

Wetter - eBook-Ausgabe Wetter
Roman
— Shortlist zum Internationalen Literaturpreis 2021Wetter — Inhalt
„Das richtige Buch für das Ende der Welt.“ LA Times
Lizzie Benson, Bibliothekarin mit Hang zu apokalyptischen Gedanken, geht seit Jahren ihrer Berufung als Amateur-Psychologin nach: Sie kümmert sich um ihren Ex-Junkie-Bruder und ihre gottesfürchtige Mutter. Dieses Talent ist auch gefragt, als ihre alte Mentorin Sylvia Liller ihr einen Vorschlag unterbreitet: Lizzie soll die Fanpost zu ihrem alarmistischen Podcast „Hölle und Hochwasser“ beantworten. So stürzt sie sich in die Auseinandersetzung mit besorgten Linken, die die Klimakatastrophe kommen sehen, ebenso wie mit den Ultrakonservativen und deren Sorge um den Untergang der westlichen Zivilisation. Wie aber, fragt Lizzie sich immer häufiger, kann sie ihren privaten Garten wässern, wenn die ganze Welt in Flammen steht?
„Dieses Buch ist so großartig. Wir sind nicht bereit dafür und haben es nicht verdient.“ Ocean Vuong
„Ein geschliffenes Meisterwerk, bemerkenswert und von tiefer Resonanz“ LA Times
Leseprobe zu „Wetter“
Notizen von einer Versammlung
in Milford, Connecticut, 1640:
Beschlossen, dass die Erde dem Herrn gehört
samt all ihrer Fülle; beschlossen,
dass die Erde den Heiligen gegeben wurde;
beschlossen, dass wir die Heiligen sind.
Eins
–
Morgens kommt die weitgehend Erleuchtete herein. Es gibt unterschiedliche Stadien, und sie denkt, sie befände sich im vorletzten. Dieses Stadium kann man nur mit einer japanischen Wendung beschreiben. Sie lautet „Eimer voll schwarzer Farbe“.
Ich verbringe einige Zeit damit, Bücher für den hilflosen Bibliotheksadlatus [...]
Notizen von einer Versammlung
in Milford, Connecticut, 1640:
Beschlossen, dass die Erde dem Herrn gehört
samt all ihrer Fülle; beschlossen,
dass die Erde den Heiligen gegeben wurde;
beschlossen, dass wir die Heiligen sind.
Eins
–
Morgens kommt die weitgehend Erleuchtete herein. Es gibt unterschiedliche Stadien, und sie denkt, sie befände sich im vorletzten. Dieses Stadium kann man nur mit einer japanischen Wendung beschreiben. Sie lautet „Eimer voll schwarzer Farbe“.
Ich verbringe einige Zeit damit, Bücher für den hilflosen Bibliotheksadlatus zusammenzustellen. Er schreibt seit elf Jahren an seiner Dissertation. Ich gebe ihm stapelweise Kopierpapier. Büroklammern und Stifte. Er schreibt über einen Philosophen, von dem ich noch nie gehört habe. Er sei unbedeutend, aber hilfreich, hat er mir erklärt. Unbedeutend, aber hilfreich!
Doch gestern Abend hat seine Frau einen Zettel an den Kühlschrank geklebt. Bringt das, was du da gerade tust, Geld ein?, stand darauf.
Der Mann in dem abgetragenen Anzug will nicht, dass ihm seine Mahngebühren erlassen werden. Er ist stolz darauf, unsere Institution zu unterstützen. Das blonde Mädchen mit den abgekauten Fingernägeln kommt nach dem Lunch vorbei und geht wieder mit einer Handtasche voller Toilettenpapier.
Ich stelle mich einer Theorie über das Impfen und einer über den Spätkapitalismus. „Wünschen Sie sich manchmal, wieder dreißig zu sein?“, fragt der Fachmann für einsame Herzen. „Nein, nie“, sage ich. Ich erzähle ihm den alten Witz über Zeitreisen.
Zeitreisende werden hier nicht bedient.
Ein Zeitreisender betritt die Bar.
Auf dem Nachhauseweg komme ich an der Frau vorbei, die Kreisel verkauft. Wenn die Studenten richtig stoned sind, kaufen sie manchmal welche. „Heute keine Kunden“, sagt sie. Ich suche einen für Eli aus. Er ist blau und weiß, sieht aber bläulich aus, wenn er sich dreht. Vergiss nicht die Fünfundzwanzig-Cent-Münzen, fällt mir dabei ein.
In der Bodega gibt Mohan mir eine Rolle Münzen. Ich bewundere seine neue Katze, aber er meint, sie sei ihm nur zugelaufen. Er will sie trotzdem behalten, weil seine Frau ihn nicht mehr liebt.
„Ich wünschte, du wärst ein richtiger Seelenklempner“, sagt mein Mann. „Dann wären wir reich.“
- · ·
Henry ist zu spät dran. Und das, nachdem ich einen Fahrservice bestellt habe, um mich nicht zu verspäten. Als ich ihn endlich sehe, ist er pitschnass. Kein Mantel, kein Regenschirm. Er bleibt an der Ecke stehen und gibt der Frau im Müllbeutelponcho Kleingeld.
Mein Bruder hat mir einmal erzählt, dass ihm die Drogen fehlen, weil sie das Geschrei der Welt in seinen Ohren abgestellt haben. „Klingt logisch“, sagte ich. Wir waren im Supermarkt. Um uns herum wollten Dinge ihre wahre Natur verkünden. Aber ihre Ausstrahlung war schwach und noch schwächer in dem Gedudel der schrecklichen Supermarktmusik.
Ich versuche ihn schnell aufzuwärmen: Suppe, Kaffee. Er sieht gut aus, finde ich. Klare Augen. Die Kellnerin macht neuen Kaffee, flirtet mit ihm. Passanten hielten früher meine Mutter auf der Straße an. Was für eine Verschwendung, sagten sie. Solche Wimpern bei einem Jungen!
Jetzt nehmen wir noch mehr Brot. Ich esse drei Scheiben, während mein Bruder mir von seinem Drogenhilfe-Treffen erzählt. Eine Frau ist aufgestanden und hat über Antidepressiva geschimpft. Was sie am meisten aufgeregt hat, war, dass die Leute sie nicht richtig entsorgen. Man hat Würmer aus der Kanalisation untersucht und festgestellt, dass sie hohe Konzentrationen von Paxil und Prozac enthielten.
Wenn Vögel diese Würmer fraßen, flogen sie nicht weit, bauten kompliziertere Nester, wirkten aber desinteressiert daran, sich zu paaren. „Aber waren sie glücklicher?“, frage ich ihn. „Haben sie an irgendeinem Tag auch mehr erledigt?“
- · ·
Das Fenster in unserem Schlafzimmer steht offen. Wenn man sich hinausbeugt und den Hals verdreht, kann man den Mond sehen. Die Griechen dachten, er sei der einzige der Erde ähnliche Himmelskörper. Pflanzen und Tiere bewohnten ihn, die fünfzehnmal stärker waren als unsere.
Mein Sohn kommt herein, um mir etwas zu zeigen. Es sieht aus wie eine Schachtel Kaugummi, aber wenn man etwas davon nehmen will, springt einem eine Metallfeder gegen den Finger. „Tut mehr weh, als man denkt“, warnt er mich.
Autsch.
Ich sage, er solle aus dem Fenster sehen. „Das ist ein zunehmender Mond“, sagt Eli. Er weiß inzwischen so viel über den Mond, wie er je wissen wird, vermute ich. In seiner alten Schule haben sie ihm ein Lied zum Auswendiglernen aller Mondphasen beigebracht. Manchmal singt er es für uns beim Abendessen, aber nur, wenn wir es nicht verlangen.
Dem Mond geht es gut, denke ich. Niemand macht sich Sorgen über den Mond.
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Die Frau mit dem Megafon steht heute Morgen an der Schultür. Sie fordert die Eltern auf, draußen zu bleiben und die Kinder dort hinter der roten Linie abzuliefern. „Sicherheit geht vor!“, schreit sie. „Sicherheit geht vor!“
Aber manchmal muss Eli weinen, wenn er in diesem lauten Gedränge abgesetzt wird. Er geht nicht gerne allein von einer Seite der großen Cafeteria zur anderen. Einmal stand er stocksteif mitten in dem Raum, bis ein Helfer ihn am Ellbogen nahm und zu seinem Platz schubste.
Also rennen wir heute los und flitzen an ihr vorbei zum vorgesehenen Treffpunkt. Sein Freund ist schon da und hat Tiercracker mitgebracht, und ich kann gehen, ohne dass es Tränen gibt, aber nicht, ohne dass die Megafonfrau mich anschreit. „Keine Eltern! Eltern dürfen ihre Kinder nicht begleiten!“
Mein Gott, wie sie dieses Megafon liebt. Etwas schießt durch meinen Körper, wenn ich ihre Stimme höre, aber dann bin ich draußen auf der Straße und ermahne mich, nicht nachzudenken.
Ich darf nicht darüber nachdenken, wie groß diese Schule ist oder wie klein er ist. Diesen Fehler habe ich bei anderen Gelegenheiten gemacht. Inzwischen müsste ich mich an die Umstände gewöhnt haben, aber manchmal lasse ich mich aufs Neue verschrecken.
- · ·
Den ganzen Tag mürrische Professoren. Die mit festem Lehrstuhl sind die mürrischsten. Sie rauschen an den Leuten vorbei, die anstehen, um ein Buch abzuholen oder Bestelllisten aufzusetzen. Studien haben bewiesen, dass vierundneunzig Prozent aller Collegeprofessoren denken, sie würden mehr arbeiten als die anderen.
Neulich hat man uns einen Leitfaden gegeben. Tipps für den Umgang mit Problemkunden. Professoren waren darin nicht erwähnt. Hier die folgenden Kategorien:
Übel riechend
Summt
Lacht
Verstörend
Waschzwang
Streitsüchtig
Schwätzt
Einsam
Hustend
Aber wie soll ich den älteren Herrn einordnen, der mich dauernd nach dem Passwort für seinen E-Mail-Account fragt? Ich versuche ihm zu erklären, dass ich es nicht kennen kann, dass nur er es kennt, aber er schüttelt einfach den Kopf auf die empörte Art, die besagt: Was ist das für eine Auskunft?
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Es gibt ein Plakat von Sylvia an der Bushaltestelle. Da steht, dass sie kommt und auf dem Campus einen Vortrag hält. Vor Jahren gehörte ich zu ihren Promovenden, aber dann habe ich’s hingeschmissen. Ab und zu erkundigte sie sich, ob ich noch immer nichts aus mir machen wolle. Die Antwort war immer Ja. Am Ende hat sie ihre Beziehungen spielen lassen und mir diesen Job besorgt, obwohl ich gar keine richtige Bibliothekarin bin.
Auf dem Nachhauseweg höre ich mir ihren neuen Podcast an. Diese Folge heißt „Das Zentrum kann nicht standhalten“. So könnten sie alle heißen. Aber Sylvias Stimme ist das leicht gesteigerte Entsetzen fast wert. Sie klingt tröstlich, obwohl sie nur von den unsichtbaren apokalyptischen Reitern spricht, die auf uns zupreschen.
Es gibt wiedererkennbare Muster von Aufstieg und Niedergang. Aber unsere industrielle Zivilisation ist so gewaltig, so weitreichend …
Ich sehe aus dem Fenster. Irgendwas in der Ferne humpelt zu den Bäumen.
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Die Tür wird geöffnet, und Eli wirft sich mir entgegen. Ich helfe ihm, Klebstoff von den Händen zu entfernen, und er setzt sich wieder an sein Spiel. Ein Spiel, das alle mögen. Laut meinem Mann ist es eine prozessual generierte Welt. Ein Lernspiel.
Es macht Spaß, ihnen beim Spielen zuzusehen. Sie fügen Gebäude Klötzchen für Klötzchen zusammen und füllen dann die Räume mit Mineralien, die sie mit selbst gebauten Spitzhacken ausgegraben haben. Sie sammeln grüne Felder und züchten Hühner, die gegessen werden sollen. „Ich habe eines getötet!“, ruft Eli. „Es ist schon ganz schön spät“, sagt Ben zu ihm.
Es kommen Rechnungen und Supermarkt-Werbung. Und eine Zeitschrift für einen ehemaligen Mieter. Auf der Titelseite wird Hilfe für Depressive versprochen.
Was man sagen SOLL:
Es tut mir leid, dass es Ihnen so schlecht geht. Ich werde Sie nicht im Stich lassen. Ich werde mich um mich selbst kümmern, also müssen Sie sich keine Sorgen machen, dass Ihr Schmerz mir schaden könnte.
Was man NICHT sagen soll:
Haben Sie es mit Kamillentee probiert?
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Ich lasse ausnahmsweise meinen Bruder den Film aussuchen, aber der Film ist so blöd, dass ich es kaum ertragen kann, ihn anzusehen. In den Filmen, die ihm gefallen, droht immer eine große Katastrophe, und es gibt nur die eine unwahrscheinliche Person, die sie verhindern kann.
Danach gehen wir im Park spazieren. Möglicherweise habe er jemanden kennengelernt. Aber er glaube nicht, dass es funktionieren wird. Sie unterscheide sich zu sehr von ihm. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass sie sich noch gar nicht verabredet haben. „Du willst dich nicht mit jemandem verabreden, der dir ähnlich ist, nicht wahr?“, frage ich ihn. Henry muss lachen. „Du lieber Himmel, nein.“
In dem ersten Kurs, den ich bei Sylvia belegt hatte, erzählte sie uns von assortativer Paarung. Was bedeutet: gleich und gleich – Depressive mit Depressiven. Das Problem dabei, sagte sie, sei, dass es einem völlig vernünftig vorkommt, wenn man es tut. Als würde ein Schlüssel in ein Schloss passen und die Tür öffnen. Die Frage sei aber: Ist das wirklich das Zimmer, in dem man sein Leben verbringen will?
Also erzähle ich meinem Bruder, dass Ben und mir nie dieselben Dinge auffallen. Wie zum Beispiel, als ich nach Hause kam und er völlig aus dem Häuschen war, weil sie es endlich abgebaut hatten. Was abgebaut?, habe ich gefragt. Und er musste mir erklären, dass das Gerüst, mit dem die Front unseres Hauses seit drei Jahren eingerüstet war, endlich weg war. Und letzte Woche, als ich ihm eine Geschichte über den Burschen aus 5 C erzählte, sagte er: Wie, welcher Drogendealer?
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Als ich nach Hause komme, will die Hündin einen Eiswürfel. Ich gebe ihr einen, aber sie wirft weiter ihren Futternapf in der Küche herum. „Wie war dein Tag?“, frage ich Ben. Er zuckt die Schultern. „Hab hauptsächlich programmiert und etwas Wäsche gewaschen.“
Auf dem Tisch liegt ein beachtlicher Stapel gefalteter Kleidung. Ich finde mein Lieblings-T-Shirt und meine am wenigsten deprimierende Unterwäsche. Ich gehe ins Schlafzimmer und ziehe beides an. Jetzt bin ich ein nagelneuer Mensch.
Am dritten Tag ihrer Ehe schrieb Königin Victoria: Mein liebster Albert zieht mir die Strümpfe an. Und ich sah ihm beim Rasieren zu, eine große Freude …
Meine Mutter ruft an und erzählt mir von dem Licht, den Reben, dem lebendigen Brot.
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Sieben Uhr morgens, und Eli spielt Fangen. Ich nehme den Glibberfrosch weg und lege ihn auf den Kühlschrank. „Wir müssen gehen! Hol deinen Rucksack!“, sage ich zu ihm. Der Hund beobachtet mich misstrauisch, den Kopf auf den Pfoten. Ich fahre grob mit der Bürste durch Elis Haare. Er zuckt zurück und rennt weg. „Wir müssen gehen! Zieh deine Schuhe an!“, schreie ich. Dann sind wir endlich zur Tür raus.
Mrs Kovinski will mir etwas über die Aufzüge sagen, aber wir rennen an ihr vorbei. Zehn Block. Ich gehe zu schnell, ziehe Eli hinter mir her. Alles falsch gemacht, ich weiß, ich weiß, aber wenn er zu spät kommt, muss ich im Büro ewig anstehen.
Ein letzter Sprint über den Spielplatz, und wir schaffen es gerade noch rechtzeitig. Ich bin atemlos, verschwitzt, traurig. Ich küsse Eli auf den Kopf, um das Rennen gutzumachen. Warum habe ich nicht mehr Kinder bekommen, um mehr Gelegenheiten zu haben?
Die anderen Mütter sind klug genug, nicht nur ein Kind zu haben. Ein Grüppchen von ihnen steht drüben am Zaun. Sie sprechen Urdu, glaube ich. Eine lächelt mir zu, und ich winke.
Wie sehe ich für sie aus?, das frage ich mich, mit meiner trübseligen Kleidung und meiner exzentrischen Brille. Letzte Woche hat sie ein Stück Seidenstoff für die Schultombola gespendet; roter Stoff, mit Goldfäden bestickt. Eli will ihn gewinnen und sich einen Umhang daraus machen lassen. Ich weiß, wie man ihren Namen schreibt, aber ich kann ihn nicht aussprechen.
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Diese Frau ist eine Seelenklempnerin. Und eine Buddhistin. Sie probiert beides an mir aus, wie ich festgestellt habe. „Sie identifizieren sich nach unten, nicht nach oben. Warum, glauben Sie, ist das wohl so?“
Sagen Sie es mir, Madame.
Donnerstags gibt sie im Souterrain einen Meditationskurs. Jeder kann mitmachen, nicht nur Universitätsangehörige. Mir ist aufgefallen, dass Margot anders zuhört als ich. Sie ist aufmerksam, behält aber ihre eigenen Geschichten für sich.
Heute geht es zäh an, und ich helfe ihr, alles für die Klasse vorzubereiten. Kissen für die Kräftigen, Stühle für die Schwachen. „Du solltest bleiben“, sagt sie immer zu mir, aber ich bleibe nie. Weiß nicht, wo ich mich hinsetzen soll.
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Hier die Mitternachtsfrage für meinen Mann: Was stimmt nicht mit meinem Knie? „Ich höre das leise Knacken, wenn ich gehe. Und wenn ich die Treppe nehme, tut es manchmal weh.“ Er isst einen Löffel Erdnussbutter. Er legt ihn in das Spülbecken und kniet sich dann hin, um mich zu untersuchen. „Tut das weh?“, fragt er, als er leicht auf die Haut drückt. „Oder das? Oder das?“ Ich wackle mit der Hand, um anzudeuten, dass es vielleicht wehtut, vielleicht ein bisschen. Er steht auf und gibt mir einen Kuss. „Kniekrebs?“, sagt er.
Ein Vorteil an Schlaftablettensucht ist, dass sie nicht als Sucht bezeichnet wird, sondern als Gewohnheit.
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Merkwürdig, wie Leute einen heutzutage über alles belehren. Die hier auf der Treppe vor der Bibliothek regt sich über mein Schinkensandwich auf. „Schweine sind gelehriger als Hunde! Kühe können zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden!“ Und wer will das von Ihnen wissen?, denke ich, aber ich gehe an ihr vorbei und esse das Sandwich an meinem Schreibtisch.
Aber der Mann in dem abgetragenen Anzug erzählt mir Dinge, die mich interessieren. Er arbeitet im Hospiz. Er hat gesagt, wenn ein geliebter Mensch stirbt, muss man unbedingt versuchen, drei Tage lang allein im Haus zu bleiben. Dann können die Manifestationen sich bemerkbar machen. Seine Frau manifestierte sich als kleiner Wirbelwind, der die Papiere von seinem Schreibtisch blies. Wunderbar, wunderbar, sagte er.
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An unserem Aufzug besagt ein Schild, dass er defekt ist. Ich stehe davor und sehe es an, als könnte es sich verändern. Mrs Kovinski kommt in den Flur. Jeder darf sich heutzutage Hausmeister nennen, das ist ihre Theorie. Jeder.
Ich nehme die Post und zögere den langsamen Weg die Treppe hoch hinaus. Die angesagte Vorschule schickt uns noch immer ihren Newsletter. Im aktuellen sind die zehn größten Ängste aufgelistet, die ihre Schüler genannt haben. Dunkelheit ist nicht dabei. Blut, Haie und Einsamkeit sind auf Platz acht, neun und zehn.
Als ich in die Wohnung komme, schläft der Hund unter dem Tisch. Eli faltet ein Blatt weißes Papier. „Nicht hersehen“, sagt er. „Ich erfinde das hier. Niemand außer mir wird je erfahren, was es ist.“
Ich sehe nicht hin. Ich stelle Trockenfutter und Wasser bereit, spähe halbherzig in den Kühlschrank. Das Fenster steht offen. Schönes Wetter. Auf der Feuerleiter sitzen keine Tauben. Von unserem Tomatenexperiment sind noch ein paar Töpfe übrig. „Woosh“, sagt mein Sohn.
Meine Platz-eins-Angst ist das schnellere Vergehen der Tage. Wahrscheinlich nur Einbildung, aber ich könnte schwören, dass ich es spüre.
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„Willst du einen Snack?“, fragt sie mich. Ich zögere, weil Catherine in der Werbung arbeitet. Meinen Bruder hat sie kennengelernt, als er sich für eine Fokusgruppe in ihrer Agentur angemeldet hat. Bezahlt wurden hundert Dollar in bar. Die Aufgabe bestand darin, sich gemeinsam Namen für ein neues Deo für Kinder unter zehn Jahren auszudenken. Sein Beitrag lautete: Engelsgestank.
Ich kann es immer noch nicht recht glauben, dass sie ein Paar sind, aber bei ihrem ersten Treffen haben beide Sprudelwasser bestellt. In der Zwölf-Schritte-Methode nennt man das den dreizehnten Schritt. Sie hat ein bisschen gekokst. Er stand auf Pillen.
Ich sage zu Catherine, dass ich lieber bis zum Abendessen warte. Später schleiche ich unauffällig an ihrem Schreibtisch vorbei, und natürlich liegt da eine Mappe.
Kartoffelchips: Ehrgeizig, erfolgreich, leistungsstark
Nüsse: Ungezwungen, einfühlsam, verständnisvoll
Popcorn: Verantwortungsbewusst, clever, selbstsicher
Ich gehe ins Wohnzimmer, und da sitzt Ben, der vergnügt Cashews isst.
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Sonntagvormittag. Die Hündin hat im Gras ein Kaninchenbaby entdeckt. Sie hat es ins Maul genommen und dann losgelassen. Jetzt versuchen wir, es zu retten. Jemand aus dem Gemeindegarten hat uns ein Kistchen mit einem weichen Tuch gegeben. Aber das Kaninchen zittert heftig. Blut ist nicht zu sehen, aber im Fell sind kleine Einkerbungen von den Hundezähnen. Wir wollen das Kaninchen in den Garten zurückbringen, aber es ist schon tot. Vor Schreck gestorben, nehme ich an.
Abends ruft Eli hysterisch aus der Küche nach uns. Er sagt, unter der Spüle liege ein Mäuseschädel. Ich sehe Ben finster an. Ich dachte immer, wir bringen sie heimlich um. Schwerfällig steht er auf und geht in die Küche. Er kniet sich hin, um unter der Spüle nachzusehen. Aber es ist nur ein Stück Ingwer, und wir haben Glück gehabt.
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Ich weiß nicht, was ich mit dem Mann vom Fahrservice anfangen soll. Er hat mir erzählt, dass die Geschäfte schlecht gehen; niemand ruft mehr an. Er musste alle Fahrer entlassen und hat nur noch einen Wagen. Inzwischen schläft er am Arbeitsplatz, um keinen Anruf zu verpassen. Seine Frau hat gesagt, sie werde ihn verlassen.
Mr Jimmy. Das ist der Name auf der Visitenkarte, die er mir gegeben hat. Ich versuche nur noch seinen Fahrservice zu benutzen, nicht den besseren, schnelleren. Manchmal klingt seine Stimme verschlafen, wenn ich anrufe. Er sagt immer, in sieben Minuten wäre er da, aber es dauert jetzt viel länger.
Ich habe den Fahrservice immer nur kommen lassen, wenn ich spät dran war, aber jetzt muss ich die doppelte Fahrzeit rechnen. Ein Bus wäre genauso schnell oder schneller. Und ich könnte ihn mir leisten. Aber was, wenn ich die einzige verbliebene Kundin wäre?
Jetzt habe ich mich zu dem Vortrag verspätet. Und ich hatte mir das falsche Gebäude gemerkt. Bis ich da bin, hat Sylvia ihren Vortrag fast beendet. Es sind viele Zuhörer gekommen. Hinter ihr ist ein Schaubild, das aussieht wie ein Hockeyschläger.
„Was es heißt, ein guter Mensch, ein moralischer Mensch zu sein, wird in Krisenzeiten anders eingeschätzt als unter normalen Umständen“, sagt sie. Sie zeigt uns ein Dia von Leuten, die an einem See ein Picknick machen. Blauer Himmel, grüne Bäume, weiße Menschen.
„Angenommen, Sie gehen mit Freunden zum Picknick in einen Park. Das ist natürlich moralisch völlig neutral, aber wenn Sie zusehen, wie Kinder im See ertrinken, und weiter essen und plaudern, sind Sie zu Ungeheuern geworden.“
Der Moderator bedeutet ihr mit einer Geste, dass es Zeit ist, zum Schluss zu kommen. Eine Reihe Männer sammelt sich hinter dem Mikrofon. „Ich habe sowohl eine Frage als auch einen Kommentar“, sagen sie. Eine junge Frau steht auf und stellt sich an. Schließlich kommt sie dran, um ihre Frage zu stellen.
„Wie können Sie sich Ihren Optimismus bewahren?“
Ich komme danach nicht zu Sylvia durch. Es sind zu viele Leute da. Ich gehe zur U-Bahn und versuche über die Welt nachzudenken.
Sorgen eines jungen Menschen: Was hieße es, wenn nichts, was ich tue, etwas bedeutet?
Sorgen eines alten Menschen: Was hieße es, wenn alles, was ich tue, etwas bedeutet?
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Seit fast zwei Jahren ist es mir gelungen, dieser Mutter von der früheren Vorschule nicht über den Weg zu laufen. Manchmal ist das nicht so einfach. Ich muss wirklich auf der Hut sein, wenn ich mich in die Konditorei oder in den Supermarkt wage. Sie heißt Nicola und ihr Sohn unerklärlicherweise Kasper.
Sie hatte diese Art, über unsere Stadtteilgrundschule zu sprechen, wobei sie im einen Augenblick die Einwandererkinder an der Schule lobte und im nächsten von den Nachhilfelehrern sprach, die sie bezahlte, um ihren Sohn aus der Schule zu nehmen. Streber nannte sie sie. Als wären sie alle Schornsteinfeger oder Straßenverkäufer der neuesten Zeitungsausgabe.
Nicola hatte immer Karten dabei, und wenn sie ihren Sohn mit einem Snack abholte, sagte sie den Namen dafür in einer Fremdsprache. Pomme. Banane.
Eli war in sie verliebt. Er wollte, dass ich ihn schöner anzog. Er wollte, dass ich ihm die fremdsprachlichen Namen der Früchte beibrachte. Eines Tages gab ich ihm eine Orange (auf Französisch: orange). Ich sagte, er könne die Prüfung machen, wenn er wolle, aber es würde ganz sicher keine kostspieligen Nachhilfelehrer für ihn geben.
Einige Tage später schrie ich ihn an, weil er seine neue Lunchbox verloren hatte, und er drehte sich zu mir um und sagte: Bist du sicher, dass du meine Mutter bist? Manchmal kommst du mir vor, als wärst du dafür nicht gut genug.
Er war noch klein, und ich ließ es ihm durchgehen. Und jetzt, Jahre später, denke ich nur noch, was weiß ich, ein-, zweimal am Tag daran.
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Dann habe ich es endlich mit dem Meditationskurs versucht. Mein Knie schmerzte, also setzte ich mich auf einen Stuhl. Die weitgehend erleuchtete Frau saß auf einem Kissen. Ich fragte mich, was mit ihr geschehen war. Am Ende stellte sie Margot eine Frage oder das, was sie für eine Frage hielt.
„Ich hatte das Glück, viel Zeit verbunden mit der spirituellen Welt zu verbringen. Aber jetzt merke ich, dass es mir schwerfällt, in die differenzierte Welt zurückzufinden, über die Sie vorhin sprachen, in der man das Geschirr spülen und den Abfall rausbringen muss.“
Sie war ziemlich schwanger, vielleicht im sechsten Monat. Oh, mach dir keine Sorgen, dachte ich, die differenzierte Welt wird dir schon zeigen, wo der Hammer hängt.
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Eli hat die Prüfung tatsächlich bestanden. Nicht gut genug für jede weiterführende Schule der Stadt, aber gut genug für eine Schule, die in unserem Stadtteil EAGLE heißt. (Ich habe nie erfahren, was das bedeutet, aber egal, Adler fliegen hoch und weit!) Für Nicola war es allerdings die Krönung der Arbeit eines Jahres. Ich weiß noch, wie sie strahlend hereinkam, nachdem wir die Ergebnisse hatten. Das war vielleicht eine Woche, sagte sie. Wir haben gerade erfahren, dass Kasper sowohl begabt als auch talentiert ist.
„Na, so was“, habe ich gesagt.
Bald darauf kam er zum Spielen zu uns. Die beiden haben Lego gespielt, und danach liefen sie herum und sprangen auf alles Mögliche und wieder herunter. Sie waren Soldaten, Ninjas, nichts sonderlichÜberraschendes, nichts, was von verborgenen Abgründen gekündet hätte. Und dann holte Eli sein Lieblingsspielzeug, Eiswaffeln und Löffelchen aus Plastik. Er hat seinen Freund gefragt, ob sie Eisverkäufer spielen wollen, aber Kasper hat sich unter dem Tisch verkrochen und sein eigenes Spiel gespielt. Es heiße Zeit, hat er gesagt.
Was ist besser, wenn man älter ist?
Picknicks.
Picknicks?
Weil die Leute was Besseres mitbringen.
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Sylvia kommt in der Bibliothek vorbei. Sie sagt, sie habe ein Angebot für mich. Sie möchte, dass ich ihre E-Mails beantworte. Wegen des Podcast sind es in letzter Zeit so viele geworden. Sie hat sie bisher selbst beantwortet, aber es wird ihr langsam zu viel.
Ich frage sie, was für Zuschriften das sind. Alles Mögliche, sagt sie, aber jeder, der ihr schreibt, ist entweder verrückt oder depressiv. Das Geld könnten wir zweifellos brauchen, aber ich sage, ich müsse es mir überlegen. Weil es denkbar ist, dass mein Leben schon voll von solchen Leuten ist.
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Der erste Frühlingstag, verrückte Wolken, verhangene Sonne. Henry ist in seiner üblichen Dauerschleife gefangen. Das war schon immer so, aber er ist gut darin, das vor anderen Leuten zu verbergen. Er hebt es sich auf, bis wir allein sind, dann kommen seine Geständnisse.
„Ich muss immer daran denken, Lizzie.“
„Woran?“
„Was es heißen würde, wenn ich als Kind meine Seele dem Teufel verkauft hätte?“
„Du hast deine Seele nicht dem Teufel verkauft.“
„Und wenn ich es getan hätte und es nur nicht mehr weiß?“
„Du hast deine Seele nicht dem Teufel verkauft.“
„Aber wenn ich es getan hätte?“
„Na gut, Henry, aber überleg dir, was hättest du dafür bekommen?“
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Ein paar Tage später will Sylvia ihr Angebot verbessern. Sie sagt, ich könnte auch mit ihr reisen, mich um alles kümmern und ihr helfen, wenn es zu anstrengend würde. Ein Problem: In letzter Zeit waren die Zuschriften in die evangelikale Richtung abgedriftet. Lauter Fragen zu religiöser Verzückung mischten sich unter die über Windturbinen und Kohlenstoffsteuer. „Kein Problem“, sagte ich zu ihr. „Überleg dir, womit es anfing.“ Ihr Fehler war gewesen, ihr Programm Komme, was wolle zu nennen. Damit lockt man die Endzeitapologeten an.
Ich blättere in einer Mappe voller Fragen, die ihr geschickt wurden. Sie hat sie alle ausgedruckt wie ein älterer Mensch, was sie vermutlich ist.
Ist der Insectothopter etwas wie AlphaCheetah? Hat das Aussterben etwas zu bedeuten, wenn wir wissen, wie die Bibel endet? Wer hat die Kondensstreifen erfunden? Wie wird die letzte Generation wissen, dass sie die letzte sein wird?
Sie kommt mir erschöpft vor, mit leicht aufgelösten Gesichtszügen. Sie ist auf dieser endlosen Vortragsreise gewesen. Ich sollte ihr helfen. Ich sage: Ja, okay, warum nicht, klar.
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Das Problem mit Elis Schule ist, dass sie menschliche Maßstäbe übersteigt. Fünf Stockwerke. Ein Dutzend erste Klassen. Wenn es klingelt, lassen die Lehrer die Kinder in kleinen geraden Linien hinausmarschieren. Der Spielplatz ist groß, aber er grenzt an die große Straße. Im Zaun gibt es ein Loch, wo der Maschendraht runtergebogen ist, und jedes Mal, wenn ich die Stelle sehe, durchfährt mich die Angst. Das ganze Jahr saß ich in einem deprimierenden Ausschuss, in dem es darum ging, dieses Loch reparieren zu lassen. Ich will nicht ins selbe Horn stoßen, aber glauben Sie mir, ich arbeite weniger als die eingewanderten Eltern.
Also schreibe ich einen Brief nach dem anderen an die Behörde. Wir mussten feststellen … Kein Ergebnis. Ich habe gehört, dass ein Ausschuss ein ganzes Jahr lang versucht hat, Sämlinge in den Kindergartenräumen zuzulassen. Am Ende Absage, nein. Nicht erlaubt. Aus Sicherheitsgründen, hieß es.
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In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass ich mich anziehe wie die Kids auf dem Campus oder sie sich vielleicht anziehen wie ich. Ich habe mich lange gleich gekleidet, aber irgendwie ist diese Mode wieder da. Inzwischen bin ich alt genug, dass ich manchmal darüber nachdenke, wie ich mich lächerlich mache, indem ich etwas tue, was früher niemandem aufgefallen wäre. Anfang des Jahres bin ich dann einkaufen gegangen und habe mir neue, schlichtere Kleidung gekauft. Henry sagt, ich würde mich anziehen wie ein kleiner unauffälliger Vogel.
Frage: Wie zeigt sich Gottes Güte sogar in der Körperbedeckung von Vögeln und wilden Tieren?
Antwort: Kleine Vögel, die zierlichsten, haben dichteres Gefieder als die widerstandsfähigeren. Tiere in kalten Regionen haben dichteres, dickeres Fell als solche, die in tropischer Hitze leben.
Ich muss für die Reise packen, aber irgendetwas summt im Zimmer herum. Ich kann es nicht sehen, aber ich höre, wie es sich gegen die Fensterscheibe wirft. Vielleicht eine Biene oder eine Wespe. Drüben an den Jalousien, vermute ich. Ich fange es mithilfe einer Tasse und eines Plastikkärtchens ein.
In der Tasse ist es still. Schwer zu glauben, dass es nicht Freude ist, wie das Insekt wegfliegt, als ich es aus dem Fenster entlasse.
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Es ist noch hell, als wir aus dem Kino kommen. Henry will sich mit Catherine treffen. Er soll ihre Freunde aus der Agentur kennenlernen. Sie nennt sie die Kreativen, weil sie das nicht ist; sie gehört zu den Anzugträgern. Mir gefällt, wie das klingt. Als könnte es irgendwann zu einer Auseinandersetzung darüber kommen.
Aber ich kann sehen, dass Henry nervös ist. „Vergiss nicht, dass du nicht du selbst sein sollst“, sage ich. Er lacht ein wenig. Ich sehe zu, wie er weggeht, die Hände in den Taschen und vorgebeugt. Haltet zusammen, ihr beiden. Das hat meine Mutter immer gesagt.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich ein Abendessen für ihn gemacht habe. Ich nahm das Hühnchen aus dem Kühlschrank und schälte die eklige glitschige Plastikverpackung ab. Rosa Fleischsaft spritzte überallhin, aber ich wischte ihn mit einem Schwamm auf. Dann legte ich das Hühnchen in eine Pfanne und goss eine Flasche Sojasoße darüber. Eine Viertelstunde später haben wir es gegessen.
Alles
Materielle Immaterielle
Belebte Unbelebte
FühlendeFühllose
Ich höre mir auf dem Weg nach Hause Komme, was wolle an. In diesem Abschnitt geht es um die Tiefenzeit. Der interviewte Geologe spricht schnell und handelt Millionen und Millionen Jahre in einem Atemzug ab. Das Zeitalter der Vögel sei vorüber, sagt er. Auch das der Reptilien. Und das der Blühpflanzen. Holozän war der Name unseres Zeitalters. Holozän, was bedeutet „heute“.
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Erste Veranstaltung mit Sylvia. Was ich dazu sagen kann: Sehr viele Leute, die keine amerikanischen Ureinwohner sind, reden über amerikanische Ureinwohner.
Das Gebiet der Shuswap war für die lokalen Stämme ein schönes und fruchtbares Land. In den warmen Monaten gab es Lachs und Wild und in den kalten Knollen und Wurzeln. Die Stämme, die dort lebten, entwickelten verschiedene Technologien, um alle Ressourcen zu nutzen. Viele Jahre lang lebten sie gedeihlich auf ihrem Land. Doch die Älteren merkten, dass die Welt der Stämme zu voraussehbar geworden war und ihr Leben keine Herausforderungen mehr bot. Sie berieten sich, dass ein Leben ohne Herausforderungen keinen Sinn mehr hatte. Und nach ein paar Jahrzehnten lautete ihr Rat, das ganze Dorf an einen anderen Ort zu verlegen. Sie gingen alle zu einer anderen Stelle des Shuswap-Gebiets, und indem sie ein neues Leben anfingen, fanden sie wieder zu seinem Sinn. Es gab neue Flüsse zu erkunden und neue Wildfährten, die man finden musste. Jeder fühlte sich verjüngt.
Diese Frau hat etwas Ähnliches getan. Sie hat lange in San Francisco gelebt und ist nun nach Portland gezogen.
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Manchmal würde ich meine Chefin gerne über kleine Dinge befragen, die mir in der Bibliothek auffallen. Sie arbeitet hier seit zwanzig Jahren. Sie kennt alles und jeden. Wie kommt es also, dass heute drei verschiedene Leute herkamen und Flyer über Bienenzucht anbringen wollten? Aber diesmal zuckt Lorraine nur mit den Schultern. „Manche Sachen liegen einfach in der Luft und fliegen herum“, sagt sie, und ich denke an Blätter, etwas, was fällt und sich unbemerkt ansammelt.
Auch in der Luft: eine Mitarbeiterin, die sich angewöhnt hat, in ihrer Handtasche Röntgenaufnahmen herumzutragen. Eine Art medizinischer Irrtum. Ungeschehen kann man es nicht machen, aber darüber sprechen.
Und dann gibt es den Professor, der immer bewundert wurde und auf Anhieb einen Lehrstuhl erhielt. Auf einmal ist er kein Trinker mehr, sondern ein Säufer. Letzte Woche musste man ihn von seiner eigenen Geburtstagsparty raustragen und in ein Taxi setzen. Der Fahrer musste im Voraus bezahlt werden, sonst hätte er ihn nicht mitgenommen. Und das war nicht das erste Mal, sagte Lorraine. Und bald bin vielleicht ich an der Reihe.
Ich habe eine stubengelehrte abergläubische Vorstellung von meinem Geburtstag. Ich lese gerne, was Virginia Woolf in ihren Tagebüchern über ihr Alter schrieb, bevor ich selbst dieses Alter erreiche. Im Allgemeinen ist es inspirierend.
Zu anderen Zeiten …
Das Leben ist, wie ich schon seit meinem 10. Lebensjahr behaupte, schrecklich interessant – es ist eher schneller und intensiver mit 44 als mit 24, auswegloser würde ich sagen, so wie der Fluss auf die Niagarafälle zuschießt: meine neue Sicht des Todes; lebendig, positiv, wie alles andere auch, aufregend; und von großer Bedeutung – als Erfahrung betrachtet.
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Ich kaufe ein Teleskop, weil ich sehen will. Ich kaufe Laufschuhe, weil ich laufen will. Dieser Block riecht nach Müll. Nach links abbiegen auf grünere Straßen. Ja, besser. Ich will den ganzen Weg bis zum Park laufen, aber die Schuhe taugen nichts.
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Ich erzähle Ben nicht viel von diesen Mails. Die Art der Fragen würde ihm nicht gefallen. Es macht ihm schon Sorgen, dass die Evangelikalen alles beherrschen wollen. Natürlich insgeheim, und die Juden stehen für Jesus.
Da gibt es den einen, der sich am Wochenende immer vor Dunkin’ Donuts aufbaut. „Entschuldigen Sie, wussten Sie, dass Jesus Jude war?“, fragt er, wenn wir vorbeikommen. „Klar“, sagen wir.
Wir haben auch die gute Botschaft gehört. Wie jeder auf dem ganzen Planeten, sogar die Jäger und Sammler tief im Regenwald, die keinen Kontakt wollen. Ich wünschte, ausnahmsweise würde jemand das mal sagen und die gute Botschaft würde sich als etwas anderes herausstellen.
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Am Kühlschrank klebt ein Zettel, auf dem steht, dass wir keine Milch, keinen Käse, kein Brot und kein Klopapier mehr haben. Ich sage Eli, dass ich ihn zum Abendessen in das Imbisslokal mitnehme. TIERE VERBOTEN steht auf dem Schild vor dem Restaurant. „Aber wir sind Tiere, oder?“ „Sei nicht so pedantisch“, sage ich zu ihm.
Eli erklärt, dass er beschlossen habe, zwei Kinder zu haben; nein, korrigiert er sich, ein Kind, weil das einfacher sei. Wir bestellen getoastete Käsesandwiches und belauschen die Leute am Nachbartisch. „Ist er dein Seelenverwandter?“, fragt die Frau ihre Freundin. „Schwer zu sagen“, sagt sie.
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Wann kommen die Tage der Rechenschaft? Hat Noahs Flut die ganze Erde bedeckt oder nur die Stellen, wo Menschen lebten? Können Haustiere von Christus gerettet werden und in den Himmel kommen? Wenn nicht, was geschieht dann mit ihnen?
Über das letzte Problem haben wir uns die meisten Gedanken gemacht. Wir hatten eine Katze, und unsere Mutter hat uns erlaubt, gemeinsam einen Namen für sie zu finden. Das Ergebnis war Stacy Stormbringer, und wir haben sie abgöttisch geliebt. Aber dann haben wir im Bibelcamp diesen Film gesehen. Der Vater wurde entrückt, und alles, was von ihm blieb, war sein elektrischer Rasierapparat, der noch lief. Unsere Mutter war eindeutig in Sicherheit, aber wir etwa auch? Was wäre, wenn wir nach Hause kämen und niemand wäre da? Bliebe uns wenigstens Stacy Stormbringer?
Ins Jenseits versetzt, nannten sie es. Als wäre Gott ein Schullehrer.
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Henry und Catherine kommen zum Abendessen. Sie bringt riesengroße Sonnenblumen mit, und ich versuche eine passende Vase zu finden. All die Bücher machen sie offenbar nervös. „Hast du die alle gelesen?“, fragt sie mich. Später fängt sie ein Gespräch darüber an, dass wir ihrer Meinung nach in beispiellosen Zeiten leben würden.
Ich sehe, wie Ben zögert. Er hat ein kompliziertes Verhältnis zu modernen Dingen. Einerseits entwickelt er Bildungsvideospiele. Andererseits hat er einen Doktor in Philosophie. Zwei schlechte Jahre auf Arbeitssuche, und dann gab er auf und lernte zu programmieren.
Ich beschließe, für ihn zu antworten. Ich erzähle irgendeine unausgegorene Geschichte über Lukrez. Der lebte im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, beschwerte sich aber darüber, dass in seiner Zeit zu viel sinnlose Hektik herrschte. Im einen Augenblick schreckliche Angstzustände! Im nächsten Apathie! Catherine sieht Henry an und dann mich. „Ich meinte nur die Politik“, sagt sie.
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Manchmal hat Mr Jimmy kleine Anwandlungen von Redseligkeit. Heute erzählt er mir, wie er den alten Wagen seines Sohns über den Fluss zu einem Schrottplatz gebracht hat, wo riesige Maschinen ihn zusammengedrückt haben. „Das hätten Sie sehen sollen“, sagt er. Er sagt, er hätte versucht, ein kleines liegen gebliebenes Metallstück aufzuheben, aber es war so schwer, dass es sich nicht bewegen ließ. „Und diese Maschinen haben es aufgehoben wie eine Feder!“ Ich sage ihm, dass eines Tages all diese Maschinen kommen und uns alle zusammendrücken werden. Das gefällt ihm. Er lächelt ein wenig. „Als würde eine große Klaue ankommen“, sagt er.
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Sylvia nimmt mich zu einem mondänen Dinner für Leute aus Silicon Valley mit. Manche von ihnen finanzieren ihren Podcast, und sie hofft, sie als Unterstützer für eine neue Stiftung zu gewinnen, die sie gegründet hat. Die halbe Erde soll renaturiert werden.
Aber solche Dinge interessieren diese Männer nicht. Sie halten die Wiederbelebung ausgestorbener Arten für eine bessere Idee. Sie forschen bereits nach der Gentechnik, die dafür erforderlich wäre. Für Wollhaarmammuts interessieren sie sich besonders. Und für Säbelzahntiger.
Irgendwie werde ich einen halben Tisch von ihr entfernt platziert. Ich bin diesem jungen technologiebegeisterten Burschen neben mir ausgeliefert. Er erklärt mir, dass die gegenwärtige Technologie niemanden mehr verstören wird, sobald die Generation, die nicht damit aufgewachsen ist, endlich verstummen wird. Aussterben wird, will er offenbar sagen.
Er ist davon überzeugt, dass alle, die nervös macht, was verschwindet, irgendwann selbst verschwunden sein werden, und dass dann niemand mehr darüber reden wird, was verloren ging, sondern nur darüber, was gewonnen wurde.
Aber Moment mal, das klingt für mich nicht gut. Heißt das nicht, falls wir irgendwo landen, wo wir gar nicht hinwollten, dass wir dann nicht mehr zurück können?
Das nimmt er nicht zur Kenntnis, sondern labert mich voll und listet alles auf, womit er und seinesgleichen die Welt verändert haben und die Welt verändern werden. Dass es bald computergesteuerte Häuser geben wird, dass bald alle Gegenstände unseres täglichen Lebens mit dem Internet der Dinge verbunden sein werden, bla, bla, bla, und dass wir über die sozialen Medien mit allen anderen Menschen der Welt kommunizieren werden. Er fragt mich, was meine Lieblingsplattformen sind.
Ich sage, dass ich auf keiner bin, weil sie mich zu zappelig machen. Oder nicht unbedingt zappelig, sondern eher wie eine Ratte, die nicht aufhören kann, einen Hebel zu drücken.
Feines Leckerli! Kein feines Leckerli! Bitte, bitte, meine Süße!
Er schaut mich an, und ich kann sehen, wie er sich all die großen und kleinen Wege ausrechnet, auf denen ich versuchen könnte, die Zukunft zu verhindern. „Na ja, viel Glück damit, nehme ich an“, sagt er.
Sylvia erzählt mir später, dass es an ihrem Ende des Tischs noch viel schlimmer war. Der Typ in der Gore-Tex-Jacke redete unablässig über Transhumanismus und darüber, wie wir uns schon bald von den lästigen Körpern befreien und Teil der computergenerierten Einzigartigkeit werden können. „Diese Leute sehnen sich nach der Unsterblichkeit und können nicht mal zehn Minuten auf eine Tasse Kaffee warten“, sagt sie.
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Ein neuer Teilnehmer des Meditationskurses erzählt eine Geschichte über seinen Aufenthalt in einem Mönchskloster. Er sagt, die Atmosphäre sei unglaublich gewesen, anders als alles, was er bis dahin erlebt hatte. Margot sieht ihn an. „Nur die Leute, die zu Besuch im Kloster sind, empfinden etwas. Die Leute im Kloster empfinden gar nichts“, sagt sie. Ich kann mir nicht helfen. Ich muss lachen. „Sitz gerade“, sagt sie zu mir, und ihre Stimme ist wie ein harter Stock.
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Okay, okay, ich habe allem Anschein nach mein Knie ruiniert mit meinem dauernden Herumstreifen. Letzte Nacht konnte ich vor Schmerzen nicht schlafen. Ben besteht darauf, dass ich mich diese Woche untersuchen lasse. Aber vorher habe ich ein paar Fragen. „Und wenn es Gicht ist?“ „Es ist ganz sicher keine Gicht“, sagt er. „Könnte es Arthritis sein? Dafür bin ich noch zu jung, oder?“ Er nickt. „Du bist dafür viel zu jung, und außerdem fängt das viel langsamer an.“
In dieser Nacht träume ich, dass ich in einem Supermarkt bin. Grauenhafte Musik. Erbarmungslose Beleuchtung. Ich gehe die Gänge rauf und runter und versuche das Licht zu dämpfen, aber ich finde den Schalter nicht. Ich wache enttäuscht auf. Was ist aus den flüchtigen Träumen geworden?
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Unterwegs stellt Mr Jimmy mir Fragen. Worum geht es in diesen Fernsehshows in Wirklichkeit? Gibt es eine Botschaft to-go? Nein, sage ich zu ihm. Aber eigentlich verhält es sich genau so.
Zuerst nahmen sie sich die Korallen vor, aber ich sagte nichts, weil ich keine Koralle war …
In der Klinik macht der Arzt sich an meinem Knie zu schaffen. Er fragt mich, ob ich noch andere Beschwerden habe. „Wie zum Beispiel?“ „Gicht?“ „Wie soll ich wissen, ob ich Gicht habe?“, sage ich, und meine Stimme geht dabei seltsam hoch. „Ach, das würden Sie merken“, sagt er. Er schickt mich zum Röntgen.
Die Radiologin ist älter als ich, unverdrossen heiter und macht Scherze darüber, dass sie kaum noch hochkommt, wenn sie das Gerät wieder in Position gebracht hat. „Lachen Sie nicht über die kaputte alte Technikerin“, sagt sie. „Mir geht es gut. Lachen Sie mich nicht aus.“ Ich mache mir Sorgen, dass sie etwas für mich bastelt, etwas, das mir bei Widrigkeiten und Beschwerden helfen soll. „Schwanger können Sie nicht sein“, sagt sie. Nicht als Frage. Sie legt mir trotzdem die schwere Bleischürze um den Bauch.
Ich stelle mich auf drei verschiedene Arten hin. Die letzte ist wie eine Yogaposition, das schmerzende Bein vorgebeugt, das andere gerade. Eine Welle von Schmerzen und Übelkeit überkommt mich. Ich richte mich auf und blinzle heftig. Sie steht noch immer hinter der Glasscheibe und redet auf mich ein. Sie schickt mich in das kleine Wartezimmer zurück.
Nach einiger Zeit kommt der Arzt zu mir. „Gute Nachrichten“, sagt er. „Es gibt nichts, über das Sie sich Sorgen machen müssen.“ Ich gehe mit einem Blatt Papier nach Hause. Osteoarthritis, leichte Gelenkdegeneration, steht darauf. Ich lese die Diagnose in der U-Bahn.
Osteoarthritis entwickelt sich langsam, und die Schmerzen können mit der Zeit schlimmer werden.
Schon gut, okay, immer mit der Ruhe. Als ich Ben später die Geschichte meiner Gicht erzähle, klingt meine Stimme nicht so munter wie beabsichtigt. Ich mache einen kleinen Scherz, und das Zimmer dreht sich nicht mehr. Aber ich habe seine Augen gesehen. Ich weiß, woran er sich erinnert. An den Zeitpunkt, als die Schnauze unserer Hündin grau wurde.
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Henry scheint nicht zu merken, dass ich etwas hinke. Er schildert mir lang und breit den neuen Job, den Catherine ihm besorgt hat. Er schreibt jetzt Texte für eine schäbige Grußkartenfirma. Die Kartentexte sind sehr ausführlich und beziehen sich auf alles, was der Empfänger für den Absender getan hat.
Für eine Stieftante, die immer da war …
Für einen Großcousin im Krankenhaus …
Manchmal reimen sich die Texte, aber meistens sind es freie Verse. Henry wird nach Wörtern bezahlt, also je blumiger desto besser. Unabhängig davon hat er bereits mit seinem Chef über den Unterschied zwischen Gefühl und Gefühlsduselei gestritten.
Er ist nun mal dein Chef, sagt Catherine.
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Am Morgen kommt der Adlatus vorbei, um hallo zu sagen. Er sieht blass aus. Ich mache mir Sorgen, dass er wieder sein Blutplasma verkauft. Er erzählt mir, dass sein Klassenzimmer gestern abgeschlossen war und er eine Stunde im Flur warten musste, bis endlich jemand kam und es aufschloss. Bis dahin waren seine Schüler alle gegangen. Aber er sagt, er könne mit solchen Dingen jetzt besser umgehen. Anfangs war es nervtötend, irgendwo zu arbeiten, wo niemand sich an deinen Namen erinnert, wo man den Sicherheitsdienst rufen muss, um in das eigene Zimmer zu kommen, doch in dem Maß, in dem das Alltagsleben immer fragmentierter und verwirrender wird, mache ihm das alles immer weniger aus, sagt er.
Frage: Worin besteht die Philosophie des Spätkapitalismus?
Antwort: Zwei Wanderer sehen einen hungrigen Bären vor sich. Einer von ihnen holt seine Laufschuhe aus dem Rucksack und zieht sie an. „Du kannst nicht schneller laufen als der Bär“, flüstert der andere. „Ich muss bloß schneller laufen als du“, sagt sein Freund.
Als ich nach Hause komme, sieht Eli sich Interviews mit Leuten an, die ohne Rückflugticket zum Mars fliegen wollen. Der, der gerade spricht, hat eine nagelneue Methode entdeckt, die noch nie zuvor benutzt wurde, um seine Frau und seine Kinder zu verlassen. Es ist natürlich nicht einfach zu beschließen, die eigene Familie für immer zu verlassen und die künftigen Enkel nie kennenzulernen. Aber ihn fasziniert der Gedanke, in die Geschichte einzugehen und Dinge zu sehen, die noch niemals jemand zu sehen bekommen hat. Seine Frau und seine Kinder sind von dem Projekt nicht begeistert. Sie fürchten, im Fernsehen sehen zu müssen, wie er stirbt.
Wenn ich einatme, weiß ich, dass mir beschieden ist, alt zu werden.
Wenn ich ausatme, weiß ich, dass ich das Alter nicht verhindern kann.
Wenn ich einatme, weiß ich, dass mir beschieden ist, krank zu werden.
Wenn ich ausatme, weiß ich, dass ich Krankheiten nicht verhindern kann.
Wenn ich einatme, weiß ich, dass mir beschieden ist zu sterben.
Wenn ich ausatme, weiß ich, dass ich den Tod nicht verhindern kann.
Wenn ich einatme, weiß ich, dass ich eines Tages alles und jeden, was ich liebe, loslassen muss.
Wenn ich ausatme, weiß ich, dass ich sie nicht mitnehmen kann.[i]
Ach, komm schon, Mann. Alles und jeden, was ich liebe? Gibt es vielleicht ein Mantra für Anfänger?
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Der Drogendealer, der in 5 C wohnt, überrascht mich immer wieder. Er ist groß und hat schläfrige Augen, aber blitzschnelle Reflexe. Heute ist mir eine Papiertüte mit meinen Einkäufen zerrissen, und er fing die Ölflasche auf, bevor sie zu Boden fiel. Er hat eine Tochter im Säuglingsalter, die nicht bei ihm wohnt, einen wunderschönen Hund und eine kleine gezackte Narbe am Hals. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er in dieser Gegend aufgewachsen ist, und er hat gelächelt und den Kopf geschüttelt. Als Kind bin ich herumgestreift, hat er gesagt. Mal hierhin, mal dahin.
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Eine andere Konferenz, diesmal tief im Landesinneren. Sylvia hält einen Vortrag, während ich in der ersten Reihe sitze und wie eine richtige Assistentin ihre Handtasche halte. Sie spricht über ein Buch mit dem Titel Natur und Stille. Es gibt nichts Höheres oder Niedrigeres, sagt sie. Alles ist gleich entwickelt.
Sylvia sagt dem Publikum, der einzige Grund dafür, dass der Mensch sich für die Krönung der Evolution hält, ist, dass wir uns entschieden haben, gewisse Dinge anderen gegenüber zu privilegieren. Privilegierten wir zum Beispiel den Geruchssinn, müssten Hunde als entwickelter gelten. Schließlich haben sie an die dreihundert Millionen Geruchsrezeptoren in der Nase, verglichen mit unseren sechs Millionen. Privilegierten wir die Langlebigkeit, wären es die Grannenkiefern, die mehrere Tausend Jahre lang leben können. Und man könnte sogar argumentieren, dass Bananenschnecken uns sexuell überlegen sind. Sie sind Hermaphroditen, die sich bis zu dreimal am Tag paaren können.
Hinterher werden viele Fragen gestellt. Manche sind freundlich, andere nicht. Aber Sylvia vertritt entschieden ihre Auffassung, dass Menschen nichts besonders Spezielles sind. „Das Einzige, was wir eindeutig besser können als andere Tiere, ist schwitzen und werfen“, sagt sie.
Jetzt sitze ich auf einer Parkbank und bemerke ein Salatblatt von einem Sandwich auf dem Boden. Ich räume es weg und ärgere mich dann darüber. Auf dem Rückweg fällt mir weder auf dem Boden noch über mir etwas auf. Vielleicht fiel Licht grünlich durch die Blätter. Unmöglich, es genau zu wissen.
Was ist der Nano-Kolibri? Was ist der Robofisch?
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Als ich nach Hause komme, ist die Hündin in der Küche und zerbeißt einen rohen Knochen zu schlabbrigen Stückchen. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen zwei Namen hat. Einer ist der Name, mit dem es in der Welt bekannt ist, und der andere ist ein geheimer Name, den es nicht verrät. Aber wenn man es bei diesem Namen ruft, muss es antworten. Das ist der Name, mit dem das Geschöpf im Garten Eden bekannt war. Später versuche ich eine Zeit lang, den geheimen Namen der Hündin zu erraten, aber sie lässt sich nicht darauf ein.
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Die erste Vorlesung in diesem Jahr hält der inzwischen nüchterne Englischprofessor. In der Reha hat er Gedichte geschrieben. Eines der Gedichte ist aus der Perspektive eines Huts, den eine schöne Frau trägt. Nachdem er es vorgelesen hat, richtet er ein paar Bemerkungen an seine aufmerksamen Studenten. „Ich habe schon über einen Hut geschrieben, bin aber noch nie ein Hut gewesen“, sagt er. Später, als wir die nicht verkauften Bücher einpacken, finde ich eine Karte, die jemand für ihn hinterlassen hat.
Sie haben diese Karte erhalten, weil Ihr Privileg nicht zu übersehen ist.
Ihre Worte/Handlungen flößen anderen Unbehagen ein.
Überprüfen Sie Ihr Privileg.
☑ Weiß
☑ Heterosexuell
☑ Männlich
☑ Neurotypisch
☑ Sozioökonomisch
☑ Bürger
„Was soll das Ihrer Meinung nach bedeuten?“, fragt er mich.
Die Zukunft?
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Und der Fachmann für einsame Herzen will die Regierung schrumpfen. Der Wunsch nach einer kleineren Regierung ist natürlich nichts Neues. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat ein Beamter der U. S.-Regierung vorgeschlagen, das Patentamt abzuschaffen. Alles Wichtige sei bereits erfunden worden, sagte er.
Ben liest ein Buch über die Vorsokratiker. Ich war schon immer besessen von verschollenen Büchern, von all denen, die nur halb geschrieben waren oder in Fragmenten zusammengesetzt wurden. Und heute finde ich in meinem Lunch ein Sandwich, ein Plätzchen und eine Notiz von ihm.
Anscheinend gibt es Farbe, anscheinend Süße, anscheinend Bitterkeit, tatsächlich nur Atome und die Leere.
(Demokrit hat siebzig Bücher geschrieben. Nur Fragmente sind erhalten.)
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Ich muss diesen Koffer endlich auspacken. Willst du mir damit etwas sagen?, fragte Ben, als er letzten Abend wieder darüberstieg. Wir haben diese kleinen „Willst du mich verlassen?“-Scherze. Der älteste lautet:
Bin gleich zurück, gehe nur Zigaretten kaufen, sagt der Mann zu seiner Frau.
(Jahre vergehen.)
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Ich schwöre, dass die Hippie-Briefe hundertmal öder sind als die der Endzeitpropheten. Es geht in ihnen nur um Komposttoiletten und Wasserschutz und Elektroautos und darum, wie man den Planeten schont und sieben Generationen im Voraus denkt. „Umweltschützer sind so langweilig“, sage ich zu Sylvia. „Ich weiß, ich weiß“, sagt sie.
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Draußen vor der Bibliothek redet die Frau, die immer auf der Bank sitzt, über Thanksgiving. Sie hat genug davon, sie will nichts mehr davon wissen, sagt sie zu jemandem. Es ist Mai, aber ich denke, es ist schlau von ihr, langfristig zu planen. Sie hat lange graue Haare und eine Aktentasche voller Papiere. Es gibt verschiedene Geschichten über ihre Vergangenheit. Beliebt ist die, sie sei eine Doktorandin, die immer noch an ihrer Dissertation sitzt. Aber meine Chefin sagt, sie habe früher in der Cafeteria gearbeitet. Ich versuche, mich unbemerkt an ihrer Bank vorbeizuschleichen, aber sie unterbricht ihr Gespräch, um mich nach Geld zu fragen. Ich habe den üblichen Dollar nicht dabei, sondern nur ein paar Münzen und einen Zwanziger. Einmal war ich so verwirrt, dass ich ihr einen Zehner gegeben habe, und seitdem ist sie immer von mir enttäuscht. Ich krame etwas Kleingeld aus der Tasche. Sie wirft einen prüfenden Blick auf die Münzen. Gott segnet mich sowieso.
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Eines Abends ruft Bens Mutter aus Florida, anders gesagt, aus dem Paradies an. Sie will dort beerdigt werden, sagt sie. Und seinen Vater hat sie auch dazu überredet. Aber es gibt ein Problem. Sie haben bereits neben ihrer alten Synagoge Gräber gekauft. Könnten wir sie vielleicht für sie an jemand anderen verkaufen? „Ich weiß nicht, wie wir das anstellen sollten, Mom“, sagt er. Sie bietet an, dass wir sie selbst haben können, aber Ben will nicht in Hackensack, New Jersey, beerdigt werden.
Ich denke an die Zeit, als Sylvia diesen berühmten Zukunftsforscher interviewt hat. Sie fragte ihn, was als Nächstes zu erwarten sei, und er wiederholte seine bekannteste Voraussage: Alte Leute in großen Städten, die sich vor dem Himmel fürchten.
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Manche Leute bei diesem privaten Abendessen haben angefangen, in schwimmende Städte zu investieren, die man in internationalen Gewässern ankern lassen kann und die von keinen lästigen Regierungen überwacht werden, aber unsere Gastgeber sind sanftmütigere Menschen, die geduldig zuhören, wie sie sagen. Sie machen sich Notizen, während Sylvia spricht, aber am Ende haben sie doch eine quälende Frage: Welcher wäre der sicherste Ort? Niemand, mit dem sie sich beraten haben, konnte bisher eine befriedigende Antwort geben.
„Aber Sie haben doch alle interviewt. Gibt es irgendeinen Konsens? Irgendwelche Übereinstimmungen zwischen diesen Wissenschaftlern und Journalisten? Wir fragen nicht unseretwegen, aber wir haben Kinder, verstehen Sie.“
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Catherine hat ein gesundes vegetarisches Abendessen zubereitet, um Henrys Einzug bei ihr zu feiern. Er hat seine Wohnung verloren, weil der Sohn des Vermieters dort einziehen will. Hätte er ihr das früher gesagt, hätte sie ihm geholfen, sich dagegen zu wehren, aber er hat bis zur letzten Minute gewartet.
Ich verstehe sein Widerstreben. Sobald man Catherine von einem Problem erzählt, beginnt sie zu handeln und hört erst auf, wenn das Problem gelöst ist. Aus diesem Grund lässt mein Bruder manchmal ein Problem eine Zeit lang auf sich beruhen, bevor er ihr davon erzählt, damit er sich auf die Wucht ihrer Mobilmachung vorbereiten kann.
Aber es ist wahrscheinlich genau richtig, denn jetzt steht er hier, mit klarem Blick und frisch rasiert, und serviert uns etwas aus Bulgur. Es gibt Platzdeckchen und sogar Kerzenhalter. Ich will einen Scherz darüber machen, wie er in der Welt vorankommt, aber ich lasse es bleiben. All diese Ordnung tut ihm vielleicht gut.
Zum Dessert serviert uns Catherine Früchte mit ungesüßter Schlagsahne. Mein Sohn zerreißt seine Serviette in immer kleinere Fetzen. „Was soll ich hier sonst machen?“, flüstert er. Henry hat es gehört und beugt sich zu ihm, um ihm leise etwas ins Ohr zu sagen. Eli lächelt.
„Was hast du zu ihm gesagt?“, fragte ich meinen Bruder später. „Nichts“, sagt er.
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Diese Frau ist vor Kurzem fünfzig geworden. Sie erzählt mir von ihrer Verschwommenheit, dass man sie kaum wahrnimmt. Sie nimmt an, dass sie nicht mehr so hübsch ist – dicklich, die Haare etwas ergraut. Was ihr aufgefallen ist, was sie ein wenig erschreckt, verrät sie mir, wenn sie außerhalb des Arbeitszusammenhangs einem Mann begegnet, hält er nicht viel von ihr. Er sieht über ihre Schulter oder schanzt sie einer anderen Frau ihres Alters zu. „Ich muss inzwischen so vorsichtig sein“, sagt sie.
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Eli und ich sehen uns seine Hausaufgaben an, hauptsächlich fotokopierte Arbeitsblätter. Sein Schulbuch über Sozialkunde ist zwanzig Jahre alt. Es heißt Länder und Menschen. „Wir sagen immer amerikanische Ureinwohner“, sagt Eli. „Nie Indianer. Ich dachte, Amira wäre eine Indianerin aus Indien, aber sie kommt aus Bangladesch.“
Das ist das Mädchen, in das er verliebt ist. Beide sind EAGLEs. Ich sage ihm, dass in den Berichten der Kolonisten aus der Neuen Welt behauptet wurde, es gebe Spinnen, die so groß seien wie Katzen, und Vögel, so klein wie Fingerhüte. Sie schrieben, die Flora und Fauna sei so unglaublich, dass sie nicht wagten, sie zu beschreiben. Aber das interessiert ihn nicht. „Ja, Amira kommt aus Bangladesch“, sage ich, wieder auf sicherem Terrain.
Abends gibt ein Fachmann im Fernsehen Ratschläge, wie man Katastrophen überleben kann, von Natur oder von Menschenhand ausgelöste. Er sagt, es sei nicht wahr, dass Leute in Notsituationen in Panik gerieten. Achtzig Prozent würden einfach erstarren. Das Gehirn weigert sich zu begreifen, was geschieht. Das nennt man Ungläubigkeitsreaktion. „Wer lebendig ist, bewegt sich“, sagt er.
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Draußen vor der Bäckerei steht Nicola. Sie telefoniert, aber sobald sie aufsieht, wird sie mich erkennen. Ich flitze gerade noch rechtzeitig zur Tür hinaus. Sie hat ihr Telefon eingesteckt und schreitet entschlossen die Straße hinunter. Aber im Werkzeugladen bin ich in Sicherheit.
Ein Fehler, wie sich zeigt, denn der Ladeninhaber will mir alles über die alten Zeiten in Flatbush erzählen. Alles hat sich verändert. Die Nachbarschaft hat sich verändert. Neue Leute kommen von anderswoher. Sie verstehen nicht, wie man Dinge richtig angeht. Sie haben keine Geduld. Manchmal wissen sie nicht den Namen des Werkzeugs, das sie kaufen wollen.
Er beschreibt ohne Unterlass mich und meinesgleichen. Möglicherweise muss ich etwas kaufen, um hier rauszukommen. Ich bin schon einmal in eine Falle gelaufen, als ich blaues Flatterband kaufen wollte. Und dieser Mann erzählt die niederschmetterndsten Geschichten; selbst wenn man denkt, so etwas könne doch gar nicht wahr sein, macht er einen fertig.
Und jetzt erzählt mir dieser Mann, wie sehr er seinen Laden liebt, dass er jeden Nagel und jede Schraube darin auflisten könnte. Seit seiner Kindheit habe er ihren Anblick geliebt und wie sich ein gutes Werkzeug in der Hand anfühlte. Aber die Leute, die heutzutage kommen, sind die Großmärkte gewohnt. Der Service interessiert sie nicht. Und ihre Vorstellung vom Inventar ist unrealistisch. „Wenn Sie eine Filiale von Home Depot suchen, dann gehen Sie da hin!“, sagt er.
Ich kaufe den billigsten Hammer in seinem Sortiment, und er lässt mich gehen.
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Es dämmert schon, als Henry und ich den Park verlassen. Ein Wagen überfährt uns fast. An der Ampel stehen wir neben ihm. Mein Bruder geht zur Fahrerseite. „Meine Dame, Sie hätten uns fast überfahren“, sagt er zu ihr. Aber sie würdigt ihn keines Blicks. „Sie und Ihr wertvolles Leben“, sagt sie.
Später erzähle ich Margot davon.
„Sie sprechen viel von Ihrem Bruder“, bemerkt sie.
„Wir haben eine enge Beziehung.“
„So würde ich es nicht ausdrücken.“
„Sondern?“
„Distanzlos“, sagt sie.
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Die Tochter dieser Frau war drogensüchtig. Die Mutter hatte immer Narcan bei sich für den Fall, dass sie sie wiederbeleben musste. Und dann kam sie lange nicht mehr her. Jetzt erzählt sie mir von dem Tag, an dem ihre Tochter sich eine Überdosis verpasste. „Ich ging zum Lebensmittelladen“, sagt sie. „Ich ging für eine Minute zum Lebensmittelladen.“ Sie will ihre Mahngebühren bezahlen, die seit Monaten aufgelaufen sind, aber ich tu so, als gäbe es keine.
Letzte Woche wurden wir darin unterwiesen, wie man es benutzt. Und wenn der Betreffende zu sich kommt, denken Sie dann, er wäre glücklich, dass Sie ihm das Leben gerettet haben?, hat der Ausbilder gefragt. Nein, keineswegs, lautete die richtige Antwort.
Nehmen Sie je anderer Leute Lasten auf sich? ist Frage fünf auf dem Fragebogen zur Distanzlosigkeit.
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Eli hört heute Abend nicht zu zappeln auf. Er kippelt mit seinem Stuhl, bis ich sauer auf ihn werde. Dann steht er auf, um seinen Bleistift zu spitzen. „Ich wollte, es wäre Winter“, murmelt er. Unten auf der Seite steht die Aufforderung, nicht zu vergessen, die Frage in ganzen Sätzen zu beantworten.
Eskimos leben in sehr kalten Ländern. Wir bauen unsere Häuser aus Holz oder Backstein. Der Eskimo baut sein Haus aus Schnee. In seinem kalten Land gibt es wenig Holz. Kann ein Haus aus Schnee ihn wärmen?
„Heißt es nicht Inuit?“, sage ich. „Eskimo ist ein altes Wort, glaube ich.“ Er hört mir nicht richtig zu. Später sehe ich meine Bücher durch auf der Suche nach etwas, an das ich mich gerade erinnere. Und als ich schon aufgeben will, finde ich es in einer Schachtel mit meinen alten Texten. Ich habe mal eine halbe Dissertation geschrieben. „Die Domestizierung des Todes: Interkulturelle Mythologien“ hielt ich für einen guten Titel.
Ich warte bis zur Schlafenszeit. Eli und ich haben ein immer gleiches Ritual. Kurz bevor er wegdämmert, erzählt er mir von seinem Tag. Dann schließt er die Augen, hält meine Hand fest und sagt: „Glücklicher Gedanke?“
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Als Häuser lebendig waren
Eines Nachts erhob sich ein Haus plötzlich vom Boden und schwebte durch die Luft. Es war dunkel, & es heißt, dass ein schwirrendes, stürmisches Geräusch zu hören war, als es durch die Luft flog. Das Haus hatte das Ende seines Weges noch nicht erreicht, als die Leute in seinem Inneren es baten innezuhalten. Und deshalb hielt das Haus an.
Sie hatten keinen Waltran, als das Haus anhielt. Deshalb nahmen sie weichen, frisch herangewehten Schnee & taten ihn in ihre Lampen, & er brannte.
Sie hatten bei einem Dorf angehalten. Ein Mann kam zu ihrem Haus und sagte: Seht nur, sie können in ihren Lampen Schnee verbrennen. Schnee kann brennen.
Doch sobald er dies sagte, erlosch die Lampe.
(nach Inungpasugjuk)[ii]
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Die Prüfungen sind vorbei, doch ein paar Studenten treiben sich noch auf dem Campus herum. Ein Mädchen, dessen Name ich vergessen habe, kommt in die Bibliothek, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie hat mir einen dieser Gesundheitssäfte mitgebracht, die sie gerne trinkt. Schmeckt wie ein Shake aus gemähtem Gras. Pulvriger Bienenpollen ist auch drin, was den Trinkenden vor allen möglichen verderblichen Sachen bewahren soll.
Sie erzählt mir, dass ihr Handy gestohlen wurde und sie jetzt ein ganz altes Gerät benutzt. Sie hat beschlossen, nicht das neueste Modell zu kaufen. „Jetzt mache ich alles etwas langsamer. Ich weiß, dass mir Sachen fehlen, weil ich nicht schnell genug auf das antworten kann, was Leute mir sagen oder zeigen, aber das ist in Ordnung. Es gibt mir mehr Zeit zum Nachdenken“, sagt sie.
Ich finde sie reizend. Sie wirkt fast wie eine Transzedentalistin. Ich nehme noch einen Schluck ihres Grasdrinks und denke mir, dass er mir vielleicht einen Energieschub verleiht.
Sie holt ihr Handy heraus, um mir zu zeigen, wie veraltet es ist. Es ist genau das gleiche wie meines. Meines ist zwei Jahre alt, aber holt mir im Handumdrehen Dinge herbei.
„Augenblick“, sage ich. „Haben Sie von Sekunden gesprochen? Als Sie sagten, Sie hätten ein neues Zeitgefühl und lebten langsamer, meinten Sie damit Sekunden?“ Sie überlegt. „Ja“, sagt sie, „vermutlich Sekunden.“
Ich nehme den Fahrservice nach Hause, weil ich eine Spinnerin bin. Mr Jimmy beschwert sich darüber, wie „diese Firma“ sein Geschäft ruiniert. Aus irgendeinem Grund nennt er keinen Namen, aber ich weiß, wen er meint. Er kam als Teenager aus Irland her; seit fünfundzwanzig Jahren fährt er, wie er sagt. „Es interessiert sie nicht mal, wen sie einstellen. Jeden mit einem halbwegs neuen Auto.“ Das habe ich gehört, sage ich zu ihm. Es gibt sogar einen Fall, wo eine Passagierin sagte, der Fahrer habe sie angegriffen. Er blickt mich schnell an. „Richtig“, sagt er. „Kein Niveau.“
Später fällt mir ein, Ben von dem Mädchen zu erzählen. „Sekunden!“, sage ich, aber er nimmt es ungerührt zur Kenntnis. „Die Leute reden immer über E-Mail und Telefone und darüber, wie uns das einander entfremdet, aber diese Technologie-Ängste hat es immer schon gegeben“, erklärt er.
Als die Elektrizität in Haushalte eingeführt wurde, gab es Briefe an Zeitungen, in denen beklagt wurde, dass sie den familiären Zusammenhalt zerstören würde. Die Leute jammerten, dass es keine Notwendigkeit mehr geben würde, sich gemeinsam um den Herd zu scharen. 1903 äußerte ein bekannter Psychologe die Besorgnis, junge Leute könnten ihr Verhältnis zur Abenddämmerung und deren kontemplativen Eigenschaften verlieren.
Hahahaha!
(Außer – wann bin ich zum letzten Mal stehen geblieben, weil es Dämmerung war?)
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Morgen ist mein Geburtstag. „Jetzt sind Sie offiziell mittleren Alters“, sagt meine Kollegin, die ihre Röntgenaufnahmen mit sich herumträgt. Sie hat mich nie leiden können, weil ich keinen richtigen Abschluss habe. Wir heißen wilde Bibliothekare, als wären wir gerade aus dem Wald gesprungen.
Lorraine hat eine After-Work-Party organisiert. Wir gehen in die Bar, wo ich früher gearbeitet habe. Sie heißt The Burrow, ein treffender Name. Dunkel, eng und warm. Und meine Freundin Tracy ist da und serviert uns extra starke Drinks. Ich entscheide mich für Gimlets, weil das festlicher ist.
Wir bringen uns gegenseitig auf den neusten Stand. Sie hat seit sechs Monaten eine Beziehung zu einem gut aussehenden und schrecklichen Typen, der in Philadelphia wohnt. Sie schildert ausführlich seine Grausamkeiten und unterlegt die Sache mit Gelächter. „Und dann bin ich den ganzen Weg hingefahren, um ihn zu sehen, obwohl ich mich vor dichtem Verkehr fürchte.“
Als sie ankam, hatte er einen Zettel an der Tür hinterlassen, auf dem stand, er habe unerwartet wegfahren müssen. Geh einfach rein, stand auf dem Zettel, allerdings hatte er immer nur davon geredet, ihr einen Schlüssel zu geben, es aber nie getan.
„Du brauchst jemand Nettes“, sage ich.
Und dann ist da in ihren Augen etwas, das schwer zu entziffern ist. Bis ich es begreife. Sie hat Mitleid mit mir und mit allen anderen, die sich für Nettigkeit und Anstand entschieden haben. „Klar, klar, ich nehme an, ich könnte es mit Nummer sicher versuchen“, sagt sie. „Aber ich habe noch nie so empfunden. Noch nie.“
Aber niemand kann einem Sicherheit garantieren, würde ich ihr gerne sagen. Sicherheit?
Als wir vor Jahren zusammen gearbeitet haben, sagte sie immer zu mir, ich hätte keinen Sportsgeist. Das sagte sie, weil man offenbar keine Zeit verschwenden soll, sondern den Mann, mit dem man verabredet ist, ohne Umschweife über die Zeit ausfragen soll, als er zum letzten Mal herzzerreißend einsam war. Das ist offensichtlich nicht die beste Methode. Aber es macht eine Verabredung so viel weniger langweilig. Hast du, hattest du, wirst du? Ich will es nur wissen.
Ich biete ihr ein Stück Geburtstagskuchen an. Sie fängt an mit dem üblichen Gerede über Versuchung und Sündhaftigkeit und diesem und jenem, und wir müssen jede Station des elenden Kreuzwegs absolvieren, bis sie einen Bissen nimmt. „Das war köstlich“, sagt sie, bevor sie davoneilt, um neue Drinks zu machen. Ich bin bei Nummer fünf, glaube ich. Vielleicht Nummer sechs.
Jetzt innehalten.
Aber das tue ich nicht, nein. Schon rede ich mit jedem an der Bar. Ich erzähle Geschichten, zuerst gute, dann weniger gute, je später es wird. Hätte ich mich nur an das alte Sprichwort erinnert:
Wenn drei Leute sagen, dass du betrunken bist, geh ins Bett.
Denn der Sachverhalt, dass die New Yorker Kanalisation sechstausend Meilen lang ist und sich unterhalb des Meeresspiegels befindet, ist inzwischen mein Gesprächseinstieg für alle Gelegenheiten.
Am Morgen brummt mir der Schädel. Auf dem Tisch liegen lauter Geschenke. Außerdem gibt es Waffeln mit Erdbeeren und Schlagsahne. Und Ben ist lange aufgeblieben und hat die Bleistifte gespitzt, die er unter dem Sofa gefunden hat. Die schönsten hat er für mich herausgelegt. Ich stecke sie erfreut in meinen Rucksack, vor allem den roten Stift, den ich verloren geglaubt habe.
- · ·
Mr Jimmy fällt auf, dass ich hinke. Er erzählt mir, dass sein erwachsener Sohn inzwischen behindert ist, dabei konnte er nichts dafür. „Dabei konnte er nichts dafür“, wiederholt er. „Es bricht einem das Herz“, sagt er, und ich stimme ihm zu.
Ich versuche Sylvia zu erreichen, während ich darauf warte, dass es klingelt. „Ich rufe gleich zurück“, sagt sie. „Ich muss diesen Artikel abschicken, aber mir ist noch nicht die obligate hoffnungsvolle Schlussbemerkung einfallen.“
Draußen ist es drückend heiß. Ich stehe da und schwitze in meinem schwarzen T-Shirt. Amiras Mutter steht neben mir. Du musst dir Mühe geben, hat Eli gestern zu mir gesagt. Du musst sie fragen. Es ist fast schon Sommer, und er bekommt langsam Angst. Wie wird er sie sehen können? Wo wohnt sie überhaupt?
Aber ich weiß nicht, wie Amiras Mutter heißt. Und sie unterhält sich mit ihrer Freundin in einer Sprache, die ich nicht beherrsche. Nur noch vier Schultage, und in drei Minuten klingelt es. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und lausche einem Beitrag über etwas, das als „The Mesh“ bezeichnet wird. Offenbar hält man es für einen besseren Begriff als das Wort „Web“.
Ein Mann ruft aus Dallas an. Was verstehen Sie unter Vernetzung? Eine Pause, und dann spricht der Ökologe: Auf Madagaskar gibt es eine Mottenspezies, die die Tränen schlafender Vögel trinkt.
[i] S. 54 „Wenn ich einatme, weiß ich …“ stammt aus einem klassischen buddhistischen Rezitativ mit dem Titel Die fünf Erinnerungen. Die Meditationstonlehrerin hat es ziemlich eigenwillig übersetzt und nur vier der fünf Strophen. Das Original findet sich in Plum Village Chanting and Recitation Book, zusammengestellt von Thich Nhat Hanh und den Mönchen und Nonnen von Plum Village.
[ii] S. 71 „Als Häuser lebendig waren“, Prosagedicht, erzählt von Inugpasugjuk, in Technicians of the Sacred, herausgegeben von Jerome Rothernburg, Garden City, New York, Anchor Books, 1969.
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