So überzeugt man mit Rhetorik - eBook-Ausgabe
Schlagfertig argumentieren mit Aristoteles, Lincoln und Homer Simpson
So überzeugt man mit Rhetorik — Inhalt
„Wenn Sie Menschen überzeugen wollen, wird Ihnen dieses Buch dabei helfen.“ The Independent
Wenn die Kinder nicht ins Bett wollen, der Chef die Gehaltserhöhung aufschiebt oder der Kontrolleur einen beim Schwarzfahren erwischt, hilft nur noch eines: Überzeugungskraft.
In seinem seit Jahren aufgelegten Standardwerk erklärt Jay Heinrichs anhand zahlreicher Beispiele, welche rhetorischen Strategien uns täglich in der Werbung, in der Politik oder in ganz normalen Gesprächen begegnen, und wie wir sie selbst einsetzen können, um uns in den unterschiedlichsten Lebenslagen argumentativ durchzusetzen.
Dabei unterstützen ihn die Kniffe so begabter Redner wie Cicero, Winston Churchill – und Homer Simpson. Ein kluges, lehrreiches und amüsantes Buch für alle, die die nächste verbale Auseinandersetzung endlich mal gewinnen möchten!
Leseprobe zu „So überzeugt man mit Rhetorik“
Vorwort
Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass John Quincy Adams, der sechste Präsident der Vereinigten Staaten, ihr Leben verändert hat. Wer es doch kann, ist weise, es für sich zu behalten. Freunde haben mir auch geraten, lieber nicht über meine Leidenschaft zur Rhetorik zu schreiben, die jahrtausendealte Kunst der Überzeugung.
Egal: John Quincy Adams hat mein Leben verändert, und zwar, indem er mir die Rhetorik nahegebracht hat.
Tut mir leid.
Vor Jahren schlenderte ich ohne besonderes Ziel durch die Bibliothek des Dartmouth College und griff [...]
Vorwort
Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass John Quincy Adams, der sechste Präsident der Vereinigten Staaten, ihr Leben verändert hat. Wer es doch kann, ist weise, es für sich zu behalten. Freunde haben mir auch geraten, lieber nicht über meine Leidenschaft zur Rhetorik zu schreiben, die jahrtausendealte Kunst der Überzeugung.
Egal: John Quincy Adams hat mein Leben verändert, und zwar, indem er mir die Rhetorik nahegebracht hat.
Tut mir leid.
Vor Jahren schlenderte ich ohne besonderes Ziel durch die Bibliothek des Dartmouth College und griff mir beliebige Bücher aus den Regalen. In einer dunklen Ecke stieß ich auf eine Abteilung über Rhetorik. In Augenhöhe stand ein staubiger, kastanienbrauner Band von Adams. Ich schlug ihn auf und fühlte mich im Nu wie ein Entdecker vor einem funkelnden Schatz.
Das Buch enthielt eine Reihe von Rhetorikvorlesungen, die Adams von 1805 bis 1809 am Harvard College gehalten hatte, als er Senator war und zwischen Massachusetts und Washington hin- und herpendelte. Gleich in der ersten dieser Vorlesungen hielt der dickbäuchige Sechsunddreißigjährige mit Stirnglatze seine stierenden Studis dazu an, die antike Redekunst zu studieren, um sich „jene schrankenlosen Kräfte anzueignen, die den Geist der Menschen nach dem Willen des Redners formen“. Der Macht der Stimme, so war Adams überzeugt, musste das Volk erliegen: Dem Redner winkte nichts Geringeres als die „Führung der Nation“. Das klang für mich mehr wie Hypnose als Politik. Cool, dachte ich: Rhetorik war anscheinend so etwas wie Sprachmagie, eine Art Gehirnwäsche zur Fernsteuerung von Menschen wie in dem Film Botschafter der Angst.
In den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich alles zum Thema Rhetorik verschlungen, was mir in die Hände fiel, und dabei ist mir etwas klar geworden: Adams Sprache mag antiquiert klingen, aber die Kräfte, die er beschrieb, sind real. Rhetorik bedeutet mehr als große Redekunst, mehr als „Wörter zu benutzen … um zu beeinflussen oder zu überzeugen“, wie es in Websters Wörterbuch heißt. Sie lehrt uns, zu argumentieren und ohne Wut zu streiten. Und Sie eröffnet die Chance, eine Quelle sozialer Macht anzuzapfen, von deren Existenz ich nie etwas geahnt hatte.
Man könnte sagen, dass mich die Redekunst von sich selbst überzeugt hat.
Concordia discors.
Harmonie in Uneinigkeit – Horaz
Einleitung
1.Öffne deine Augen
Das unsichtbare Argument
Eine persönliche Geschichte schrankenloser Überzeugungskraft
„Die Wahrheit entspringt dem Streit unter Freunden.“ –
David Hume
Es ist früh am Morgen. Mein siebzehnjähriger Sohn sitzt beim Frühstück, was mir eine kurze Spanne verschafft, selbst das Badezimmer zu benutzen. Mit einem Handtuch um die Lenden trete ich ans Waschbecken, wobei ich tunlichst den grauenvollen Anblick im Spiegel meide. Als Schriftsteller muss ich mich nicht jeden Tag rasieren. (Im Marketing nennt man Leute wie mich verzweifelt „Verbraucher mit wenig Sinn für ihr Äußeres“.) Ich habe allerdings meine Standards, und Hygiene ist einer davon. Ich schnappe mir Zahnbürste und Zahnpasta, nur um festzustellen, dass die Tube leer ist. Wir haben einen Vorrat, doch der befindet sich in einem Regal im eiskalten Keller, und dafür bin ich nicht angezogen.
„George!“, rufe ich. „Wer hat die ganze Zahnpasta aufgebraucht?“
Eine sarkastische Stimme auf der anderen Seite der Tür antwortet. „Das ist ja wohl nicht der Punkt, Papa, oder? Der Punkt ist, wie wir so etwas in Zukunft vermeiden.“
Er hat mich am Wickel. Unzählige Male habe ich ihm gesagt, dass die produktivsten Argumente die Zukunftsform benutzen, das Tempus der noch offenstehenden Wahlmöglichkeiten.
„Du hast recht“, gebe ich zu. „Du hast gewonnen. Bringst du mir jetzt bitte die Zahnpasta?“
„Na klar.“ George holt die Tube, glücklich, dass er seinen Vater in einem Rededuell geschlagen hat.
Probieren Sie dies in einer Besprechung
Antworten Sie, wenn Zweifel an Ihrer Idee laut werden: „Gut, optimieren wir sie.“ Fokussieren Sie die Debatte nun auf die Überarbeitung Ihres Vorschlags, als hätte ihn die Gruppe im Grundsatz bereits angenommen. Es ist eine Form der Konzession – rhetorisches Ju-Jutsu, mit dem Sie die Bewegung des Gegners zu Ihrem Vorteil nutzen.
Aber hatte er das wirklich? Wer bekam denn am Ende, was er wollte? In Wirklichkeit hatte ich ihn überredet, indem ich ihm den Punkt zugestand. Wenn ich einfach gesagt hätte: „Los, sei nicht so ein Faulpelz, hol mir die Zahnpasta“, hätte George vielleicht ein langes Palaver vom Zaun gebrochen. Stattdessen verschaffte ich ihm ein Triumphgefühl, gewann auf diese Weise sein Wohlwollen und bekam genau das, was ich wollte. Ich hatte den Gipfel der Überredungskunst erreicht: Nicht nur hatte ich eine Einigung erzielt, sondern mein Publikum – wohlgemerkt, einen Teenager! – auch noch dazu gebracht, meinen Wunsch zu erfüllen.
Nein, George, ich habe gewonnen.
Wie Matrix, nur cooler
Was ist das nur für ein Vater, der seinen eigenen Sohn in dieser Weise manipuliert? Ach, nennen wir es doch nicht Manipulation, nennen wir es Belehrung. Alle Eltern sollten die Rhetorik, die Kunst der überzeugenden Rede, als wesentliches Erziehungsmittel betrachten. Rhetorik ist die Kunst der Beeinflussung, der Freundschaft und Eloquenz, der Schlagfertigkeit und unabweisbaren Logik. Und sie macht die mächtigste aller sozialen Kräfte nutzbar, das Argument.
Nützliche Figur
Synkrise: Vergleichende Gegenüberstellung, vorzugsweise als scharfer Gegensatz: Nicht Manipulation, sondern Belehrung. Unten finden Sie ein ganzes Kapitel über Redefiguren sowie am Ende des Buches ein Glossar.
Rhetorischer Kniff!
Es ist nur fair, dass ich meine Karten offen auf den Tisch lege und Ihnen sage, wenn ich rhetorische Kniffe verwende, um Sie zu überreden. Die Matrix-Analogie ist mehr als ein populärkultureller Verweis auf einen Science-Fiction-Film; sie ist zugleich ein Hinweis auf etwas allgemein Akzeptiertes: die Existenz verborgener Mechanismen jenseits des Sichtbaren, von Computersoftware bis hin zur Quantenmechanik. Geteilte Anschauungen dieser Art werden in der Rhetorik als „Gemeinplätze“ bezeichnet und spielen, wie wir noch sehen werden, in der Kunst der Überredung eine elementare Rolle.
Ob wir es bemerken oder nicht: Ständig sind wir Versuchen ausgesetzt, uns zu überreden, mit unseren Gefühlen zu spielen, auf unsere Haltungen und Entscheidungen einzuwirken oder uns zum Kauf dieses oder jenes Artikels zu bewegen. Ob es um politische Etikettierungen geht, um Werbung, Jargon, Gesten oder das Wecken von Schuldgefühlen in manipulativer Absicht: Allenthalben sind wir Gegenstand argumentativer Einflussnahme. Sie bildet eine Art realweltlicher Matrix, gewissermaßen das Steuerungsprogramm unseres sozialen Lebens. Rhetorik kann dazu dienen, die vielfältigen Argumentationsweisen offenzulegen. Indem sie die Kniffe lehrt, mit denen wir einander überreden und überzeugen, offenbart die Kunst der Persuasion diese soziale Matrix in ihrer ganzen manipulativen Glorie.
Den Alten galt die Rhetorik als entscheidende Fähigkeit zur Menschenführung – ein derart wichtiges Wissen, dass sie es ins Zentrum ihrer höheren Bildung stellten. Die Redekunst lehrte, bei jeder Gelegenheit etwas Passendes zum Besten zu geben, aber vor allem, wie man überzeugend spricht und schreibt und die Menschen mit Wortgewalt für sich einnimmt. Nachdem die Griechen sie erfunden hatten, leistete die Rhetorik das Ihre bei der Schaffung der ersten Demokratien der Welt. Sie verlieh römischen Rednern wie Julius Cäsar und Marcus Tullius Cicero das nötige Rüstzeug und gab der Bibel ihre prägnantesten Passagen. Sie inspirierte sogar William Shakespeare. Alle amerikanischen Gründerväter hatten Rhetorik studiert und bedienten sich ihrer Prinzipien, als sie die Verfassung der Vereinigten Staaten schrieben.
Im 19. Jahrhundert, als Sozialwissenschaftler die Vorstellung verwarfen, der Einzelne könne etwas gegen die unerbittlichen Kräfte der Geschichte ausrichten, verblasste die Rhetorik an den Universitäten. Wer will schon Führungsqualitäten vermitteln, wo der Glaube an den Einfluss von Führungspersönlichkeiten abhandengekommen ist? Gleichzeitig verdrängten die nationalen Literaturen die Klassiker aus den Lehrplänen, das Denken der Antike geriet aus der Mode. Einige bemerkenswerte Menschen studierten die Kunst jedoch weiter. Der amerikanische Politiker und berühmte Redner Daniel Webster eignete sich die Rhetorik zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Dartmouth College an, als er der United Fraternity beitrat, einem Debattierclub, der Jahre später in Alpha Delta Phi umbenannt wurde und bis heute fortbesteht. Der Club besaß eine beeindruckende klassische Bibliothek und lud einmal in der Woche zur Diskussion. Es gibt eine amerikanische Filmkomödie von 1978, Ich glaub, mich tritt ein Pferd, die den Debattierclub auf die Schippe nimmt. Den „Clubbrüdern“ dieser populären Darstellung ist ihr klassisches Erbe zumindest noch in ihren „Toga-Partys“ vage in Erinnerung.
Rhetorischer Kniff!
Hier zerre ich Sie von Daniel Webster zu einer Filmkomödie, nicht nur, um den Niedergang der Rhetorik zu veranschaulichen, sondern um Sie unbewusst für meine Position einzunehmen. Auf welcher Seite stehen Sie, auf der des großen Redners oder auf der des Filmklamauks? Der technische Ausdruck für diese Zwangsehe kontrastierender Gedanken heißt Antithese, das heißt „entgegengesetzte Ideen“.
Rhetorik wird an verstreuten Colleges und Universitäten bis heute gelehrt – tatsächlich ist die Beliebtheit des Fachs bei Studierenden des Grundstudiums stark gewachsen –, aber außerhalb der akademischen Welt ist sie beinahe ganz in Vergessenheit geraten. Was für ein Jammer! Stellen Sie sich vor, Sie hätten noch nie etwas von Newtons Gravitationsgesetz und den Kräften gehört, die das Universum antreiben, oder Sie machten zum ersten Mal Bekanntschaft mit Sigmund Freuds Modell der menschlichen Psyche, und plötzlich wird Ihnen Ihr Unbewusstes bewusst, wo das Es, das Ich und das Über-Ich ihre stillen Argumente wechseln.
Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben: Ich möchte Sie durch diese wenig bekannte Welt der gediegenen Argumentation führen und Sie unter den Erwählten der Kunst der Persuasion willkommen heißen. Unterwegs bietet sich Ihnen die Gelegenheit, Ihr Image zu verbessern, indem Sie den drei von Aristoteles benannten Zügen überzeugender Führerschaft nacheifern: Tugend, Selbstlosigkeit und praktische Vernunft. Sie werden entdecken, wie Sie logische Hilfsmittel einsetzen können, um Trugschlüsse zu vermeiden und mit wasserdichten Feststellungen zu überzeugen. Aristoteles’ Prinzipien werden Ihnen auch bei der Entscheidung behilflich sein, welches Medium – Text, Telefongespräch, Himmelsschrift? – bei jeder Mitteilung die beste Wirkung erzielt. Sie werden nebenbei eine schlichte Strategie kennenlernen, wie man einen in wütenden Anschuldigungen stecken gebliebenen Streit wieder aus der Sackgasse führt.
Probieren Sie dies bei einer Präsentation
Dem Publikum den Mund wässrig zu machen – „Warten Sie erst, was gleich noch kommt!“ –, ist ein Trick, den schon die Römer zwei Jahrtausende vor Erfindung der Dauerwerbesendung nutzten. Sie gaben ihm den hübschen Namen dirimens copulatio, was so viel heißt wie „mittels einer Unterbrechung eine Verbindung herstellen“. Es ist eine Form der Amplifikation, eine wichtige rhetorische Methode, mit der Sie beim Sprechen sozusagen den Ton lauter stellen. Bei einer Präsentation können Sie eine Aussage anreichern, indem Sie diese erweitern: „Wir haben nicht nur dies, sondern auch …“
Und das ist erst der Anfang. Die folgenden Seiten enthalten über hundert „Argumentationshilfsmittel“, die antiken Texten entliehen und an moderne Situationen angepasst sind, zusammen mit Anregungen, diese Techniken zu Hause, in der Schule oder auf der Arbeit auszuprobieren. Sie werden sehen, wann man am besten mit Logik argumentiert und wann man sich besser auf eine emotionale Strategie stützt. Sie werden ideenprägende Redefiguren und praxiserprobte Taktiken der Überzeugung erwerben, darunter Aristoteles’ unwiderstehliches Enthymem, ein elegantes Beweisbündel, das leichter zu benutzen als auszusprechen ist. Sie werden sehen, wie Sie sogar aus Ihren eigenen Patzern Kapital schlagen können. Schließlich werden Sie entdecken, dass die zwingendsten Mittel zur Überzeugung anderer Menschen in der Identität des Publikums selbst zu finden sind.
Am Ende des Buches werden Sie die rhetorischen Tricks beherrschen, um die Aufmerksamkeit eines Publikums in Ihren Bann zu schlagen. Von einer gut gehaltenen Rede lassen sich Menschen noch immer gefangen nehmen; die besten Redner können höhere Eintrittsgelder verlangen als so mancher große Popstar. Ich widme auch ein ganzes Kapitel Ciceros eleganter Methode zur Verfertigung einer Rede – Themenfindung, Gliederung, Stil, Einprägung und Vortrag –, ein System, das den größten Rednern die letzten zweitausend Jahre als Vorbild diente.
Großartige Argumente benötigen jedoch nicht immer eine ausgefeilte Sprache. Die wirkungsvollste Rhetorik verschleiert ihre Kunstfertigkeit. Unten werde ich Ihnen ein rhetorisches Mittel verraten, wie Sie mit schierer Zungenfertigkeit Ideen in die Köpfe Ihrer Zuhörer pflanzen.
Neben all diesem praktischen Nutzen bietet uns die Rhetorik noch einen erhabeneren, immateriellen Lohn: Sie rüttelt uns auf und schenkt uns eine ganz neue Sicht auf das Menschsein. Wenn wir uns der Allgegenwart der Überredungskunst um uns herum erst einmal bewusst geworden sind, wird die Welt für uns nie wieder dieselbe sein.
Ich selbst bin der lebende Beweis dafür.
Oh, Baby, gib mir mehr
Um zu sehen, wie alles durchdringend die Rhetorik ist, habe ich mir kürzlich vorgenommen, es einen ganzen Tag lang ohne Überredungskunst zu versuchen – ein Tag frei von Werbung, Politik, familiärem Gezänk und jeglicher psychologischen Manipulation. Ich wollte mich einen Tag lang von niemandem überzeugen lassen und es umgekehrt ebenso vermeiden, andere zu etwas zu überreden. Hey, an diesem Tag wollte ich nicht einmal mich selbst von etwas überzeugen. Niemand, nicht einmal ich selbst, sollte mir sagen, was ich tun oder lassen sollte.
Wenn sich irgendjemand für dieses Experiment qualifiziert fühlen durfte, so gewiss ein ausgewiesener Einsiedler wie ich. Ich arbeite freiberuflich; tatsächlich arbeite ich, nachdem ich eine Karriere im Journalismus und im Verlagsgeschäft aufgegeben habe, ganz allein in einer Hütte in beträchtlicher Entfernung von unserem Haus. Ich lebe in einem kleinen Dorf im Norden Neuenglands, einer Gegend, die sich der überredungsresistentesten Menschen des Planeten rühmen kann. Leute wie ich bereiten der Werbewirtschaft Albträume: kein Fernseher, kein Smartphone, Schmalband-Internet via Modem. Ich bin werbefrei, höre nur National Public Radio und bin ein durch und durch eigenständiger, individualistischer, überredungsresistenter Mensch.
Schön wär’s.
Der Wecker meiner Armbanduhr klingelt um sechs. Ich stelle ihn gewöhnlich, um mich selbst damit aus dem Bett zu scheuchen, aber jetzt ignoriere ich ihn. Ich starre an die Decke, wo der Rauchmelder beruhigend blinkt. Würde er Qualm bemerken, würde er Alarm geben, eine Sirene, die noch den tiefsten Schläfer aus dem Schlummer reißen würde. Der Philosoph Aristoteles hätte die Rhetorik des Melders gebilligt; er verstand, welche Macht das Gefühl bei der Motivation von Menschen besitzt.
Gegenwärtig hat der Melder nichts zu vermelden, meine Katze dagegen schon. Sie springt aufs Bett und steckt ihre Nase unter meine Achselhöhle. So zuverlässig wie meine Uhr und doppelt so nervig, verfügt die Katze angesichts ihrer fünf dummen, pelzigen Kilo Lebendgewicht über bemerkenswert viel Überredungskraft. Statt Worte benutzt sie Gesten und den Klang ihrer Stimme – machtvolle Argumentationsmittel. Ich widerstehe stoisch. Keine Katze wird mich heute Morgen herumkommandieren.
Wieder klingelt meine Armbanduhr. Ich trage eine Uhr, deren Name sich von einem selbstquälerischen Sportereignis ableitet: Timex Ironman. Wenn sie für einen Masochisten taugt, der es auf sich nimmt, am Stück knapp vier Kilometer zu schwimmen, über hundertachtzig Kilometer Rad zu fahren und über zweiundvierzig Kilometer Marathon zu laufen, dann erfüllt sie ihren Sinn vermutlich auch bei jemandem wie mir, der seine Mittagszeit damit verbringt, zu einem Bach zu stiefeln, um dort nach Fischen zu schauen. Die alten Römer würden den Reiz der Ironman-Marke argumentum a fortiori nennen. Die Logik dahinter ist folgende: Wenn etwas auf die harte Tour funktioniert, ist es wahrscheinlich, dass es auch auf die weiche klappt, das heißt, die stärkere Behauptung beweist die schwächere gleich mit. In der Werbung ist dieses Argument beliebt. Vor Jahren brachte ein Hersteller von Frühstücksflocken einen Werbespot mit dem kleinen Jungen Mikey, einem pingeligen Esser. Seine beiden älteren Brüder probierten die neue Cerealien-Marke zuerst an ihm aus in der Annahme, dass alle sie mögen würden, falls Mikey sie mochte. Und er mochte sie! Eine Cerealien-Werbung als argumentum a fortiori. Das stärkere Argument für Kauf und Verwendung meiner Ironman-Uhr spricht mich persönlich jedoch gar nicht an. Ich habe sie gekauft, weil sie praktisch ist. Ich bin, Sie erinnern sich, gegen Werbung immun.
Probieren Sie dies zu Hause
Wenn Ihnen bei der Vorstellung, Ihre Lieben zu manipulieren, die Haare zu Berge stehen, probieren Sie es mit reiner Logik – keine Gefühle, keine versteckten Taktiken, keine Verweise auf Ihre Autorität oder die Opfer, die Sie bringen. Tun Sie dies einen ganzen Tag lang, und Sie werden vielleicht überrascht feststellen, dass der Unmut über Sie in der Familie wächst. Verführung ist ein großer Friedensstifter.
Aber das Piepsen der Uhr treibt mich in den Wahnsinn. Da bin ich, noch nicht einmal aufgestanden, und schon sinniere ich über die emotionalen Appelle einer Katze und eines Rauchmelders und über den vermeintlich überzeugenderen Kaufgrund meiner Armbanduhr. Ich schwinge mich ächzend aus dem Bett und spreche in den Spiegel, was ich ihm jeden Morgen sage: „Lass dir von keinem irgendetwas gefallen.“
Die Katze beißt mir in die Ferse. Ich schnappe mir mein Handtuch und bereite ihr Frühstück zu. Fünf Minuten später geht mir die Zahnpasta aus, und ich argumentiere mit meinem Sohn. Kein guter Start für mein Experiment, das vorsieht, einen Tag lang ohne Überredungskunst auszukommen. Ich verbuche meine Startschwierigkeiten unter dem, was Wissenschaftler euphemistisch „Artefakt“ nennen (sprich: saudummer Fehler), und fahre fort. Ich mache Kaffee, nehme einen Stift zur Hand und kritzle demonstrativ in mein Notizbuch. Damit ist im literarischen Sinn wenig geschafft – ich kann vor dem ersten Kaffee mein eigenes Gekrakel kaum lesen –, aber es führt zu wunderbaren rhetorischen Ergebnissen: Wenn mich meine Frau schreiben sieht, bringt sie mir oft von sich aus das Frühstück.
Tipps von den Alten
Als die Justiz noch nicht blind war
Laut Aristoteles siegt das Gefühl über die Logik. Ein berühmter römischer Redner bewies dies in einem Prozess, in dem er eine schöne, wegen Prostitution angeklagte Priesterin des Aphrodite-Tempels verteidigte. Als die Sache der Verteidigung in schwieriges Fahrwasser geriet, ließ der Redner die junge Frau mitten auf dem Forum Romanum aufstehen und riss ihr die Kleider vom Leib. Es wirkte. Bewegt von diesem Akt „strategischer Pornografie“ der kurvenreichen Dienerin der Liebesgöttin, sprach die (rein männliche) Jury sie frei. Mit der gleichen Methode kam Sharon Stone in dem Film Basic Instinct mit Mord davon.
Habe ich gerade mein eigenes Experiment demoliert? Ich schirme mein Notizbuch vor neugierigen Blicken ab und kritzle eine Einkaufsliste. Na bitte, das zählt auch als Schreiben.
Dorothy arbeitet wieder Vollzeit, seit ich meinen Beruf aufgegeben habe. Die Abmachung war, dass ich das Kochen übernehme, aber sie liebt es, in ihrem Ehemann den inspirierten Schriftsteller zu sehen und sich selbst als seine fähige Stütze. Meine Frau ist ein Goldschatz, und bei vielen Frauen wie ihr haben inspirierte Schriftsteller offenbar einen Stein im Brett. Natürlich ist es in Wirklichkeit vielleicht genau umgekehrt, womöglich ist sie es, die mich rumkriegt: Indem sie die Art von Goldschatz spielt, die auf inspirierte Schriftsteller steht, macht sie mich an. Verführung gehört zu den hinterlistigsten – und berückendsten – Formen der Überredung.
Verführung dient auch nicht nur dem Sex. Frederick Kaufman hat in einem Artikel in Harper’s Magazine aufgezeigt, dass sich der Fernsehsender Food Network identischer Techniken bedient wie die Pornoindustrie: zu lauter Ton, sehr wenig Handlung und gut aussehende Präsentatoren und Köche zusammen mit üppigen Nahaufnahmen von festem Fleisch und fließenden Säften.
RACHEL RAY: Linsen quellen richtig auf, wenn man sie kocht. Sie saugen einfach die ganze Flüssigkeit auf, wenn sie weich und zart werden.
EMERIL LAGASSE: Und rein mit den Bananen. O ja, Baby. Machen wir sie sofort glücklich!
Wir leben in einer verwickelten, dunklen (beinahe hätte ich hinzugefügt, „feuchten“) Welt der Überredung. Ein Autohändler hat mir einmal fünfzehntausend Dollar für einen gebrauchten Wagen abgeluchst. Ich war mit meiner Familie gerade nach Connecticut gezogen und brauchte einen günstigen fahrbaren Untersatz. Es war ein harter Umzug gewesen; ich war nicht gut aufgelegt. Der Händler nagelte mich auf dem Stellplatz fest, noch bevor ich ein Wort gesagt hatte: Er zeigte auf einen bescheiden wirkenden Ford Taurus Sedan, schlug eine Probefahrt vor und fragte, kaum dass ich den Sicherheitsgurt angelegt hatte: „Möchten Sie P. T. Barnums Grab sehen?“ Und ob ich das wollte!
Der Friedhof des legendären Zirkuspioniers war fantastisch. Wir mussten vor Pfauen halten; auf den Zweigen einer riesigen Tanne hockten leuchtend grüne Papageien. Gegenüber Barnums beeindruckendem Denkmal prunkte das Grabmal von Tom Thumb mit einer lebensgroßen Statue des zwergenhaften Zirkusmillionärs. Begeistert von unserer Probefahrt, tat ich alles, was der Verkäufer vorschlug. Sein Vorschlag bestand darin, ihm den Ford abzukaufen. Es war eine Schrottkiste.
Er hatte mich taxiert und meine Stimmung aufgehellt; er hatte mich verführt, und, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte es genossen. Am nächsten Morgen kamen mir Bedenken, aber ich bereute es nicht. Es geschah in beiderseitigem Einverständnis.
Was uns zum großartigen Lohn der Überredung führt: dem Konsens. Konsens bedeutet mehr als nur Einigung, er ist auch viel mehr als ein Kompromiss. Der Konsens repräsentiert den gesunden Menschenverstand eines Publikums. Tatsächlich ist er der gesunde Menschenverstand im Sinne eines geteilten Glaubens an die Richtigkeit einer Wahl – die Entscheidung oder Handlung, die man will. Und hier kommt Verführung ins Spiel. Wie Augustinus wusste, verlangt Glaube nach einem Gefühl.
Verführung ist Manipulation, eben daraus besteht die Hälfte der Überredung, deshalb scheuen viele von uns davor zurück. Aber Verführung führt noch zu mehr als einvernehmlichem Sex. Sie kann uns zum Konsens führen. Selbst der Erzlogiker Aristoteles glaubte an die heilende Macht der Verführung. Logik allein wird Menschen nur selten zu etwas bewegen. Sie müssen sich wünschen, etwas zu tun. Ihnen mögen die manipulativen Aspekte der Verführung nicht gefallen; dennoch, sie stellt den Kampf, den wir gewöhnlich mit argumentierender Rede verwechseln, in den Schatten.
Die Vögel tun es auch …
Unterdessen wird mein Experiment jeden Augenblick zweifelhafter. Als ich aus dem Bad komme, stellt Dorothy einen Teller Rührei auf den Tisch, streift sich die Anzugjacke über und gibt mir einen Abschiedskuss. „Vergiss nicht, ich komme spät nach Hause, und auf dem Empfang heute Abend gibt es auf jeden Fall etwas zu essen“, informiert sie mich und macht sich auf den Weg zu ihrem Job als Fundraiser einer juristischen Fakultät. (Spendensammeln und Jura: Kann es noch rhetorischer werden?)
Probieren Sie dies auf der Arbeit
Sie können auch bei einer Präsentation Verführung – der nicht-sexuellen Art – einsetzen. Wird Ihr Plan die Effizienz erhöhen? Bringen Sie Ihre Zuhörer dazu, geradezu danach zu lechzen; malen Sie aus, wie es wäre, wenn sie wirklich Mittagspause machen könnten und mehr von ihren Familien hätten.
Ich wende mich an George. „Willst du mit mir zu Abend essen oder bleibst du in der Schule?“ George ist Tagesschüler auf einem Internat. Er hasst das Essen dort.
„Weiß nicht“, erwidert er. „Ich rufe von der Schule aus an.“
Ich will heute lange arbeiten und habe keine rechte Lust zu kochen, möchte aber ungern bei George den Eindruck erwecken, meine Arbeit besäße für mich einen höheren Stellenwert als er. „Na gut“, sage ich und füge mit so großem Enthusiasmus hinzu, wie ich nur heucheln kann: „Es gibt Eintopf!“
„Iiieh“, stößt George wie aufs Stichwort hervor. Er verabscheut meinen Eintopf noch mehr als das Schulessen. Die Chancen, dass ich heute Abend koche, sind gerade stark gesunken.
Ups! Habe ich es doch schon wieder getan. Und so geht mein Tag dahin. In meiner Bürohütte schicke ich E-Mails an Lektoren mit schmeichelhaften Erklärungen, warum ich ihre Abgabetermine versäumt habe (schließlich will ich ja nur ihren hohen Ansprüchen gerecht werden!). Ich verschiebe den Anruf bei Sears, um mich über eine Rechnung von 147 Dollar für die Ersetzung einer Ofenschraube zu beschweren. Als ich schließlich doch anrufe, nehme ich mir Zeit, die Situation zu erläutern. Ein Nachlass auf die Rechnung wird das Unternehmen billiger kommen, als sich weiter mit mir auseinanderzusetzen.
Zur Mittagszeit schnappe ich mir etwas zu essen und gehe draußen spazieren. Auf einem Granitfelsen liegt ein Häuflein Fuchskot. „Meins“, sagt der Fuchs mit diesem Exkrement. „Dieser Platz gehört mir.“ Reviertiere wie Füchse und Vorstädter verwenden komplizierte Signale, um Territorien zu markieren und Eindringlinge zu entmutigen: Fußspuren, Moschus, Kot, Zäune, Alarmanlagen, Heiratsurkunden … Mit solchen Signalen unterstreichen wir unsere Positionen. Überredungskunst liegt uns buchstäblich im Blut.
Probieren Sie dies, wenn man Sie abzuwimmeln versucht
Dieser Trick funktioniert bei den meisten Verwaltungsangestellten. Tun Sie so, als hätten Sie alle Zeit der Welt, und präsentieren Sie Ihre Sache als das geringere von zwei Übeln. Entweder man gewährt Ihnen einen Nachlass, oder die Gegenseite muss damit rechnen, noch mehr Zeit mit Ihnen zu vergeuden. Büromenschen sind wie Wasser, sie folgen dem Weg des geringsten Widerstands.
Eine Nachtigall trällert ein Liedchen und warnt damit Rivalen, ihr nicht ins Gehege zu kommen. Ohne innezuhalten singt sie die gleiche Phrase rückwärts, eine Stilfigur, die Chiasmus genannt wird. Bei dieser Überkreuzung wird eine Phrase spiegelbildlich wiederholt: „Die Welt ist groß, klein ist der Verstand.“ Auch den gegenteiligen Gedanken kann man, wie Schiller im Wallenstein, mit einem Chiasmus ausdrücken: „Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit.“
Probieren Sie dies bei einem Vortrag
Präsentieren Sie ein Argument mit einem Chiasmus, indem Sie eine Aussage ins Gegenteil spiegeln: „Entweder wir kontrollieren die Ausgaben – oder die Ausgaben kontrollieren uns.“
Unsere Kultur schätzt Redefiguren zu gering, aber nur, weil den meisten von uns der rhetorische Verstand abgeht, sie zu handhaben. Sie können eine überraschende Wirkungsmacht entfalten. John F. Kennedy verwendete einen Chiasmus in seiner Antrittsrede: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Tausende folgten diesem Aufruf und drängten ins Friedenskorps. Ich entdeckte früh meine Begeisterung für Redefiguren und rief bald eine ihnen gewidmete Website ins Leben, Figarospeech.com. Redefiguren geben einem Memo oder Vortrag Glanz und können im Alltag die langweiligsten Gespräche in schlagfertige Wortwechsel verwandeln.
Rhetorischer Kniff!
Hey, klasse: Ein Präsident verwendet einen Chiasmus, und schon strömen die Leute in Scharen ins Friedenskorps! Wirklich? Ich nutze hier eine der überzeugenderen Möglichkeiten, mit Logik zu schummeln: Weil B auf A folgt, so lege ich nahe, ist A die Ursache von B. Ich nenne es den Gockelfehler, nach dem Hahn, der dachte, sein Krähen ließe die Sonne aufgehen.
Das Telefon klingelt, als ich zurück in die Hütte komme. Es ist George, der anruft, um mir mitzuteilen, dass er in der Schule isst. (Japp!) Also arbeite ich lange und belohne mich ab und zu mit einem Flipperspiel am Computer. Ich habe festgestellt, dass ich mit solchen Spielunterbrechungen längere Phasen still sitzen kann. Ist auch das Überzeugungsarbeit? Ich schätze, ja. Mein „rhetorikfreier Tag“ hat sich als verflucht rhetorisch, aber trotzdem ganz angenehm erwiesen.
Schließlich mache ich Schluss mit der Arbeit und begebe mich für eine Dusche und Rasur nach Hause, obwohl heute gar nicht mein Rasurtag ist. Meine Frau hat mit einem Haufen gut aussehender, gut angezogener Männer zu tun, und ab und zu möchte ich mithilfe von Rasierer, Kamm und Kleidung einen Revierruf loswerden, um sie zu überzeugen, dass sie keinen Penner geheiratet hat. Ich streife einen Kaschmirpullover über, der meinen Augen, wie Dorothy sagt, einen Schlafzimmerblick verleiht, und komme ihr an der Tür mit einem kalten Gin Tonic entgegen.
Möge die Verführung beginnen.
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