Mit dem Schulbus in die Wildnis Mit dem Schulbus in die Wildnis - eBook-Ausgabe
Eine Familie reist ein Jahr lang durch die Weiten Nordamerikas
„Spannend und anschaulich erzählt, unternimmt man als Leser an der Seite der Familie diese Reise quer durch Nordamerika- mit tollen Fotos anbei.“ - lovelybooks/Buchraettin
Mit dem Schulbus in die Wildnis — Inhalt
Reisen ist die beste Schule
Vier Jahre nach ihrer turbulenten Weltreise zieht es Heike Praschel mit ihrer Familie erneut in die Ferne. Sie fahren in einem umgebauten Schulbus durch Kanada und Alaska bis zum Polarkreis und anschließend Richtung Süden bis nach Mexiko. Für ein Jahr vom Schulunterricht befreit, tauchen Emma, 9, und Paula, 7, begeistert ein in diese neue Welt. Zusammen mit ihren Eltern lernen sie, sich in der Wildnis zurechtzufinden und mit einem Minimum an Besitz zurechtzukommen. Sie sammeln Erfahrungen beim Husky-Training, engagieren sich mit Angehörigen der First Nations für die Rückkehr der Lachse und lauschen nachts dem Geheul der Kojoten. Ein lebendiger Bericht über ein großes Reiseabenteuer, die Verwirklichung von Träumen und das Glück des Augenblicks.
Leseprobe zu „Mit dem Schulbus in die Wildnis“
Warum wir wieder nach Amerika wollten? Nun, da kam wohl eins zum anderen. Eigentlich hatten wir nach unseren letzten Erfahrungen mit der kalifornischen Polizei die Nase voll gehabt von den USA, aber da war dennoch diese Lust aufs Unterwegssein, diese Sehnsucht nach Weite und der Freiheit auf Reisen. Warum wir dazu einen Schulbus kauften? Weil er zu haben war, würde ich sagen, und weil diese Gelegenheit unsere Fantasie in Gang gesetzt hat. Nur eines lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Wären wir auf unserer letzten Reise nicht James und Mia begegnet, [...]
Warum wir wieder nach Amerika wollten? Nun, da kam wohl eins zum anderen. Eigentlich hatten wir nach unseren letzten Erfahrungen mit der kalifornischen Polizei die Nase voll gehabt von den USA, aber da war dennoch diese Lust aufs Unterwegssein, diese Sehnsucht nach Weite und der Freiheit auf Reisen. Warum wir dazu einen Schulbus kauften? Weil er zu haben war, würde ich sagen, und weil diese Gelegenheit unsere Fantasie in Gang gesetzt hat. Nur eines lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Wären wir auf unserer letzten Reise nicht James und Mia begegnet, hätten wir nie etwas von dem alten Bus gehört, der bei Mias Vater im Schuppen auf einen Käufer wartete. Und hätten wir unser altes Haus nicht gegen ein kleineres eingetauscht, wären wir finanziell nicht in der Lage gewesen, erneut auf Reisen zu gehen. Aber manchmal spielen eben ein paar Zufälle Schicksal, und die Dinge fügen sich so, dass man gar nicht mehr genau sagen kann, wie es eigentlich dazu kam. Jedenfalls zögerten wir nicht lange und überwiesen unseren Freunden 2000 Dollar für einen amerikanischen Schulbus, Baujahr 1986, kurze Version.
Was sollte schon schiefgehen, dachten wir. Wir kannten schließlich unsere Freunde, und der Bus stand sicher auf ihrem Grundstück …
Der Anblick ließ mich für einen Moment alle Schmerzen vergessen, die mir nach dem langen Flug und der schier endlos erscheinenden Autofahrt durch den Rücken krochen.
Da stand er. Groß und gelb und noch viel wuchtiger, als er auf den Fotos gewirkt hatte, und ich fragte mich, wie um alles in der Welt wir dieses Ungetüm, dessen hüfthohe Reifen sich tief in die weiche Wiese gebohrt hatten, jemals wieder auf die Straße bringen sollten.
„Wow …“ Tom war ebenfalls schwer beeindruckt. „Elf Meter …!“
Eigentlich hatten wir nach etwas Kleinem gesucht, kurz, wendig und geländegängig. Einem fünf Meter langen Bus mit Allradantrieb zum Beispiel. Doch dann überraschten uns unsere Freunde mit einer E-Mail: „Wir haben genau den Richtigen für euch … the best you can get … kurz und ideal für eure Zwecke, wir haben ihn bereits gekauft! Yeah!!!“
„Yeah!“ Spätestens jetzt wussten wir, dass unsere Vorstellungen von „kurz“ weit auseinanderdrifteten.
James hingegen grinste von einem Ohr zum anderen, und auch Mia schien mit ihrem Kauf sehr zufrieden. Vor mehr als fünf Jahren hatten wir die beiden auf einem Trip durch die USA kennengelernt. Damals waren wir in einem alten roten Mercedeslaster aufgebrochen, um mit unseren drei Töchtern die Mongolei zu erkunden. Aus dieser Tour war eine knapp dreijährige Weltreise durch über zwanzig verschiedene Länder geworden. James hatten wir im Nordwesten der USA vor einem Supermarkt kennengelernt. Zusammen mit seiner Freundin Mia war er uns danach bis nach Mexiko gefolgt, und auch nach der Reise war der Kontakt nie ganz abgebrochen.
„Das ist die kurze Version, die ist wirklich selten.“ Offensichtlich gab es jede Menge Exemplare mit noch ein paar Fensterreihen mehr. Mia ließ ein begeistertes Glucksen hören, und ihre sonst so gepflegten kurzen Haare standen wie elektrisiert von ihrem Kopf ab. Etwas benommen starrten wir auf unser schon bezahltes, neues Zuhause, eigentlich hatten wir etwas ganz anderes gewollt.
Als die beiden uns vor einem knappen Jahr in Deutschland besuchten, hatten sie uns von einem alten Kirchenbus erzählt, der bei Mias Vater auf den Verkauf wartete, und die Fotos, die sie uns von dem Gefährt zeigten, hatten uns auf Anhieb gefallen. Gerade mal sieben Meter lang, mit netten verzierten Butzenscheiben, die die Gemeinde offenbar statt der ursprünglichen Fenster eingesetzt hatte, schien der alte church shuttle genau das zu sein, was wir uns schon immer erträumt hatten, und ohne groß darüber nachzudenken, sagten wir sofort zu. Per Handschlag war alles abgemacht, zurück zu Hause sollten unsere Freunde mit Mias Vater sprechen und einen fairen Preis für uns aushandeln. In einigen Monaten würden wir dann in die USA reisen und uns um den Innenausbau kümmern.
Doch dann war alles ganz anders gekommen.
Tagelang hatten wir nach unserem Treffen in Deutschland Ausbau-Handbücher studiert, über die Aufteilung des Innenraumes nachgegrübelt und vor dem Bild des ehemaligen Kirchenbusses gestanden, das frisch gerahmt unsere Küchenwand zierte, bis sich eines Morgens plötzlich der Nagel aus dem Putz löste und das Anschauungsmaterial in die Tiefe stürzte. Nur wenige Minuten später erhielten wir die Absage per E-Mail …
„Sorry, the bus is already sold!“
Der Bus war bereits verkauft worden! Ein alter Hippie, der ihn sich Jahre zuvor schon einmal angesehen hatte, war plötzlich wieder aufgetaucht. Niemand hatte mit ihm gerechnet, und dann hatte er den Bus gleich gekauft, ohne dass unsere Freunde auch nur mit Mias Vater hatten sprechen können.
Und unser Traum von der nächsten Reise zerplatzte mit einem lauten Knall, wie die gläserne Scheibe des Bilderrahmens auf unserem frisch gefegten Küchenfußboden.
Eigentlich hatte ich nie an schlechte Vorzeichen geglaubt, in diesem Moment allerdings war ich fast gewillt, damit anzufangen, auch wenn ich sonst grundsätzlich um einen positiven Blick auf die Dinge bemüht bin. Ich versuchte, mir gut zuzureden, und während ich noch immer am Kloß der Enttäuschung würgte, gab der Computer ein erneutes „Pling“ von sich. Die nächste Nachricht von James und Mia flatterte in unseren Posteingang. Ich klickte auf den Betreff „New schoolbus“ und las: „No problem, don’t worry!“ Dann ein dicker Smiley. Es stünden so viele Busse zum Verkauf … „We will find the right one for you!“ Dass „Mr Right“ sich aber so enorm von seinem Vorgänger unterscheiden würde, damit hatten wir damals nicht gerechnet, als wir begeistert auf das Angebot eingegangen waren …
Tom räusperte sich: „Viel Platz!“ Und er klopfte versöhnlich auf den verblichenen gelben Lack. „Perfekt für eine Familie.“
Jetzt strahlten James und Mia, zufrieden mit unserer Reaktion. „Wir wussten, er würde euch gefallen!“
Das war wohl der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns ganz offenbar nicht so gut kannten, wie ich angenommen hatte.
Die beiden waren die Ersten gewesen, die von unserem Plan erfahren hatten, von unserer schon vor Langem festgelegten Route, die uns über den legendären Dalton Highway bis ganz in den Norden führen sollte. Schon immer hatten wir davon geträumt, nach Alaska zu fahren, hoch ans Eismeer. Wir wollten durch das Land der Eisbären und Moschusochsen reisen und durch die unberührte Natur, die indigenen Stämme besuchen und von ihren Bräuchen lernen.
Wochenlang hatten wir unseren Trip nach Nordamerika vorbereitet, hatten unserem Hund Laika die nötigen Impfungen verabreichen lassen, waren zwischen amerikanischer Botschaft und deutscher Schule hin- und hergependelt und konnten unsere Mädchen, Paula und Emma, die letzten Sommer gerade acht und zehn Jahre alt geworden waren, glücklicherweise ganz offiziell für ein Jahr von der Schule befreien. Zuletzt hatten wir das Wasser aus dem Heizsystem unseres Hauses entfernt, Telefon und Internet gekündigt, den Stromabschlag auf ein Minimum absenken lassen und alles leer geräumt.
Ob uns der riesige Bus, der laut Tachostand schon ganze 225 459 Meilen auf dem Buckel hatte, allerdings jemals so weit bringen würde, wie es unsere Route vorsah, wollte ich mir im Moment gar nicht so genau ausmalen, ganz im Gegenteil. Im Augenblick blieb uns nichts anderes übrig, als schlicht das Beste aus der Situation zu machen.
Zum ersten Mal seit unserer Ankunft vor einer knappen halben Stunde begann ich, unsere Umgebung zu mustern. Unser neues Zuhause, ein Schulbus des Herstellers International Harvester Company, war hinter einer schon etwas marode wirkenden Scheune geparkt, und das hohe Gras der Wiese, die uns umgab, war braun und vertrocknet. Zwischen den Halmen standen überall alte Autos in den verschiedensten Stadien des Verfalls. Das einzige fahrtüchtige Vehikel schien das Quad zu sein, mit dem sich Mias Vater jetzt unserer kleinen Gruppe näherte.
Nur wenige Meter entfernt kam er zum Stehen, lehnte sich zurück und hakte seine Daumen in die verschlissene Arbeitshose, während er ganz im Anblick unseres Busses zu versinken schien. Dann packte er eine seiner Krücken, die er sich während der Fahrt quer über die Knie gelegt hatte, und fuchtelte damit in Richtung unseres Gefährts.
„That’s the baby“, ließ er uns wissen und wiederholte die Worte, die wir auch schon von James und Mia gehört hatten: „Das beste Fahrzeug, das man sich vorstellen kann! Aber es benötigt zu viel Platz.“ Er grinste verschmitzt. Der Bus nahm in der Tat einen großen Teil der Wiese ein.
James war in der Zwischenzeit um den Bus herumgelaufen, durch die doppelflügelige Notausgangstür ins Innere geklettert und hatte seine Hand auf den manuellen Türöffner gelegt. Mit einem einladenden Quietschen sprang die Tür zur Seite, und einer nach dem anderen kletterten wir in den Fahrgastraum.
Drei hohe Stufen führten in einen mit schwarzem Gummi ausgelegten schmalen Mittelgang, rechts und links davon gab es je zehn durchgesessene Doppelsitzbänke, bezogen mit vergilbtem braunem Kunstleder. Die Schiebefenster waren übersät von fettigen Flecken, eine klebrige Pfütze unter Sitz Nummer fünf roch verdächtig nach verschütteter Limo, und zwischen den beiden hintersten Sitzreihen klebte eine ganze Reihe rosafarbener Kaugummis. Während Emma und Paula über die Rückenlehnen turnten, ließ ich mich in die erste Sitzreihe plumpsen und musterte unser neues Zuhause für das nächste Jahr.
Diese robusten Schulbusse waren in den USA so etwas wie Kultobjekte. Viele Familien und Studenten bauten sich einen der gelben Giganten zum motorhome um. Es gab eine richtige Community, die sich auf etlichen Seiten im Internet tummelte, Tipps austauschte und immer wieder Treffen organisierte.
Während ich schon darüber nachdachte, wo ein Ofen Platz finden könnte, schnappte Tom sich den Zündschlüssel, rutschte hinters Lenkrad, und nur Sekunden später röhrte der Motor fast erschrocken unter der Haube auf. Er stolperte, hustete und fing nach einem letzten Krächzen an zu schnurren wie ein zufriedenes Kätzchen. Ein leichtes Tippen auf das Gaspedal, und mit einem sanften Holpern rollte unser Heim aus der tief in die Wiese gedrückten Standspur. Ich begann zu grinsen, während die Mädels jubelten.
Vielleicht hatten James und Mia doch gar nicht so falschgelegen!
„Ihr braucht eine Inspektion!“ Die Info habe er aus dem Internet, ließ James uns einige Wochen später wissen, indem er auf eine ellenlange Liste tippte, die er für uns ausgedruckt hatte. „Hier steht alles, was ihr beachten müsst!“
Ich griff nach dem Blatt, das er uns entgegenstreckte, und überflog die einzelnen Punkte. Praktisch keinen davon hatten wir erfüllt.
Die State Patrol, die sehr strikt an so etwas herangehe, müsse den Umbau des Busses in ein motorhome genehmigen, erklärte James, doch Tom schüttelte unbeeindruckt den Kopf.
Dunkle Wolken hatten sich über uns zu einer schwarzen Wand verwoben, und in der Ferne war das erste Donnergrollen zu hören. Sekunden später begann es, wie auf Kommando zu schütten. Dicke Tropfen prasselten auf das Dach wie ein Maschinengewehrfeuer. Nach über einer Woche Hitze kam nun endlich die lang ersehnte Abkühlung, die momentan weitaus besser zu unserer Stimmung passte als das sonnige Sommerwetter.
James machte auf dem Absatz kehrt und rettete sich vor dem Unwetter ins Innere seines Hauses, während der Regen wie eine Sturzflut über unsere Windschutzscheibe rauschte.
Mit einem Seufzen ließ ich mich an unseren mit Leder bezogenen alten Esstisch fallen, den wir für nur zehn Dollar auf einem Garagenflohmarkt gekauft hatten. Was, wenn er recht hatte?
Eigentlich hatten wir in ein paar Tagen aufbrechen wollen, aber wenn ich mich so umblickte, fing ich an, daran zu zweifeln. Unser Gasofen war laut Liste zu alt, der ganze Ausbau nicht professionell gemacht, die Gasleitungen nicht vom Profi verlegt, und der Holzofen war das einzige Stück unserer Einrichtung, das auch tatsächlich für ein Wohnmobil gedacht war.
Trotzdem war alles so schön geworden. Aus zwei alten Holzschränkchen, die wir an der Straße mit dem Hinweis „zu verschenken“ gefunden hatten, hatten wir unsere Küchenzeile gebaut. Der kleine Gasofen mit Backröhre war ein wunderschönes antikes Stück, das dazwischen in einem ungewöhnlichen Türkis erstrahlte. Es gab eine gemütliche Essecke für vier Personen, einen gasbetriebenen Kühlschrank, ein Wassergefäß mit Zapfhahn, den kleinen Blechofen zum Heizen mit Holz, ein Sofa, ein großes Stockbett und sogar ein Badezimmer: ein kleines Kämmerchen, in dem ein Wasserkanister, eine Schüssel zum Waschen und eine Campingtoilette, Porta Potti genannt, Platz fanden. Eine leistungsstarke zweite Batterie, die sich ebenso wie die Startbatterie beim Fahren wiederauflud, sorgte für die Innenbeleuchtung und lieferte den Strom für das Aufladen von Laptop und Handy. Doch ohne eine Umschreibung auf ein Wohnmobil, so viel wussten wir, würde Tom den Bus, laut Führerschein, nicht fahren dürfen.
Als er meine finstere Miene sah, legte er den Arm um mich: „Jetzt mach dir mal keine Sorgen. James übertreibt, das garantiere ich dir!“
„Na hoffentlich!“
„Ganz sicher … morgen gehe ich auf die Zulassungsstelle, und ich wette, die Umschreibung ist kein Problem!“
Ich schluckte.
Dann zerknüllte ich die Liste und warf sie in eine Ecke. Wie oft hatte ich während der letzten Wochen an unser kleines Häuschen in der Oberpfalz gedacht, das abseits von einem Dörfchen am Waldrand lag. Die etwas verschlafen wirkende Ruhe dort könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Falls das mit der Umschreibung morgen nicht klappen sollte, würde ich mich notfalls zu Fuß auf den Weg machen!
Ich war froh, dass zumindest die Kinder von alldem kaum etwas mitbekommen hatten. Zu unserem Glück hatten sie schon bald mit dem Nachbarsmädchen Christine Freundschaft geschlossen und verbrachten die meiste Zeit hinter der kleinen farbenfroh blühenden Hecke, die deren Haus umschloss. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht, als ich an den ersten deutschen Satz von Christine dachte, den Emma und Paula jetzt tagtäglich herunterbeteten: „Mücke nein lecker“ war, nachdem Christine eine kleine Fliege verschluckt hatte, zu ihrem Tagesmotto geworden und wurde inzwischen auf alles und jeden angewendet, selbst wenn es nicht immer einen Sinn ergab.
Meist verschwanden Emma und Paula schon frühmorgens in den Nachbarsgarten, feilten an ihren Englischkenntnissen, planschten zusammen mit Christine im Pool, machten mit ihren Secondhandfahrrädern die Gegend unsicher oder versuchten, Fierce, Christines Wolfsmischling, zu dressieren. Und auch andere Kinder kamen, Tag für Tag wurden es mehr. Zum Beispiel der Nachwuchs aus dem „Chaos-Haus“ einen Block weiter, wo Berge von Möbeln im Garten gestapelt waren, oder das indische Geschwisterpärchen, das Emma und Paula auf dem Spielplatz kennengelernt hatten, oder das kleine Mädchen, das jeden Tag auf seiner Fahrradtour nach unseren Fortschritten schaute und dabei die Terrarien unserer Mädels entdeckt hatte. Spinnen, Kellerasseln und Schmetterlingsraupen tummelten sich darin, und zusammen mit Emma und Paula saß sie oft stundenlang vor den Glaskästen und bewunderte die vielen Krabbeltierchen. Für uns allerdings waren die letzten Wochen anstrengend gewesen.
Am nächsten Morgen machten wir uns gleich nach dem Frühstück auf den Weg in die Stadt, und nur dreißig Minuten später drückte uns die nette Dame auf der Zulassungsstelle die fertigen Papiere in die Hand und lächelte. „Gute Reise!“, sagte sie zum Abschied, und das, obwohl sie noch nicht mal einen Blick auf die Fotos vom Innenausbau geworfen hatte, die wir zur Umschreibung mitgebracht hatten. Ohne Kommentar hatte sie den alten Schulbus als motorhome registriert, und selbst die Versicherung hatte uns ohne Nachfragen als deutsche Fahrzeughalter akzeptiert.
Gemeinsam holten wir kurz darauf die restlichen Sachen aus dem Haus von James und Mia und verabschiedeten uns von den beiden. Dann startete Tom den Motor.
Nervös musterten wir die enge Einfahrt. Immerhin maß unser neues Zuhause stolze elf Meter, und bisher war Tom nur ein einziges Mal damit gefahren. Die Teller in den Schränken klapperten, als der Rückwärtsgang krachend einrastete, die Kupplung war anscheinend auch nicht mehr die beste, noch ein Ruckeln, dann rollte der Schulbus aus der Einfahrt. Ein kleiner Ast des Kirschbaumes brach krachend ab und fiel hinter uns zu Boden, noch ein letztes Winken, und schon verschwand die rote Backsteinmauer von James’ und Mias kleinem Domizil hinter der Kurve.
Häuser rauschten an uns vorbei, Häuser, die uns in den letzten Wochen trotz allem ans Herz gewachsen waren. Der kleine Bach, in dem wir gebadet hatten, schlängelte sich neben der Straße entlang, dann kam Zips mit dem wunderbaren Softeis, die Secondhandläden, der Stadtpark mit dem Spielplatz, die Schule, der Parkplatz mit all den schönen Schulbussen.
Wir passierten das Ortsschild. Chewelah verschwand hinter uns im Rückspiegel, wurde kleiner und kleiner, schrumpfte zusammen, verwandelte sich in einen winzigen Punkt, einen von vielen auf einer riesigen Landkarte.
Dumpf ertönte ein Trommelschlag neben uns, während die Kanus fast geräuschlos übers Wasser glitten.
Der Boden begann, unter unseren Füßen im Takt zu vibrieren. „Tumm, tutumm … tumm, tutumm … tumm, tutumm …“
Ein Ruder platschte ins Wasser, dann setzten die Gesänge ein. „Heyaaa, heyaaaa, heyaaa …“
Die Intensität der kehligen Stimmen jagte mir eine Gänsehaut über die Arme. Ein schrilles Pfeifen erscholl, sein hoher Ton wurde weit über das glitzernde Wasser getragen, über die Wellen des Columbia River bis in die Tiefen des Ozeans, wo es nach den Lachsen rief.
Weit waren wir seit dem Morgen nicht gekommen. In Kettle Falls, nur knappe dreißig Meilen von Chewelah entfernt und ganz in der Nähe eines der größten Indianerreservate der USA, hatten wir eine letzte Pause vor der kanadischen Grenze eingelegt und waren genau rechtzeitig gekommen, um einem der bedeutsamsten Rituale der Native Americans beizuwohnen. Zwölf verschiedene Stämme hatten sich zusammengeschlossen, um für die Rückkehr der Lachse in den Columbia River zu kämpfen.
„Do you know the story of the Columbia River?“
Lydia, eine Frau um die sechzig, die wir schon vor ein paar Stunden im Historical Center kennengelernt hatten, legte ihre Hände auf die Schultern von Emma und Paula und lächelte sie an. Beide schüttelten den Kopf, und ich war wieder einmal erstaunt, wie viel Englisch sie bereits in diesen ersten zweieinhalb Monaten gelernt hatten. Zusammen mit Christine hatten sie tagtäglich geübt, und inzwischen brauchten sie meine Übersetzungshilfe so gut wie gar nicht mehr. Lydia schien allerdings auch ohne Worte die Sprache unserer Kinder zu sprechen, denn selbst mit ihren Gesten und Blicken konnte sie ihre Aufmerksamkeit fesseln, und mit begeisterter Spannung hingen beide an ihren Lippen.
„Nein?“ Ihre langen grauen Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern flossen, und die kleine runde Brille gaben ihr etwas von dem Flair der späten Siebziger. Bis vor Kurzem hatte sie noch als Lehrerin in der Highschool gearbeitet, hatte sie uns erzählt. Nach ihrer Pensionierung hatte sie angefangen zu schreiben, und vor ein paar Wochen war ihr erster Gedichtband veröffentlicht worden.
„Dann erzähle ich euch davon.“ Lydia setzte sich zwischen die beiden auf den Boden und klopfte mit der Hand neben sich, während die Trommeln um uns noch immer im selben Rhythmus verharrten. Emma und Paula ließen sich zu ihr auf den Ufersand plumpsen und lauschten gespannt.
„Stellt euch vor …“, begann sie, „stellt euch für einen Moment vor, ihr wärt Wasser. Nicht etwa Wasser in einem Glas, still und ruhig wie in einem See, sondern Wasser, das fließt, Wasser auf einer Reise, Wasser, das sich hügelabwärts auf das weite Meer zubewegt.“
Ihre Hände beschrieben sanfte Wellen, während sie fortfuhr: „Stellt euch vor, ihr wirbelt um Felsbrocken herum, eingeengt in Canyons. Stellt euch vor, ihr werdet gegen den Grund gepresst.“ Sie schloss die Augen und wartete einen Moment. „Das ist es, was ein Fluss erlebt. Vielleicht könnt ihr ein wenig nachempfinden, wie sich der Columbia River fühlt, lasst mich euch also seine Geschichte erzählen: Die Reise dieses wunderbaren Flusses beginnt als ein Tröpfeln in einer Schlucht der Rocky Mountains. Das Rinnsal bewegt sich eine Weile nordwärts, wird größer und mächtiger, ehe es sich südwärts wendet durch die Purcell und Selkirk Mountains Richtung Meer. Es war schon immer sein Ziel, den Ozean zu erreichen. Jedes Wasser hegt den Wunsch, zu seiner großen Mutter zu gelangen, zu den ausgedehnten Salzwassergründen, wo unzählige Fische frei schwimmen …“
Weiter und weiter führte uns die Geschichte, begann bei der Eiszeit, erzählte von der Besiedlung durch die Sinixt-Stämme, von den Lachsen, die auf der Strömung zurück zu ihrem Laichplatz tanzen und die Erinnerungen des Meeres zu den Bergen tragen, vom Rhythmus des Flusses, vom Herzschlag des Wassers und dessen freiem Geist.
Während Lydia erzählte, hielt sie ihre Hand wie einen Trichter ans Ohr: „Lauscht den Trommeln! Hört ihr den Herzschlag des Wassers? Tum … tum … tum …“
Die Mädchen nickten.
„Tum wata lautet das Wort der Sinixt für Wasser, das ein Herz hat!“
Doch dann kam der traurige Teil der Geschichte: „Nur 150 Jahre, nachdem all die Menschen, bleich wie Flusssteine, angekommen waren, nahmen sie dem Fluss sein Herz, damit er fortan ihren Zwecken diente, indem sie seinen Lauf, dem er seit Millionen von Jahren folgte, veränderten …“
Dämme wurden gebaut, die Lachse am Zurückkommen gehindert, der Fluss zerstört, erzählte sie weiter, und doch bestehe noch immer Hoffnung! Dann zog sie ein dünnes illustriertes Buch aus der Tasche, zeigte Emma und Paula die Bilder und las die letzten Seiten, aus Sicht des Flusses, der in dieser Ausgabe selbst die ganze Geschichte erzählte, ein indianisches Märchen für die neue Zeit.
„Aber ich habe weiterhin Hoffnung. Eines Tages … werde ich erneut fähig sein, den Lachs auf dem Rücken meiner Strömung zu tragen. Mein tum wata wird stark und hart schlagen, während ich mich durch die Berge hindurch auf das große Meer zubewege. Ich werde in der Lage sein, meinen Geist mit dem Land und seinen Menschen zu teilen. Denn ich spende Leben und Freiheit. Ich bin Wasser, das Herz einer Landschaft.“
Fast gleichzeitig mit dem Ende der Geschichte hoben die Trommeln zu einem Crescendo an. Ein Häuptling, geschmückt mit langen Federn und Perlen, watete bis zu den Schenkeln ins Wasser und hob zwei kleine Kiesel vom Grund des Flusses. Die Musik verstummte, und der alte Mann begann zu singen, seine nackte Brust unter dem aufwendig geknüpften Schmuck hob und senkte sich, die eindringliche Melodie tanzte auf den Wellen, die leise rauschend seine Beine umspülten. Langsam klackend schlug er die Kiesel aneinander, immer wieder, mal schneller, mal langsamer, die Imitation des Geräusches, das entsteht, wenn ein Lachs mit der Schwanzflosse sein Laichbett auf dem Grund des Flusses gräbt. Ein Weckruf für das gebändigte Wasser, für die wartenden Lachse vor den riesigen Dämmen.
„Aber wie sollen denn die Lachse über die Dämme kommen?“
Paula schaute mich verwirrt an, und ich versuchte, ihr zu erklären: „Die Native Americans hoffen auf Aufmerksamkeit. Sie wollen das Problem zurück in die Köpfe der Menschen rufen, von denen so viele schon vergessen haben, wie wichtig der Lachs für einen gesunden Fluss ist. Dann nämlich, wenn viele gemeinsam helfen, können sie vielleicht erreichen, dass Fischtreppen an den Dämmen gebaut werden, das ist so etwas wie eine Umgehungsstraße für die Lachse.“
„Das wäre toll!“
Auch wir hatten inzwischen nach kleinen Kieseln gegriffen und wie so viele um uns herum zu klopfen begonnen, das Klacken von Hunderten von Steinchen erfüllte die Luft. Plötzlich fuhr ein Seufzen durch die Menge, und die Köpfe von knapp 400 Menschen richteten sich nach oben. Ein Weißkopfseeadler flog über uns am Himmel, sein Schrei drang durch die Luft, er stieß ins Wasser, und Sekundenbruchteile später baumelte ein zappelnder Fisch in seinen Krallen. Alle begannen zu jubeln.
„Spannend und anschaulich erzählt, unternimmt man als Leser an der Seite der Familie diese Reise quer durch Nordamerika- mit tollen Fotos anbei.“
„Ich finde die Idee absolut grandios und für so etwas wäre es absolut gerechtfertigt, die Kids für ein Jahr aus der Schule zu nehmen.“
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