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The Quiet is Loud The Quiet is Loud - eBook-Ausgabe

Samantha Garner
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Um ihre Zukunft zu retten, muss sie die Stille durchbrechen.

— Ein Fantasy-Roman über Identität, Selbstbestimmung und Akzeptanz

„Eine ruhige Geschichte, deren Fokus auf die Protagonistin legt und damit aber völlig überzeugen kann.“ - buecherseitenrascheln

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The Quiet is Loud — Inhalt

Eine Tarotkarten-Leserin mit unheilvollen Visionen!

Freya hat die Gabe, in ihren Träumen die Zukunft zu sehen. Sie ist eine Veker, eine Person mit erweiterten mentalen Fähigkeiten. Bis ins Erwachsenenalter hat Freya ihr wahres Ich vor allen verborgen gehalten, aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt. Als Tarotkarten-Leserin in einem Online-Chatroom kann sie ihre Fähigkeiten nutzen, ohne ihre Identität preiszugeben. Doch plötzlich schlagen Freyas prophetische Träume eine gefährliche Richtung ein, und sie muss die fragile Sicherheit ihrer Anonymität aufgeben, um für sich selbst einzustehen – und um diejenigen zu schützen, die sie liebt.

Ein ebenso mitreißender wie nachdenklicher Fantasyroman über Identität, Selbstbestimmung und Akzeptanz.

€ 22,00 [D], € 22,70 [A]
Erschienen am 31.08.2023
Übersetzt von: Diana Bürgel
400 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-70659-9
Download Cover
€ 18,99 [D], € 18,99 [A]
Erschienen am 31.08.2023
Übersetzt von: Diana Bürgel
400 Seiten
EAN 978-3-492-60504-5
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Leseprobe zu „The Quiet is Loud“

2015

Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte, wie es am Rand meines Bewusstseins zupfte.

Die Pappschachteln meines Abendessens vom Take-away – sie lagen immer noch im Sichtfeld der Webcam. Als mir so etwas das letzte Mal passiert war, hatte ich dafür wenig begeisterte Kommentare im Chat geerntet, um es vorsichtig auszudrücken. Es war kein gutes Zeichen, dass ich die Schachteln um ein Haar schon wieder vergessen hätte. Gereizt räumte ich sie weg, als hätten sie mich absichtlich aus dem Konzept gebracht.

Dann entzündete ich ein Räucherstäbchen. Der süßliche [...]

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2015

Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte, wie es am Rand meines Bewusstseins zupfte.

Die Pappschachteln meines Abendessens vom Take-away – sie lagen immer noch im Sichtfeld der Webcam. Als mir so etwas das letzte Mal passiert war, hatte ich dafür wenig begeisterte Kommentare im Chat geerntet, um es vorsichtig auszudrücken. Es war kein gutes Zeichen, dass ich die Schachteln um ein Haar schon wieder vergessen hätte. Gereizt räumte ich sie weg, als hätten sie mich absichtlich aus dem Konzept gebracht.

Dann entzündete ich ein Räucherstäbchen. Der süßliche Duft brannte mir in den Augen und ließ sie tränen, während ich den kleinen Stäbchenhalter auf dem Kaffeetischchen platzierte. Ich wünschte, es würde ohne gehen, aber der durchdringende Geruch hatte mir schon mehr als einmal dabei geholfen, mich besser zu konzentrieren, und für die heutige Sitzung musste ich meine fünf Sinne beisammenhaben.

Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu sammeln. Normalerweise arbeitete ich nicht so spät, doch ich konnte die Bitte meiner Chefin Carol, die Sitzung einer anderen Leserin zu übernehmen, nicht einfach ignorieren. Ich brauchte das Geld, und außerdem konnte es nicht schaden, mich bei Carol etwas beliebt zu machen. Ein bisschen Liebenswürdigkeit und Arbeitsbereitschaft zu zeigen. Vielleicht würde sie dann die Kosten für einen zusätzlichen Kameraaufbau übernehmen, damit man sowohl meine Tarotkarten als auch mein Gesicht sehen konnte. Es würde nicht schwer werden, mich einer solchen Belohnung als würdig zu erweisen – eine der anderen Kartenleserinnen hatte sich in der vergangenen Woche in einem öffentlichen Chat mit der Drei der Stäbe zwischen den Zähnen herumgebohrt. Ich musste nichts weiter tun, als mich zusammenzureißen.

Um mich zu entspannen, begann ich mit meinem Kaffeeritual, das ich immer vor der Arbeit durchführte. Dieselbe Tasse, der übliche Teelöffel Zucker, ein Schluck Sahne, und schon fühlte ich mich besser. Anerkennend betrachtete ich den Bereich des Wohnzimmers, der hinter mir zu sehen sein würde: stimmungsvolle Beleuchtung, keine persönlichen Gegenstände auf dem Sofa, Räucherstäbchen auf dem Tisch. Perfekt. Genau das, was von mir erwartet wurde.

Mit der Kaffeetasse in der Hand und den Karten auf dem Tisch vor mir setzte ich mich, schaltete die Kamera ein und verband mich mit dem Oneira-Server. Da war ein merkwürdiges leises Vibrieren in mir, etwas wie – was? Aufregung? Vorfreude? Eine Samstagnachtschicht war Neuland für mich, und ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Die Abende brachten meist eine etwas andere Gemeinschaft zusammen. Ich fragte mich, warum. Einsame Menschen, die schlechte Träume fürchteten oder aus einem Albtraum erwacht waren und nicht wieder einschlafen konnten oder wollten? Auch wenn ich an diesem Abend vielleicht keinem meiner vertrauten Kunden begegnete, würde ich zumindest die Chance bekommen, ein paar Leuten Ratschläge zu geben oder Trost zu spenden. Hoffentlich.

Rasch füllte sich mein Chatraum. Die Namen waren mir zum Großteil fremd, aber es gab auch einige, die ich kannte. Gut. Vielleicht würde ich als Moderatorin gar nicht oft eingreifen müssen. Im freien Chat musste man hauptsächlich Small Talk machen, allerdings auf eine Weise, die den anderen subtil ins Gedächtnis rief, dass ich da war, um all ihre Lebensprobleme mit einer bezahlten Lesung zu lösen. Ich war schon fast zu gut darin geworden, gerade genug Fragen zu beantworten, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken, ihnen meine Hilfe dann aber wieder zu entziehen, bevor ich ihnen das Detail verraten hatte, das sie wirklich interessierte. Nicht immer resultierte dies in einer bezahlten Lesung, doch das musste es auch nur ab und zu.

Ich las die hereinkommenden Nachrichten und achtete darauf, wann es am besten war, einfach zuzulassen, dass sich die Chatbesucher gegenseitig halfen, und wann ich nützlich sein konnte.

 

wallflower18: Werde ich je eine Antwort von Steve bekommen?

IsItMe: wallflower, du musst aufhören, Steve so viel deiner Energie zu geben.

IsItMe: Weißt du noch, als er dich letzte Woche versetzt und dir nicht einmal gesagt hat, warum?

wallflower18: Ja, ich weiß. Ich will nur einen Abschluss.

bayoudancing: ich hatte gestern nacht schon wieder diesen traum. o mann!

TaurusTarot [Moderator]: @wallflower18, mit etwas abschließen kannst nur du selbst. Niemand anderes kann dich dazu bringen, etwas hinter dir zu lassen. Denk an die Hohepriesterin und ihre Botschaft, dass du deiner Intuition vertrauen sollst.

TaurusTarot [Moderator]: @bayoudancing, es tut mir leid, das zu hören! War dieses Mal irgendetwas anders?

wallflower18: @TaurusTarot Du hast ja so recht! xo

bayoudancing: na ja dieses mal war mein großvater nicht da aber ich konnte ihn trotzdem spüren und er wollte mir irgendetwas sagen

bayoudancing: aber ich bin aufgewacht bevor ich hören konnte was und ich muss einfach dauernd daran denken. was könnte das bedeuten?

wallflower18: Klingt heftig, bayou. Vielleicht kannst du mal versuchen, vor dem Schlafengehen zu meditieren.

Glen1979: Hallo zusammen, ist diese Tarot-Tussi eine Veker, was meint ihr?

 

Ich zuckte zusammen, als hätte mich jemand gezwickt. Als hätte ich die Worte laut im Ohr gehört. Dann holte ich tief Luft, um mich zu erden. Nur Worte auf einem Bildschirm. Das kriege ich hin.

 

TaurusTarot [Moderator]: @bayoudancing, manchmal muss man einfach nur rausgehen, die frische Luft atmen und etwas Abstand bekommen. Erinnere dich daran, wer du bist, und finde deinen Platz in der Welt. Du hast es fast geschafft, ich weiß es.

TaurusTarot [Moderator]: @Glen1979, wir gehen hier respektvoll miteinander um. Ich sperre dich eine Stunde lang für den Chat.

Blusprite: Hi @TaurusTarot, wie geht’s dir? Ich habe ein paar Fragen zu meiner Arbeit. Können wir uns privat unterhalten?

 

Ich zögerte. Der Kommentar von Glen1979 hatte mich erschüttert, und ich konnte ein paar Minuten brauchen, um mich wieder zu fassen, bevor ich mit einer privaten Lesung begann.

Andererseits würde es mich beruhigen, mit Blusprite zu sprechen. Ihr echter Name war Lucy. Sie kam einigermaßen regelmäßig zu mir, wenn sie Rat brauchte, was ihre aufkeimende Karriere als Fotografin betraf. Sie war auf erfrischende Weise unkompliziert, und sie betrachtete mich weder als Karnevalswahrsagerin noch als jemanden, der ihr Schicksal bestimmte. Ich konnte mich entspannen, ohne von ihr überwältigt zu werden.

 

TaurusTarot [Moderator]: @Blusprite, klar! Moment, ich schalte mein Mikro ein. Alle anderen, unterhaltet euch bitte untereinander.

 

Lucy schaltete ihre Webcam ein, und beim Anblick ihrer freundlichen Augen fühlte ich mich sofort besser. Wir plauderten kurz, dann kamen wir zum Geschäft. Ich schlug ein schnelles und einfaches Legesystem von vier Karten zum Thema ihrer Lebensaufgabe vor. Für kreative Kunden gefiel mir das immer gut und für Leute, die ihre Identität in ihrer Arbeit sahen.

„Das ist vielsprechend, schau mal. Die erste Karte, die ich gezogen habe, ist Die Kraft.“

Ich mochte diese Karte, weil sie einem alles, was man wissen musste, schon auf den ersten Blick verriet. Eine Frau umfasst den Kiefer eines Löwen, aber ihre Hände sind entspannt, nicht zu Fäusten geballt. Die Zunge des Löwen hängt ihm aus dem Maul – keine aggressive Haltung. Er ist bereit, sich zu unterwerfen. Ich hielt die Karte kurz in die Kamera und hörte Lucys freudig überraschtes Einatmen.

„Das ist doch bestimmt eine gute Karte, oder?“

Ich bezeichnete die Karten nicht gern als gut oder schlecht. Die Karten waren nur das, was sie waren, eine schmucklose Bestimmung, die interpretiert werden wollte. Jede Kartenkombination konnte entweder ein gutes Zeichen sein, zur Vorsicht mahnen oder eine neue Herangehensweise vorschlagen.

Lucys nächste Karte war die Sieben der Kelche, umgekehrt. Was mich nicht überraschte. Bei den Kelchen ging es um Emotionen und den Ausdruck von Gefühlen, die Sieben vibrierte geradezu vor Spannung. Die Kelche waren mit einer Reihe sowohl positiver als auch negativer Objekte gefüllt: ein Drache, eine Schlange, ein Turm, ein Siegeskranz. Alles hoch oben in der Luft, in den Wolken. Illusionen, Wunschdenken, Wahlmöglichkeiten. Wenn man eine Karte verkehrt herum zieht, verändert sich dadurch die Deutung. Eine neue Betrachtungsweise, andere Denkansätze kommen hinzu. Manchmal resultiert das in einer genau gegensätzlichen Interpretation der richtig herum gezogenen Karte. In diesem Fall bedeutete die umgekehrte Sieben der Kelche, dass es vielleicht zu viele mögliche Entscheidungen gab.

„Gut, schauen wir uns das einmal zusammen an. Die erste Karte steht für Mitgefühl und Selbstvertrauen. Kraft ohne Gewalt oder Wut. Die umgekehrte Sieben schlägt dir vor, diese Kelche umzukippen, alle deine Optionen auszuschütten und dich für eine davon zu entscheiden – und die Kraft scheint dich darin zu bestärken, dass du durchaus in der Lage bist, deine kreative Stärke auf einem einzelnen Pfad zu bündeln.“

„Genau das ist das Problem, das ich gerade habe“, bestätigte Lucy. „Ich finde Selbstporträts wirklich spannend, aber ich würde auch gern verlassene Orte charakterisieren. Dann kommen noch Ideen für Projekte dazu, die nichts mit beidem zu tun haben. Was sagt die nächste Karte?“

Ich hielt den umgedrehten Magier hoch.

Lucy gab ein leises Murren von sich. „Die ist manchmal nicht so toll, oder?“

„Sie ist für sich genommen nicht die fröhlichste aller Karten, nein. Sie kann für Unsicherheit bei einer bestimmten Vorgehensweise stehen. Oder für Ergebnisse, die man erwartet, aber nicht sieht. Für mangelnde Motivation, sein Ziel zu erreichen.“

Außerdem konnte diese Karte Betrug und Manipulation bedeuten, aber damit wollte ich nicht so unverblümt herausplatzen, um Lucy keinen Schrecken einzujagen. Etwas nagte an mir, eine vage Erinnerung.

„Als wir uns das letzte Mal im Chat gesehen haben, hast du mir von einer anderen Künstlerin erzählt, mit der du zusammenarbeitest, oder?“

„Genau. Meine frühere Mentorin vom College. Ab und zu arbeiten wir bei einem Projekt zusammen, aber …“

Auf einmal klang Lucys Stimme fern, als würde ich sie durch ein geschlossenes Autofenster hören.

Eine Erinnerung schob sich in den Vordergrund.

 

Lucy steht in einem Raum, Sonnenlicht fällt durch die geöffneten Fenster herein. Vorhänge wehen nach innen. Eine Brise fängt sich in den Spitzen ihres langen Haars, und sie schiebt sich eine verirrte Strähne hinter das Ohr. Sie beugt sich über den Tisch, breitet Fotos darauf aus, arrangiert sie. Jetzt ist noch eine weitere Person im Raum, merkwürdig unscharf, ihr Gesicht bleibt verborgen. Sie bewegt sich gerade außerhalb von Lucys Sichtfeld, führt flinke Handbewegungen aus, während sie den Tisch umrundet. Eine Windböe fährt durch das Zimmer, und der Tisch ist auf einmal voller Sand und Asche. Keine Fotos mehr. Dann ist Lucy wieder allein.

 

Im nächsten Augenblick war es vorbei. Ein paar tiefe Atemzüge. Ich roch den Weihrauch. Die Erinnerung an einen meiner Träume, die mehr als nur Träume waren. Ich hatte mich an eine Vision erinnert.

„… ich halte es einfach nicht für klug, ein gemeinsames Projekt zu beginnen, bei dem wir praktisch keine Anleitung haben und den Gewinn im Verhältnis sechzig-vierzig zwischen uns aufteilen“, erklärte Lucy gerade. „Und das nur, weil sie und der CEO von dem Laden befreundet sind. Hey, alles in Ordnung bei dir?“

Ich richtete mich etwas auf, kniff mich unter dem Tisch in den Arm, um wieder ganz zu mir zu kommen. Setzte ein breites, ruhiges Tarotleserinnenlächeln auf. Entspannte Energie, alles war so, wie es sein sollte.

„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich war nur gerade dabei, mir den wahrscheinlichsten Verlauf der Dinge, die diese Karten beschreiben, auf der Grundlage dessen vorzustellen, was du erzählt hast.“

Ich lehnte mich zurück und betrachtete die Karten in meiner Hand. Ich mochte Lucy, und ich wollte, dass sie Erfolg hatte. Ich wollte ihr geradeheraus sagen, dass ihre frühere Mentorin eindeutig nicht vertrauenswürdig war. Doch ich tat es nicht – ich würde die Fragen nicht beantworten können, die sie mir daraufhin stellen würde.

Also räusperte ich mich stattdessen und ließ die Karten sagen, was ich nicht sagen konnte.

„Ja, diese Karte rät dir dazu, einen Schritt zurückzutreten und noch einmal über die Dinge nachzudenken, die dir komisch vorkommen. Zumindest, bis du genau weißt, welcher Weg der richtige für dich ist, so wie wir es bei der Sieben der Kelche besprochen haben. Vielleicht solltest du deiner früheren Mentorin sagen, dass du ein bisschen Zeit für dich brauchst, um dir Gedanken über dein nächstes Projekt zu machen. Nein, nicht vielleicht. Genau das solltest du tun. Und jetzt schauen wir uns mal an, was die letzte Karte dazu zu sagen hat.“

Ich brachte die restliche Lesung ohne Zwischenfall hinter mich, und als sich Lucy von der Sitzung abmeldete, war sie zufrieden und wusste, was sie zu tun hatte.

Die Glückliche, dachte ich.

Bevor ich in den öffentlichen Chatraum zurückkehrte, schaltete ich meine Webcam und mein Mikro aus und schloss die Augen. Atmete tief durch.

Auf einmal war ich erschöpft. Ich sehnte mich verzweifelt danach, ein Bad zu nehmen, ein Buch zu lesen und dann ins Bett zu gehen, so wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, aber der Großteil meiner Schicht lag noch vor mir. War meine Bequemlichkeit wirklich wichtiger als das zusätzliche Einkommen und das Risiko, Carol zu enttäuschen?

Seufzend trank ich den letzten Schluck Kaffee. Dann straffte ich die Schultern und loggte mich wieder in den Chat ein.


1994

Die Sonne schien Freya grell ins Gesicht, und sie hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen. Schläfrig blinzelte sie gegen das Licht an. Hatte sie verschlafen?

Sie wusste nicht einmal genau, wie sie zur Tür ihres Zimmers gekommen war. Verschwommene Bewegungen, Arme und Beine, dann stand sie plötzlich in der Küche. Vor ihr sah sie die überraschten Gesichter ihrer Eltern, die mitten in der Bewegung erstarrt waren, die Hände in der Luft.

„Alles in Ordnung, Pumpkin?“, fragte Mom. „Hast du schlecht geträumt?“

Mom breitete die Arme aus, und Freya kletterte ihr auf den Schoß, ließ sich einen Moment lang wiegen. Ein Kuss wurde ihr auf den Kopf gedrückt. Dann rutschte sie wieder hinunter. Das Linoleum war kalt unter ihren nackten Füßen. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Erst als sie sich auf ihren Platz am Tisch setzte, sah sie, dass ein verpacktes Geschenk und ein Muffin mit einer Kerze vor ihr standen.

„Nicht bewegen“, sagte Dad und hielt ein Feuerzeug an die Kerze. Sie sangen „Happy Birthday“, und Freya wusste nicht, wohin sie schauen sollte – auf Dads Finger, mit denen er den Takt auf die Tischplatte klopfte? Auf Moms Augen, die sich mit Tränen füllten?

Der Gesang wurde von einem scharfen Keuchen unterbrochen, als der Geruch nach French Toast vom Herd herüberwehte, ein zu beißender Geruch. Dad stürzte sich auf die Pfanne, und Mom wischte sich über die Augen. Ein gehauchtes Lachen.

„Tut mir leid, Schatz.“ Dad ließ die Schultern hängen. „Ich habe es anbrennen lassen. Und das waren die letzten Eier.“

Freya tat so, als würde sie sein leises Fluchen nicht hören. Sie sagte ihm, dass das schon okay war, und das war es auch. Sie hatte einen Muffin und ein Geschenk. Außerdem war da noch ein Blatt Papier, und als sie es auseinanderfaltete, erkannte sie, dass es ein mit Buntstiften gemaltes Bild ihrer Cousine Mary aus Toronto war. Sie beide zusammen in Kelowna, beide mit schwarzen Strichhaaren und roten Dreieckskleidern. Grün ausgemalte Ballons, an ein paar Stellen war das Grün über den Rand gekritzelt. Der Okanagan Lake mit dreieckigen Bergen dahinter.

„Mach dein Geschenk auf“, sagte Mom.

Freya riss das verpackte Viereck auf, und schimmernde grüne Papierstreifen segelten zu Boden. Sie wusste schon, was es war, aber als sie das Buch dann wirklich in den Händen hielt, spürte sie trotzdem eine Glückswelle in sich aufsteigen.

„Ist es das richtige?“, fragte Mom.

Sie nickte und begann, um einen Bissen Muffin herum die Geschichte zu beschreiben. Dad rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück und beugte sich vor, das Kinn in die Hand gestützt. Er umfasste ihren Muffinarm.

„Ich habe ein schlechtes Gewissen“, sagte er. „Ich weiß, wie gern du French Toast magst. Vielleicht können wir auf dem Weg nach Penticton bei Tim Hortons halten und dir da was Süßes holen. Dann brauchst du den da allerdings nicht mehr!“ Er tat so, als wollte er ihr den Muffin wegschnappen, aber sie stopfte sich den Rest schnell in den Mund.

„Na super, Brian“, schimpfte ihre Mutter im Scherz. „Bringen wir unser Kind doch einfach dazu, an seinem Geburtstag an einem Muffin zu ersticken.“

Dad klopfte auf die hölzerne Tischplatte, stets abergläubisch.

Mom wand sich eine von Freyas Haarsträhnen um den Finger und ließ sie dann wieder los. „Mein Baby. Ich kann gar nicht glauben, dass du jetzt schon sieben bist! Ich weiß noch, wie du gerade mal sieben Sekunden alt warst.“

Freya kaute, schluckte, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie wusste, was jetzt kam: die rituelle Erinnerung an den Tag ihrer Geburt. Sie drückte sich das neue Buch an die Brust und hörte zu, wie ihre Eltern ihre Rollen einnahmen. Sie wusste schon, welche Worte sie benutzen würden, wo ihre Stimmen lauter und wo ganz leise werden würden. Und sie wusste, dass beide am Ende den Tränen nahe sein würden. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte es sie verunsichert, ihre Eltern weinen zu sehen, doch jetzt verstand sie, dass Tränen nicht immer Traurigkeit bedeuteten.

 

Im Auto hielt Freya eine Pappschachtel mit Minidonuts von Tim Hortons in der Hand, ganz allein für sie. Herrlich süß. Krümel fielen auf ihr Shirt. Sie versuchte, gleichzeitig in ihrem Buch zu lesen, aber die Seiten wurden ganz klebrig von dem Zucker, und schließlich gab sie es auf. Irgendwann wurde sie müde und ließ sich von den leisen Stimmen von den Vordersitzen einlullen.

„… Schreiben macht jetzt richtig Freude, solange ich einfach nicht mehr auf typische Satzkonstruktionen achte …“

„… die Teile, die ich bisher gelesen habe. Es macht echt Spaß, deine fast melodischen …“

„… bereit für einen solchen Roman, aber mein letzter ist ziemlich gut angekommen, also …“

„… besonders der Teil, bei dem du dich davon hast inspirieren lassen, wie Freya und ich diesen armen Vogel gefunden haben …“

Freya erinnerte sich noch an den Vogel. Sie erinnerte sich daran, wie er in einem Lichtstrahl nach oben geflogen war, wie strahlend rot sein Köpfchen geleuchtet hatte, und dann das furchtbare Geräusch, als er immer wieder gegen das Oberlicht gekracht war, weil er verzweifelt versucht hatte hinauszukommen.

Seit sie fünf gewesen war, hatte sie nicht mehr an diesen Vogel gedacht. Sie beugte sich auf dem Sitz vor, auf einmal neugierig.

„Daddy, kommt der Vogel in deinem neuen Buch vor?“

„So was Ähnliches. Du und deine Mutter und der Vogel, ihr seid zwar da, aber es ist nicht dieselbe Geschichte. Nicht die wahre Geschichte, eher eine Metapher.“

Sie nickte, obwohl sie es eigentlich nicht verstand. Wie konnte etwas echt, aber nicht wahr sein? Warum konnten Erwachsene nicht einfach sagen, was sie meinten? Sie ließ sich wieder zurücksinken und schlief schließlich ein, während das Auto den Highway entlangbrummte.

Als jemand die Autotür aufmachte, wachte sie auf und streckte sich blinzelnd. Mom und Dad ließen Freya zwischen sich hoch in die Luft schwingen, während sie in Richtung Streichelzoo gingen, für den sie eigentlich schon zu groß war.

Es war ihr Geburtstag, und deshalb taten sie alle nur das, was sie wollte.

Den restlichen Vormittag verbrachte Freya damit, möglichst still zu stehen, während ihr die Ziegen, Schweine und Schafe aus den zu einer Schale geformten Händen fraßen. Ihre Zungen waren warm und glitschig, und am liebsten hätte Freya laut gequietscht. Die Tiere drängten sich um sie, und Freya mochte den durchdringenden Geruch der Gehege nicht.

Obwohl es verboten war, hob Dad sie über einen Zaun, damit sie ein einsames Alpaka streicheln konnte. Als Mom es bemerkte und ihn schimpfte, zwinkerte er Freya zu, und sie lachten.

Dann gingen sie zu den Ponys. Misstrauisch musterte Freya sie. Die Ponys schlugen mit den Schweifen, und ab und zu zuckte ein Muskel an ihren gefleckten Beinen. Sie waren größer, als Freya gedacht hatte. Aus schmalen Augen sah sie hinauf und stellte sich vor, wie sie dort oben saß, dem Himmel ganz nah.

Mom legte ihr den Arm um die Schultern. „Du musst das nicht machen, wenn du noch nicht möchtest, Pumpkin.“

„Ich möchte reiten, aber gleichzeitig möchte ich es auch nicht.“

„Ich kann die ganze Zeit neben dir herlaufen“, versprach Dad. „Und der Mann führt das Pony am Strick, es kann also nicht weglaufen, siehst du? Komm, wir reden mal mit ihm.“

Freya hörte gar nicht zu, während ihr Dad mit dem Ponyführer sprach. Sie war zu abgelenkt von einem kleinen Mädchen, das ungefähr so alt war wie ihre Cousine Mary und neben dem Ponymann auf dem Boden saß, mit einem Karton voller sonnengelber Küken. Freya stellte sich vor, wie weich die Küken sein mussten. Als würde man Rauch streicheln.

Das Mädchen sah sie aus seinen grünen Augen an. „Sie mögen dich“, sagte sie.

Kleinkinderquatsch. Freya machte sich groß, um zu zeigen, wie überlegen sie dem Mädchen war.

„Wirklich“, fuhr das Mädchen fort. „Sie mögen mich, und sie mögen dich. Aber meinen Dad nicht. Sie werden kratzig, wenn er zu nahe an sie rankommt.“

„Ihre Federn?“

Das Mädchen stieß ein frustriertes Schnauben aus. „Nein, sie fühlen sich kratzig. Das Gefühl kommt aus ihnen raus.“

Freya sah zu ihrer Mutter hoch, die nur leicht mit den Schultern zuckte.

Der Mann mit den Ponys zuckte ebenfalls mit den Schultern und lachte leise. „Sie glaubt, dass sie fühlen kann, was die Tiere fühlen“, erklärte er Mom. Er schien das einfach zu akzeptieren und sich keine Gedanken darüber zu machen.

Das Mädchen hielt Freya eines der Küken hin. „Willst du das hier mal halten? Sie mag dich am liebsten.“

Freya streckte die Hand aus, aber auf einmal zog Dad sie weg. Sein Griff um ihre Hand wurde fester.

„Tut mir leid, Schatz. Ich glaube, dieses Jahr bist du vielleicht noch nicht so weit für ein Pony.“

Zum Teil war Freya erleichtert. Ein anderer Teil von ihr verrutschte leicht, hing in der Luft, bis sie das passende Wort gefunden hatte: Lüge. Ihr Vater log.

„War das Mädchen eine Veker?“, flüsterte er Mom zu, als sie ihn und Freya eingeholt hatte. „Sie ist mir irgendwie komisch vorgekommen.“

„Na und?“, flüsterte Mom zurück. „Sie kann ja keine Gedanken kontrollieren oder so.“

„Noch nicht.“

„Ach komm, sie ist ein kleines Kind. Was soll ihr Vater deiner Meinung nach tun? Sie irgendwo wegsperren?“

„Ja! Oder sie zumindest sehr genau im Auge behalten. Das wäre für alle sicherer.“

„Ich glaube, du hast Hunger und bist deshalb ein bisschen empfindlich. Kommt, wir holen uns ein paar Waffeln und besprechen das später.“

Freya ließ sich von ihrem Vater huckepack nehmen und legte den Kopf an seine Schulter. Ließ die Arme baumeln. Nach den Waffeln hielt er sie noch einmal über den Zaun des Alpakageheges, aber sie drückte sich die Hände an die Seiten. Dieses Mal sahen die Alpakas sie nur kurz an und richteten ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf andere Dinge. Die gegenseitige Neugier war verflogen. Dad setzte Freya ab, und sie warf eine Handvoll Futter über den Zaun. Die Alpakas achteten nicht einmal darauf, und Freya wünschte sich, sie könnte fühlen, was sie fühlten, so wie das Mädchen mit seinen Küken.

 

Zu Hause machte sich Freya ein Nest aus Decken auf dem Sofa, lehnte ihr Buch gegen ein Kissen und versank in ihrer eigenen Fantasie. Sie ließ Bilder und Geschichten wie einen Film vor sich ablaufen. Die Welt plätscherte an ihr vorbei, und sie blieb unbemerkt. Sie machte sich unbemerkbar.

Zum Abendessen kochte Dad ihr philippinisches Lieblingsfrühstück: Longsilog. Sie liebte die leuchtend roten Würstchen, den gebratenen Knoblauchreis und die Spiegeleier – Longanisa, Sinangag und Itlog –, die dem Gericht zusammen seinen Namen gaben. Dads gebratener Reis war immer perfekt. Er hackte sogar gegrillte Tomaten klein und legte sie in ein Schälchen mit Essig, genau so, wie Freya es mochte.

Während sie aßen, lachten sie über die Tiere im Streichelzoo und darüber, dass die Ziege fast Moms Ärmel gefressen hatte. Danach zog sich Dad in sein Arbeitszimmer zurück. Freya widmete sich wieder ihrem Buch, und Mom setzte sich zu ihr auf das Sofa. Wobei sie das Deckennest kaputt machte, aber das störte Freya nicht.

„Hattest du einen schönen Geburtstag?“, fragte Mom.

Sie nickte.

„Und es macht dir wirklich nichts aus, dass nur Daddy und ich dabei waren? Wenn du möchtest, können wir am Wochenende eine kleine Party mit deinen Freunden feiern.“

„Nein, ist schon gut. So mag ich es lieber. Wenn es ruhig ist.“ Freya hielt inne. Das, was da in ihrem Hinterkopf kreiste, konnte nicht mehr geduldig abwarten. „Mom? Hat mit diesem Mädchen irgendwas nicht gestimmt? Das Mädchen mit den Küken?“

Mom seufzte, und ihr Atem blies Freya ein paar Härchen kitzelnd ins Gesicht. „Mit dem Mädchen war alles in Ordnung, Pumpkin. Sie ist nur anders. Ihr Daddy passt gut auf sie auf, und dann ist alles gut.“

Sie umarmte Freya fest, zu fest. Das Buch rutschte vom Sofa und landete aufgeklappt mit den Seiten auf dem Teppich.

„Ich habe eine Idee“, sagte Mom. „Komm, wir schleifen Dad aus seinem Arbeitszimmer, gleich jetzt. Nur heute. Es ist Freya-Tag, und da sollte er wirklich nicht schreiben!“

Sie platzten ins Arbeitszimmer und zogen Dad an den Armen, dann an den Beinen. Sie drehten seinen Stuhl im Kreis. Freyas Welt wirbelte herum, als Dad sie hoch über seinen Kopf hob, und sie kreischte vor Lachen. Dann verbündeten sich ihre Eltern an ihrem eigenen Geburtstag gegen sie und wickelten sie wie einen Burrito in die Sofadecken.

Als das Lachen verebbte, blieb sie in ihrem Burrito, gemütlich und geborgen. Sie setzten sich auf das Sofa, und Dad rettete ihr Buch vom Boden und strich die Eselsohren glatt. Er begann ihr vorzulesen, von der Stelle, an der Freya vorhin aufgehört hatte. Sie versuchte, ihm zuzuhören, aber da war das übliche Problem mit seiner Lesestimme – sie war wie immer für Erwachsene, für das Fernsehen, für die Leute, die sich Karten kauften und dann still und leise auf ihren Plätzen saßen, während er über Konzepte und Theorien und Dinge sprach, die echt, aber nicht wahr waren.

Da kam Freya ein Gedanke, und sie wand sich und zappelte, bis ihre Arme frei waren, damit sie den Gedanken aussprechen konnte. „Was passiert mit dem Vogel, Daddy? In deinem neuen Buch?“

Dad ließ das Buch sinken und nahm den Daumen von den Seiten. Über Freyas Kopf hinweg warf er Mom einen Blick zu.

„Er stößt sich nicht den Kopf am Oberlicht an. Er macht ein Fenster auf und fliegt davon.“

Freya schloss die Augen. Sie dachte an den echten Vogel, den der unerreichbare Himmel wahnsinnig gemacht hatte, und sie entschied sich lieber für das offene Fenster.


2015

Es war ein Fehler gewesen, Mary von der Frittierparty zu erzählen – was auch immer das war. Als ich ihr aus Spaß den Link zu einem Meetup-Event geschickt hatte, hätte mir klar sein sollen, dass sie sich darin verbeißen und nicht lockerlassen würde – immerhin lag sie mir ständig damit in den Ohren, dass ich mehr unter Leute gehen sollte. „Werd nicht zynisch“, hatte sie zu mir gesagt. „Was soll schon schiefgehen?“

Während ich am Fluss entlangfuhr, musste ich an ihre Worte denken, weil es genau die Straße war, auf der man von meinem Zuhause in Markland zu ihrem Haus im nahe gelegenen Solingate kam. Markland war eine Kleinstadt, genau richtig für mich. Es gab genug, damit mir nicht langweilig wurde, aber nicht so viel, dass es mich überwältigte. Ich war froh darüber, dass sich der Weiterausbau in Grenzen hielt – immerhin lag Markland näher an Guelph als an Toronto, von wo aus sich die Tentakel der Expansion immer weiter ausbreiteten –, aber ich wusste, dass meine Stadt wahrscheinlich nicht mehr lange ein sorgsam gehüteter Geheimtipp bleiben würde.

Als ich bei dem Haus ankam, in dem die Party stattfand, und schweren Schritts die Stufen zur Veranda hinaufstieg, wünschte ich mir immer noch, ich hätte die Meetup-Seite nicht aus einer Laune heraus nach drei Monaten wieder einmal aufgerufen. Beim letzten Mal war ich bei einem peinlichen Treffen eines Buchclubs gewesen, das mir nur ein weiteres Mal bestätigt hatte, dass ich einfach schrecklich mies darin war, mich mit Fremden zu unterhalten. Eine Erkenntnis, die ich offenbar kurzfristig vergessen hatte. Ich könnte in diesem Moment zu Hause sein, gemütlich, sicher.

Ich seufzte. Vielleicht hatte Mary recht. War ich wirklich zu zynisch? Ich bezeichnete mich lieber als pragmatisch. Zynismus war etwas, das ich unbedingt vermeiden wollte. Im Vergleich zu meiner Cousine waren wir allerdings alle Zyniker.

Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass ich schon seit mindestens fünf Jahren auf der düsteren Veranda herumstand, eine Dose voller Brokkoli an die Brust gedrückt und ins Leere starrend. Ich klopfte, woraufhin neben der Tür ein Vorhang zurückgezogen wurde. Ein Mann spähte aus dem Fenster und musterte mich misstrauisch, also hob ich die Dose, was er zu begreifen schien, da er mir mit Gesten zu verstehen gab, ich solle einfach reinkommen.

Die Tür war nicht abgeschlossen, also ging ich hinein und schüttelte ihm die Hand, wobei ich mich selbstbewusst vorstellte, so wie Mary es tun würde.

„Willkommen“, sagte er. „Glaube ich. Unsere Gastgeberin ist losgefahren und holt eine Freundin in Toronto ab, und sie hat mir hier die Verantwortung für das Haus übertragen. Sie kennt mich nicht mal.“

Jetzt begriff ich, warum er mich gerade so angeschaut hatte.

„Ich gehe eine rauchen. Oder drei. Passt du auf die Tür auf?“ Und schon war er draußen und schloss mit einem entschiedenen Klicken die Tür hinter sich.

Blinzelnd starrte ich die Stelle an, an der er eben noch gestanden hatte. Eine innere Stimme sagte mir Mach, dass du wegkommst, aber dann stellte ich mir vor, wie enttäuscht Mary wäre, wenn ich ihr erzählte, dass ich es nur bis kurz hinter die Eingangstür geschafft hatte. Ich holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer.

Ein paar Leute warfen mir einen Blick zu, bevor sie sich wieder einander zuwandten. Kein Interesse an der neuen Gazelle am Wasserloch. Meine Güte, stell dich einfach vor, fuhr meine innere Stimme fort, die zermürbend nach Mary klang. Also machte ich mich bereit, mich ins Gespräch einzumischen, und ging hinüber.

„Habe ich euch das schon erzählt?“, fragte eine der Frauen. „Dass ich gerade im Bus hierher gesehen habe, wie ein Veker angebrüllt wurde?“

Es war, als würde mir ein kalter Finger die Wirbelsäule hinabstreichen. Ich blieb am Rand der Gruppe stehen und hielt den Atem an.

Ein Mann beugte sich mit loderndem Blick vor. „Was hat er gemacht?“

„Mit der Frau neben sich gesprochen. Ich glaube, der Veker hat sie gefragt, ob ihre Krebstherapie anschlägt. Und sie hat ihn angeschnauzt und gesagt, er soll sie in Ruhe lassen. Sie kannte ihn nicht. Aber er hat immer wieder gesagt, dass er ihren Krebs spüren kann oder so. Dann hat sie Panik bekommen, und der Veker wurde aus dem Bus geworfen.“

„Gut so. Hoffentlich hat er dazu auch noch einen Tritt ins Gesicht gekriegt.“

Ich legte eine ungeschickte Kehrtwende in Richtung Küche hin, die im Vergleich zum Wohnzimmer sehr hell und fröhlich wirkte. Ich konnte immer noch die angewiderten Kommentare aus dem Nebenraum hören. Erst jetzt merkte ich, wie heftig mein Herz pochte. Ich musste irgendetwas Banales tun, um mich abzulenken – zum Beispiel das Foto von der Fritteuse machen, das Mary von mir verlangte, zum Beweis dafür, dass ich tatsächlich mein Haus verlassen hatte.

Neben dem blöden Gerät standen ein Mann und eine Frau und sahen zu, wie Reisbällchen im Fett blubberten. Ich zog mein Handy aus der Tasche und zielte verstohlen. Doch weil dieser ganze Abend eben offenbar verflucht war, gab die Kamera das lauteste Klickgeräusch der Welt von sich.

Das Paar, das offensichtlich zu den Reisbällchen gehörte, drehte sich zu mir um, und aus einem Instinkt heraus drückte ich leicht den Rücken durch.

„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich habe nur ein Foto von der Fritteuse gemacht, für meine Cousine. Sie will sich so eine kaufen.“

Beide nickten, zufrieden mit der Erklärung. Der Mann bemerkte, dass die Verpackung der Fritteuse auf dem Kühlschrank stand, und ging an mir vorbei, um sie zu holen, wobei er einen sauberen Geruch nach Seife verströmte. Er hielt mir die Schachtel hin und lächelte mich höflich an. Ich musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Seine Augen waren gletscherblau mit einem dunkelblauen Ring darum. Sein Haar war dunkel, kurz und ordentlich aus der Stirn gekämmt.

„Davon kannst du auch ein Foto machen“, schlug er vor. „Da steht die Modellnummer drauf.“

Als ich ihm die Schachtel aus der Hand nahm, wurde sein Lächeln breiter. Ich räusperte mich und senkte den Blick, als seine Finger leicht, aber unmissverständlich über meine strichen. Ich erwiderte sein Lächeln.

„Wow“, rief seine Freundin auf einmal. „Das Mädchen da sieht genauso aus wie du!“

Blinzelnd starrte ich sie an, dann folgte ich ihrem ausgestreckten Zeigefinger zu der Schachtel in meinen Händen. Ich war so abgelenkt gewesen, dass mir gar nicht aufgefallen war, was für ein Foto darauf prangte.

War ja klar.

Es war mein eigenes Gesicht. Zehn Jahre jünger, aber trotzdem unverkennbar ich. Langsam und hoffentlich unhörbar atmete ich durch die Nase aus. Sollte ich so tun, als wüsste ich von nichts? Oder sollte ich die Sache erklären? Die Wahrheit war keine Schande, doch die Vorstellung, offen damit herauszuplatzen, fühlte sich zu schrill an. Also stritt ich mit einem Lachen alles ab, wobei ich hoffte, dass es, ohne beleidigend zu wirken, verdeutlichte, wie absurd der Gedanke war, ich könnte irgendein Model auf einer Fritteusenverpackung sein. Dann entschuldigte ich mich schnell und suchte nach dem Badezimmer.

Was machte ich hier? Für wen hielt ich mich? Ich war nicht meine Cousine mit ihrem natürlichen Selbstbewusstsein und ihrer Sicherheit, die sie aus irgendeiner undefinierbaren und unauffindbaren Quelle in sich schöpfte. Sie meinte es gut, das war mir klar. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und sah zu, wie mir die Tropfen über Wangen und Nase liefen.

Schon zwei Volltreffer, und ich war noch keine zehn Minuten hier. Hastig trocknete ich mir das Gesicht ab und verließ das Badezimmer wieder, mit direktem Kurs Richtung Haustür.

Der Mann aus der Küche, mit diesem gewissen Lächeln, trat in mein Sichtfeld.

„Ich habe nicht mitbekommen, wie du heißt“, sagte er.

„Freya“, antwortete ich, ohne nachzudenken. Ich sah die Tür, verlockend nah hinter seiner Schulter. Ich hörte die Stimmen der Leute aus dem Wohnzimmer, die Leute, die gerade über Veker sprachen. Nein, jetzt redeten sie über etwas anderes. Kamen sie näher? Die Stimmen schienen lauter zu werden.

„… aber alle nennen mich Ian.“

Ich konzentrierte mich und begriff, dass ich ihn angestarrt hatte, ohne ein Wort zu verstehen.

„Keine Ahnung, warum“, fuhr er fort. „Ein Scherz, der irgendwie Wirklichkeit geworden ist.“ Kurz sah er mich an, und seine Augen weiteten sich ganz leicht, erwartungsvoll. Oder wiedererkennend.

Wie auf Knopfdruck schaltete sich mein Lächeln ein. Es klappte. Er lächelte zurück.

„Ian“, rief die Frau aus der Küche. „Die Reisbällchen werden super!“

Er wandte sich seiner Freundin zu. Ich konnte seine Augen nicht sehen, aber ich spürte, dass er ihr mimisch ein Nicht jetzt übermittelte. Als er sich wieder an mich wandte, wirkte sein Blick warm.

Es konnte so leicht sein. Ich konnte den Spieß umdrehen. Ablenken. Ich konnte ihn mit Fragen über ihn bombardieren und so passend reagieren, dass er vergessen würde, mich irgendetwas zu fragen. Ich konnte ein Quäntchen meiner selbst nehmen und es zu einer anderen Wahrheit gestalten. Ich konnte wählen, welche Teile meines Lebens ich mit diesem Fremden teilen wollte.

Einer der Männer aus dem Wohnzimmer rempelte Ian im Vorbeigehen versehentlich an. Er entschuldigte sich und klopfte Ian auf die Schulter. Dann sah er mich an, für den Bruchteil eines Augenblicks, bevor er weiter Richtung Küche ging.

Zu nah. In diesem Moment kam ich wieder zu mir.

„Eine Sekunde“, sagte ich zu Ian. „Ich glaube, ich habe mein Auto nicht abgeschlossen.“

Eine armselige Ausrede. Ich erhaschte einen Blick auf seine verwirrte Miene, bevor ich mich abwandte und durch die Tür hinaushuschte.

Die Nacht war warm und duftete nach Regen. Wie ferngesteuert lief ich die Stufen hinab und zurück zu meinem Auto. Im goldenen Schein einer Straßenlaterne sah es sehr einladend aus, und ich war erleichtert, als ich einstieg. Ich ließ den Motor an und öffnete das Fenster. Die ersten Regentropfen fielen mir aufs Gesicht. Durch die Windschutzscheibe sah ich nach oben. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen, zugleich unheilverkündend und verheißungsvoll.

Während ich fuhr, versuchte ich, mich nur auf den Regen zu konzentrieren, auf das hypnotisierende Quietschen der Scheibenwischer. Trotzdem wurde aus meiner Erleichterung schon bald etwas statisch Aufgeladenes, und sie verwandelte sich in Reue. War ich zu voreilig gewesen? Das Bild von Ians Gesicht – von seinen freundlichen Augen und seiner Enttäuschung, als ich gegangen war – weckte in mir den Wunsch, rechts ranzufahren und mir selbst in den Hintern zu treten.

Erst als ich mein Wohnviertel erreichte, wandten sich meine Gedanken meinem gemütlichen Sofa zu. Meinen Geschichten, meinen Büchern, meinem Raum. Bei dieser Vorstellung entspannte ich mich allmählich. Ich musste Mails von meinen Kunden beantworten und ein paar Lesungen erledigen. Ich konnte Mary das blöde Foto von der blöden Fritteuse zeigen. Und das Wichtigste: Ich hatte einen Beweis für sie, dass ich durchaus in der Lage war, in die Welt hinauszugehen – und dass ich mit meinen Bedenken deswegen recht gehabt hatte.

Samantha Garner

Über Samantha Garner

Biografie

Samantha Garner lebt als Autorin in Mississauga, Kanada. Sie veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten und Gedichte. „The Quiet is Loud“ ist ihr erster Roman.

Wie sieht dein Schreiballtag aus?
Ich wünschte, dass ich einen hochstrukturierten Schreibplan hätte, aber das ist mir nie gelungen. Dennoch arbeite ich jeden Tag an meinen Geschichten, sei es nun durch Schreiben, Brainstormen oder Recherchieren – je nachdem, was mir gerade am meisten zusagt oder notwendig erscheint. Ich neige dazu, vor allem morgens zu schreiben, bevor mein Brotjob zu viel Platz in meinem Gehirn beansprucht. Aber auch nachts zu schreiben hat etwas Magisches, wenn die Welt sich in Dunkelheit und Ruhe hüllt.

In deinem Roman „The Quiet is Loud“ gibt es sogenannte paradextrische Personen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Welche Bedeutung haben diese Fähigkeiten für deine Romanfiguren?
Als Kinder haben mein Bruder und ich gerne X-Men-Comics gelesen. Darin schien die jeweilige Superkraft immer einen allgemeinen Nutzen für die Person oder ihre Freunde zu haben. In einem Comicbook ist das lustig, aber mein Bruder und ich haben uns gefragt, was wäre, wenn die Superkraft oder paranormale Fähigkeit das eigene Leben nicht unbedingt verbessert. Für mich klingt es realistischer, dass solche Fähigkeiten manchmal banal sind. Die Charaktere in „The Quiet is Loud“ verbringen ihren Alltag damit, ein Gespür für ihre Fähigkeiten zu entwickeln und herauszufinden, welchen Einfluss diese auf ihr Leben und ihre Beziehungen haben. Sie fühlen sich zwangsläufig als Außenseiter, sei es in der Gesellschaft allgemein oder sogar bei ihren Familien und Freunden.

Die Protagonistin Freya arbeitet als Tarotkartenleserin. Welche Rolle spielen Tarotkarten und deren Bedeutung im Roman?
Ich hatte ein bisschen Erfahrung mit Tarotkarten, bevor ich das Buch geschrieben habe, und ich mochte, dass ihre Bedeutungen nicht wörtlich zu nehmen sind. Beim Tarotkartenlesen nimmt man die Bedeutung der Karte und vertieft sie, indem man sie anhand des Kontextes weiter interpretiert. Freyas prophetische Träume handeln in der Regel von Menschen, die sie kennt. Freya kann die Karten benutzen, um diese Menschen zu führen, ohne sie zu beunruhigen oder ihre übernatürliche Fähigkeit zu verraten. Ihr Tarotkartendeck erinnert Freya auch an besondere Momente mit ihrer verstorbenen Mutter, weshalb die Karten ihr Trost spenden. Freya befragt ihre Karten in Stresssituationen oder wenn sie selbst einen Wegweiser braucht. Sie bilden eine Brücke zwischen dem angespannten Alltag und den Geheimnissen des Selbst.

Was bedeutet Identität für deine Protagonistin Freya? Was hat dich dazu inspiriert, über dieses Thema zu schreiben?
Freya lebt in einer Gesellschaft, in der andersartige Menschen gefürchtet und verachtet werden. Sie hat außerdem einen mixed-race Hintergrund und wächst in einem Land auf, aus dem keines ihrer Elternteile kommt. Freya versucht, zu verstehen, wer sie ist und wo ihr Platz in der Welt ist. Freya und ich haben einen ähnlichen kulturellen Hintergrund, und so fiel es mir leicht, diese Gefühle in Worte zu fassen. Selbstfindung war schon immer ein interessantes Thema für mich. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, mich an verschiedene Gruppen anzupassen, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, mit einem Bein außerhalb dieser Gruppen zu stehen. Das hat mir geholfen, die unterschiedlichen Teile meiner Persönlichkeit auszubalancieren, was mir viel Stärke gegeben hat.

Pressestimmen
buecherseitenrascheln

„Eine ruhige Geschichte, deren Fokus auf die Protagonistin legt und damit aber völlig überzeugen kann.“

fantasyblogger.com

„Das leise Buch lebt davon, die Entwicklung der Hauptfigur mitzugehen. Es bestärkt laut all die Menschen, die sich selbst noch finden und zu ihrer Identität stehen müssen.“

fragmentansichten.com

„Alles ist clever konstruiert, vor allem für einen Debütroman, und definitiv ein Positivbeispiel für die zeitgenössische Entwicklung der Contemporary Fantasy.“

literatopia.de

„Samantha Garner erzählt einfühlsam, wie sich Freya erstmals Gleichgesinnten öffnet und es ist schön zu lesen, dass sie dabei meistens nicht überfordert wird und ihre Grenzen respektiert werden.“

Kommentare zum Buch
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