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Niemands Land

Philip Dröge
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Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte

„Eine skurrile Episode europäischer Geschichte, vom Autor auf der Basis historischer Dokumente im Plauderton erzählt.“ - P.M. History

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Niemands Land — Inhalt

Ein Unfall der Geschichte, mitten in Europa, und seine Folgen

1816 fiel ein kleines Stückchen Land in der Nähe von Aachen zwischen alle Stühle: Sowohl Preußen als auch die Vereinigten Niederlande beanspruchten das Gebiet für sich, und man konnte sich partout nicht einigen, weil ausgerechnet dort eine wirtschaftlich bedeutsame Zinkmine lag. So kam es zu einem phantastischen Provisorium, das über hundert Jahre währen sollte – einem 3,4 Quadratkilometer großen Mikro-Land namens „Neutral-Moresnet“ mit zunächst 256 Einwohnern, von denen keiner so richtig wusste, wohin man eigentlich gehörte. Moresnet wurde zu einem Eldorado für Schmuggler, Abenteurer und Träumer aller Couleur, bis es im Ersten Weltkrieg von den Deutschen besetzt und 1919 dann Belgien zugeschlagen wurde. Eine unglaublich skurrile Geschichte, charmant und humorvoll erzählt.

„Historische Erzählkunst auf höchstem Niveau“NRC Handelsblad

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 02.10.2018
Übersetzt von: Christiane Burkhardt
288 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31429-9
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Übersetzt von: Christiane Burkhardt
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97643-5
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Leseprobe zu „Niemands Land“

Vorbemerkung

Nichts in diesem Buch ist frei erfunden. Alle beschriebenen Ereignisse und Personen beruhen auf Briefen, Augenzeugenberichten, (Auto-)Biografien, Archivmaterial, Zeitungsartikeln und anderen Quellen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich einige Episoden leicht dramatisiert. Welche genau das sind, lässt sich im Quellennachweis nachlesen.

Da Moresnet im Schnittpunkt verschiedener Sprachen liegt, gibt es für Personennamen je nach Quelle unterschiedliche Schreibweisen. Ein und dieselbe Person kann daher sowohl Charles, Karel als auch Karl [...]

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Vorbemerkung

Nichts in diesem Buch ist frei erfunden. Alle beschriebenen Ereignisse und Personen beruhen auf Briefen, Augenzeugenberichten, (Auto-)Biografien, Archivmaterial, Zeitungsartikeln und anderen Quellen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich einige Episoden leicht dramatisiert. Welche genau das sind, lässt sich im Quellennachweis nachlesen.

Da Moresnet im Schnittpunkt verschiedener Sprachen liegt, gibt es für Personennamen je nach Quelle unterschiedliche Schreibweisen. Ein und dieselbe Person kann daher sowohl Charles, Karel als auch Karl heißen. Ich habe mich an der Schreibung orientiert, auf die ich in den Quellen am häufigsten gestoßen bin. Was die Ortsnamen in Moresnet und Umgebung betrifft, folge ich der im 20. Jahrhundert gültigen Orthografie vor der großen „Französisierung“ Walloniens und Ostbelgiens. Henri-Chapelle heißt daher Hendrikkapelle. Bei internationalen Ortsnamen habe ich die moderne Schreibweise verwendet.

Geldbeträge gebe ich in der Währung an, die meine Quellen nennen. Beim „Franc“ geht es, wenn nicht anders angegeben, um den französischen Franc. Das ist insofern unproblematisch, als belgische und französische Francs seit der Gründung der Lateinischen Münzunion im Jahr 1865 genau gleich viel wert waren. Die Kaufkraft bestimmter Währungen beruht auf der Datenbank Global Prices and Incomes der University of California, Davis, sowie auf dem Kaufkraftrechner des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam (siehe Quellenverzeichnis).

 

Philip Dröge

Amsterdam im Januar 2016

 

 

1 Baden gehen mit Napoleon

Eines der Bäder im Schloss Fontainebleau, Herbst 1810

 

Ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit glattem Haar betritt das Zimmer und geht auf eine seltsame Metallwanne in dessen Mitte zu. Ihm folgt mit Trippelschritten fast unsichtbar sein Leibdiener, der gerade noch rechtzeitig den von seinem Herrn abgelegten Wollmantel in Empfang nehmen kann.

Mit einem Bein überwindet Napoleon Bonaparte den hohen Wannenrand. Dann zieht der Feldherr das andere nach und lässt sich beglückt ins dampfende Wasser sinken. Er hat auch allen Grund, zufrieden zu sein, denn niemand auf dem europäischen Kontinent hat eine so prächtige Wanne wie er. Nicht einmal der russische Zar.

Eine gute Stunde verbringt Napoleon im Wasser, und das ist alles andere als Zeitverschwendung: Während er in der Wanne planscht, bespricht er sich mit seinem Sekretär, Baron Fain. Die beiden gehen Unterlagen durch, der Kaiser der Franzosen diktiert ein paar Briefe, und dann wird geschaut, ob etwas Interessantes in der Zeitung steht.

Das Tolle an dieser Wanne ist, dass das Wasser währenddessen nicht kalt wird. An ihrer Rückseite befindet sich ein kleiner Metallzylinder mit glühenden Holzkohlen, der über zwei Rohre mit der Wanne verbunden ist. Mithilfe eines ausgeklügelten Systems wird in diesen Rohren Wasser angesaugt, erwärmt und genau in der richtigen Temperatur wieder in die Wanne entlassen.

Napoleon, der bekanntermaßen äußerst verfroren ist, kann sich keinen besseren Start in den Tag vorstellen als ein Bad in dieser Wanne. Selbst wenn er zu einem Feldzug aufbricht, muss die Wanne mit, egal, welch große Entfernungen überwunden werden müssen. Zum Glück ist das Ding relativ leicht und zerlegbar. Unvorstellbar, dass er einmal ohne auskommen konnte!

 

Wenn es jemandem gelungen ist, einem, der längst alles hat, das perfekte Geschenk zu machen, dann Jean-Jacques Daniel Dony. Der Mann aus Lüttich ist Erfinder und hat die Wanne, die er Napoleon verehrt hat, selbst erfunden und konstruiert. Dony ist seiner Zeit weit voraus – vor allem der thermische Siphon, der das Wasser automatisch erwärmt und im Kreis pumpt, ist einfach genial. Erst dreißig Jahre später wird sich ein britischer Forscher ein vergleichbares System patentieren lassen.

Doch Dony, ein Freund Napoleons, ist noch viel mehr als nur ein handwerklich begabter Erfinder. Er ist Metallurg und Chemiker, darüber hinaus Laienpriester – wenn auch nur in seiner Freizeit. Und er versucht sich als Geschäftsmann. Die Badewanne ist daher nicht nur einfach ein Geschenk, sondern auch ein Werbepräsent.

Der französische Kaiser und Dony kennen sich schon eine ganze Weile, die Geschäftsbeziehungen zwischen Erfinder und Diktator reichen bis ins Jahr 1805 zurück. Damals bittet Dony Napoleon um die Erteilung einer Konzession, auf 800 Hektar des Departements Ourthe mitten im französischen Kaiserreich nach Metallen schürfen zu dürfen. Vor allem auf den dünn besiedelten Landstrich zwischen Lüttich und Aachen hat er es abgesehen.

Napoleon berät sich mit seinem Bergwerksdienst. Was will Dony in diesem Gebiet? Die Ingenieure verfassen einen detaillierten Bericht über die dort vorhandenen Bodenschätze: Nördlich des Dorfs Kelmis, in der Gemeinde Moresnet, inmitten des Territoriums, für das Dony eine Konzession beantragt hat, befindet sich in geringer Tiefe eine große Ader Zinkspat, aus dem sich Zinkpulver herstellen lässt. Es gibt dort eine kleine Mine, in der das gelbbraune Mineral von einer Handvoll Arbeiter abgebaut wird. In dem Bericht steht auch, dass die Mine bereits seit dem 15. Jahrhundert in Betrieb ist.

Um den Zinkspat geht es Dony vermutlich. Aber warum? Dieser Rohstoff ist äußerst schwer zu bearbeiten und die Absatzmöglichkeiten sind gering, weshalb Privatbetriebe normalerweise kein Interesse daran haben. Die Mine gehört einem französischen Staatsbetrieb, der den Abbau überwacht. Der Hügel hinter der Mine heißt auf Deutsch Altenberg (im Regionaldialekt Aeuwe Bäersch), sodass die Franzosen ihren Zinkbetrieb Vieille Montagne genannt haben.

Das Beste, was man damals mit Zinkspat anfangen kann, ist, ihn in einen mit Steinkohle beheizten Ofen zu geben. Darin bersten die das Erz enthaltenden Steine aufgrund der Hitze. Die so entstandenen Brocken zermahlt man anschließend zu einem weißen, stark zinkoxidhaltigen Pulver. Vermengt man dieses Pulver mit flüssigem Kupfer, entsteht eine harte Legierung: Messing. Dieses Prozedere kannten bereits die alten Griechen. Doch Messing ist zu teuer, um groß Verwendung zu finden, in erster Linie werden daraus Maschinenteile hergestellt. Fabriken produzieren es daher ausschließlich in winzigen Mengen – Zinkspat ist ein echtes Nischenprodukt. In den Öfen geht außerdem viel Zink verloren. Wegen der großen Hitze, die man braucht, um die Steine bersten zu lassen, wird ein Teil des Zinks sofort gasförmig und verschwindet durch den Schlot. Auch deshalb rechnet sich dieses Vorgehen in größerem Maßstab nicht.

Warum ist Dony bereit, die nicht gerade geringe Pachtsumme von 40 500 Francs im Jahr zu zahlen, nur um die Zinkvorkommen in und um Kelmis ausbeuten zu dürfen? Für diese Summe bekommt man in Paris ein schönes Haus – und das jedes Jahr aufs Neue!

Der Laienpriester aus Lüttich ist kein Spinner. Er hat in seinem Labor eine neue Methode zur Zinkgewinnung entwickelt, den sogenannten Reduktionsofen. Eine geniale Konstruktion, die aus einem geschlossenen Ofen besteht, in dem so gut wie kein Sauerstoff vorhanden ist. Das Zinkspat enthaltende Gestein wird darin zwischen mehreren Lagen glühender Steinkohle erhitzt. So stark, dass fast sämtliches im Stein enthaltene Zink gasförmig wird und mit der Wärme nach oben steigt.

Nur dass das Gas nicht durch den Schlot entweicht. Dony verwendet ein System, das an eine Schnapsdestille erinnert: Über ein Rohr steigen die Zinkgase nach oben, wo sie fernab der Wärmequelle abkühlen. Dabei wird das Gas flüssig und von mehreren schräg montierten Platten aufgefangen. Von dort tropft es in eine Wanne, wo es schließlich erstarrt. Das Resultat ist ein hochgradig reiner Klumpen Zink.

In einer Zeit, in der die Metallurgie noch in den Kinderschuhen steckt, ist diese Erfindung geradezu revolutionär. Im Grunde müsste Dony in einem Atemzug mit den Genies seiner Zeit wie Voltaire, Watt und Faraday genannt werden. Seiner Erfindung ist es zu verdanken, dass Zink erstmals in großen Mengen hergestellt werden kann – ein unglaublich praktisches Material, da es relativ leicht und stabil ist und sich problemlos zu Platten auswalzen lässt. Diese Platten können wiederum mithilfe einer Presse, einer Matrize und etwas Wärme in fast jede nur erdenkliche Form gebracht werden.

Ganz zu schweigen vom vielleicht größten Vorteil von Zink, nämlich dass es nicht rostet. Man kann es daher an allen Orten benutzen, wo es mit Wasser in Berührung kommt: Es eignet sich zum Decken von Dächern genauso wie zum Auskleiden von Becken oder Leitungen. Taucht man Eisen in flüssiges Zink, versieht man es mit einer Rostschutzschicht – eine Erfindung des Italieners Luigi Galvani aus dem Jahr 1772.

Auch Badewannen lassen sich natürlich aus Zink herstellen. Um zu zeigen, wie großartig seine Erfindung ist, baut Dony mit Zink aus der Kelmisser Mine die wunderbare mobile Wanne und schenkt sie 18091 Napoleon zum Dank für die Konzession, die er seit nunmehr vier Jahren besitzt. Das auf kleinen Füßen stehende Ding ist auffallend kurz und hoch. Wie seine Zeitgenossen badet Napoleon vorzugsweise im Sitzen. Außen wurde die Wanne mit Farbe marmoriert, sodass man nur von innen sieht, dass sie aus Metall ist. Seitlich ist sie mit einem Lorbeerkranz verziert, in dessen Mitte ein großes N prangt. Ein Jahr später schickt Dony dem Kaiser auch noch eine Zinkbüste, die natürlich Napoleon darstellt.

Der französische Herrscher ist von der für damalige Verhältnisse modernen Wanne schwer beeindruckt. Er erkennt, dass der Erfinder aus Lüttich die Mine viel besser ausbeuten kann als ein Staatsbetrieb. 1810 erteilt seine Regierung Dony auch noch ein Patent für die neuartige Zinkgewinnungsmethode. Das macht sich dieser sofort zunutze und stampft in Lüttich eine Fabrik aus dem Boden, in der das Schürfmaterial aus der Mine weiterverarbeitet wird.

 

Mit der Konzession und dem Patent für seinen neuartigen Ofen hält Dony sämtliche Voraussetzungen für sagenhaften Reichtum in seinen Händen. Er ist in einer Situation, von der jeder Unternehmer träumt: Er besitzt ein tatsächliches Monopol. Seine Mine ist die einzige, in der Zink in großem Stil abgebaut wird, und zwar genau in der richtigen chemischen Zusammensetzung. Nur unweit der preußischen Stadt Kattowitz (dem heutigen Katowice in Polen) und auf Sardinien gibt es ähnliche Zinkspatadern, aber die Minen sind kleiner und, was viel wichtiger ist: Donys revolutionärer Ofen ist dort gänzlich unbekannt.

Es gibt allerdings zwei Probleme. Das eine Problem ist, dass Dony zwar ein großartiger Erfinder ist, aber ein schlechter Verkäufer. Er ist der Typ brillantes Genie ohne viel Sozialkompetenz. Von dem einzigen Porträt, das uns überliefert ist, schaut uns ein sympathischer Herr mit großen Augen an. Kein knallharter Geschäftsmann, sondern vermutlich eher jemand, der fast zu gut ist für diese Welt. Und das bleibt nicht ohne Folgen. Donys kleine Fabrik produziert dank seiner Erfindung zwar bald beachtliche Mengen Zink, allerdings wird er sie nicht los. Als Monopolist mit einem tollen Produkt hat er viel erreicht, doch es fehlt an Partnern mit dem nötigen Geschäftssinn.

Das andere, noch schwerer wiegende Problem ist Geldmangel. Der Mann aus Lüttich muss enorme Summen investieren, wenn Mine und Fabrik rentabel arbeiten sollen. Die Firma ist gezwungen drastisch zu wachsen, um die richtige Größe zu erreichen. Es müssen mehrere Öfen her, eine zuverlässige Logistik und Becken, um das Gestein vor dem Brennen zu waschen, denn Lehm führt zu einer Verunreinigung des Endprodukts.

Obwohl Dony inzwischen vermögend ist, weil er von seinen Eltern einiges geerbt hat, übersteigt das seine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem. Im Grunde braucht er Millionen, um ein richtiges Unternehmen aufzubauen.

Dony steckt sein ganzes eigenes Geld in die Mine sowie das Kapital einiger Kleinanleger. 1810 lässt er südlich von Kelmis ein Becken anlegen, welches das Wasser zum Waschen der Steine liefern soll. Insgesamt investiert er mehr als eine Million Francs in Gebäude und Infrastruktur. Diese sehr hohen Ausgaben, gepaart mit seinem schlechten Geschäftssinn, führen zu immer höheren Schulden. Liquiditätsprobleme bringen Dony zunehmend in Schwierigkeiten. Von steigenden Umsätzen kann schon lange nicht mehr die Rede sein – eine unhaltbare Situation.

Doch Rettung scheint nahe, und zwar in Gestalt von Hector Chaulet. Der äußerst findige Buchhalter ist bereit, 300 000 Francs als Darlehen in die Firma zu stecken, verlangt aber im Gegenzug eine Führungsposition. Mit seinem betriebswirtschaftlichen Know-how will er das Unternehmen Dony et Compagnie wieder schwarze Zahlen schreiben lassen: eine scheinbare Win-win-Situation für beide Männer.

Doch leider verbessert sich die Gewinn- und Verlustsituation unter Chaulets Leitung erst einmal nicht. Was man ihm allerdings kaum vorwerfen kann. Das liegt eher an den dramatischen Ereignissen in Europa sowie an dem kleinen Franzosen, mit dem das Zinkabenteuer begonnen hat.

 

Napoleon hat während der vergangenen zwanzig Jahre halb Europa erobert. Seine militärischen Taktiken und Strategien sind weltberühmt. Aber im Winter 1812/1813 übernimmt er sich, als er versucht, auch Russland in die Knie zu zwingen.

 

Mitsamt der Badewanne – ein Detail, das wir seinem Sekretär verdanken – kehrt er geschlagen, jedoch noch nicht vernichtet von seinem schrecklichen Feldzug gen Osten zurück. Seine Armee ist nach einem besonders harten, entbehrungsreichen Winter schwer dezimiert, kann sich aber in den folgenden Monaten ihrer Gegner erwehren. Erst im Oktober 1813 kommt es bei Leipzig schließlich zur Entscheidung: Gemeinsam schlagen die alliierten Russen, Preußen, Österreicher und Schweden die französische Armee in der größten Schlacht aller Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg.

Das Kriegsgeschehen wirkt sich schon seit geraumer Zeit negativ auf den Rohstoffhandel aus; alle knausern mit Geld und warten ab, welche Seite letztlich gewinnt. Einige Hundert Kilometer westlich der Schlachtfelder bekommen das auch Dony und Chaulet zu spüren. Als sich abzeichnet, dass Napoleon Europa nicht mehr im Griff hat, bricht der Zinkmarkt zusammen. Die beiden Männer bleiben auf gigantischen Zinkvorräten sitzen. Mehr als achtzig Prozent ihrer Produktion müssen eingelagert werden – eine Katastrophe für die ohnehin nicht gerade florierende Firma Dony et Compagnie. Die Insolvenz ist unvermeidlich, trotz der 300 000 von Chaulet.

In diesem Moment tritt Meneer Mosselman auf den Plan. Ein Mann, der sich sogar in offiziellen Dokumenten als „Kaufmann“ bezeichnet.

 

François-Dominique Mosselman Kaufmann zu nennen ist in etwa so, wie zu behaupten, Bill Gates wäre Informatiker. Das ist zwar nicht ganz falsch, verkennt seine wahre Bedeutung allerdings bei Weitem. In Europa sind höchstens Könige und Kaiser (vielleicht noch die Familie Rothschild) reicher als der Flame.

Sein Vermögen ist größtenteils ererbt. Schon seine Vorfahren gehörten zu den wohlhabendsten und angesehensten Bürgern Brüssels. Außerdem ist François-Dominique mit einer Frau aus dem schwerreichen Geschlecht der Tacqué aus Laken verheiratet. Als Einzelkind wird sie das gesamte Familienvermögen erben. Die Mosselmans residieren in einem riesigen Haus in Brüssel, das, wie wir aus Angaben zur Fenstersteuer wissen, stolze siebenundsechzig Fenster zählt. Außerdem besitzt das Paar noch jede Menge Landhäuser, Güter, Stadtpaläste und Zweitwohnungen im Dreiländereck Antwerpen-Lüttich-Paris.

Aber Mosselman ist nicht von Beruf Sohn – niemand, der das Geld seiner Vorfahren in hohem Bogen zum Fenster hinauswirft. Fleisch und Textilien bilden den Grundstock des Vermögens der Mosselmans. François-Dominique und sein Bruder Corneille übernehmen das Geschäft vom Vater. Innerhalb von zwanzig Jahren vervielfachen sie das Familienvermögen und klettern auf der gesellschaftlichen Leiter bis nach ganz oben.

Die Gebrüder Mosselman sind zweifellos äußerst geschäftstüchtig. Sie handeln nicht nur mit Stoffen und Steaks, sondern auch mit Getreide. Krieg ist für sie keine Bedrohung, sondern eine Chance auf schnelle Umsätze. So verdienen sie ab 1810 beispielsweise viel Geld mit Briten und Preußen, weil sie deren Armeen mit Kleidung, Brot und Fleisch beliefern. Auch deshalb können diese gut genährt gegen Napoleon zu Felde ziehen. Verwunderlich ist das schon, denn kurz zuvor haben die Brüder noch die französischen Truppen beliefert.

Die größte Schlacht schlägt Mosselman allerdings allein. 1808 kauft er die beinahe pleitegegangene Bank von Jacques Récamier. Der Franzose hat einen entscheidenden Fehler gemacht, nämlich den, sich politisch zu sehr einzumischen. Gemeinsam mit seiner Frau veranstaltet er intellektuelle Salons, bei denen seine Gäste öffentlich an Napoleons Regierungsstil zweifeln. Aus Rache ruiniert der französische Kaiser das Paar. Mosselman schlägt genau im richtigen Moment zu und übernimmt die wertvolle Bank für den Spottpreis von 410 000 Francs, die heute eine Kaufkraft von etwa anderthalb Millionen hätten. Seitdem heißt sie Banque Mosselman.

So einen Opportunismus kann man nicht lernen, den hat man einfach im Blut. François-Dominique Mosselman ist der geborene Geschäftsmann, er kann gar nicht anders. Wenn es sein muss, greift er auch auf Beziehungen, ja sogar leichte Erpressungsmethoden zurück, um ins Geschäft zu kommen.

So bleibt es nicht aus, dass Mosselmans scharfer Blick auf die dahinsiechende Firma Dony et Compagnie fällt. Wann das genau geschieht, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Aber mit seinem guten Riecher für lukrative Investitionen merkt der Brüsseler irgendwann zwischen 1810 und 1813, dass das unbekannte Kaff Kelmis die Chance seines Lebens ist. Während der bemitleidenswerte Dony finanziell immer mehr in die Klemme gerät, wartet der raffinierte Mosselman nur noch auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.

Der ist schließlich am 25. April 1813 gekommen, als Napoleon mit Riesenproblemen aus Russland zurückkehrt und der Zinkmarkt völlig am Boden liegt. An diesem Tag stehen Dony und Mosselman vor dem Notar Dujardin in Lüttich. Für 550 000 Francs (der Preis für einen Wohnblock in Paris) kauft Mosselman fünfundsiebzig Prozent der Anteile von Dony et Compagnie, also des Unternehmens, das die Konzession und das Patent besitzt. Damit erwirbt er für einen Spottpreis die Kontrollmehrheit in einem Betrieb mit enormem Potenzial.

Chaulet bleibt für die Finanzen zuständig, während Dony von da an in der eigenen Firma kaum mehr etwas zu sagen hat. Als Techniker bleibt er ihr allerdings erhalten und wird seinen Ofen in den folgenden Jahren noch erheblich verbessern, sodass immer mehr Zink aus dem Gestein geholt werden kann. Doch zunächst muss er die desolaten Finanzen, mit denen er auch privat zu kämpfen hat, in den Griff bekommen – was ihn übrigens nicht davon abhält, sich für die Arbeiter einzusetzen, die sich in seiner Mine in Moresnet abrackern. Im besonders harten Winter 1816 wird er ihnen aus eigener Tasche eine Suppenküche finanzieren.

Mosselman will gleich nach dem Kauf in großem Stil in die Mine investieren, doch erst einmal muss auch er Schulden aus der Zeit Donys abbezahlen.

Philip  Dröge

Über Philip Dröge

Biografie

Philip Dröge ist ein niederländischer Autor von historischen Büchern. Er schreibt für verschiedene Zeitungen und tritt regelmäßig im Radio und im Fernsehen auf in Diskussionsrunden zu geschichtlichen und geographischen Themen. Seine Bücher über den Vulkan Tambora und das Miniaturland Moresnet waren...

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