951 in Amalfi, Kolumbien, geboren und wuchs in Bogotá auf. Sie ist eine international anerkannte Lyrikerin, Romanschriftstellerin, Dramatikerin und Essayistin. Sie studierte Philosophie, Literatur und Kunsttheorie und ist seit 1981 Professorin für Literatur an der...

Pressestimmen
Wiener Zeitung

„Bonnett ringt um die passenden Worte für ihren Schmerz, beschwört Erinnerungen herauf und denkt auf einer höheren Ebene über den Lauf des Lebens, Fürsorge, Schicksal, Krankheit, den Tod nach. Das lässt keinen Leser kalt.“

Kronen Zeitung (A)

„Der Sohn der kolumbianischen Schriftstellerin Piedad Bonnett leidet an Schizophrenie, mit 28 Jahren nimmt er sich das Leben. Mit berührenden Worten und großer Kraft hat sie sich den Schmerz von der Seele geschrieben. Es ist ein Text, der aufwühlt und doch auch Trost spendet.“

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