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Luther

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Heinz Zahrnt
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Reformator wider Willen

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Luther — Inhalt

„Wir sollen Luther weder als Kirchenvater, als ›ewigen Deutschen‹, als Vorkämpfer für moderne Geistesfreiheit oder als Schöpfer der deutschen Schriftsprache verehren noch ihn als Erzketzer, Glaubensspalter oder Fürstenknecht verachten lassen. Was wir brauchen ist ein Luther ohne Legende.“ Mit diesen Sätzen umreißt Heinz Zahrnt das Anliegen seines Luther-Buches. Er will den Reformator in seiner Zeit zeigen und damit den Blick freigeben auf einen Luther für unsere Zeit. Die einsamen, ganz und gar persönlichen Kämpfe des unbekannten Augustinermönchs in seiner Zelle haben in einzigartigen Weise „Geschichte gemacht“. Sie haben nicht nur die Kirche erneuert, sie haben das Gesicht der Welt verwandelt. Zum Reformationsjubiläumsjahr 2017 wieder bei Piper Edition erhältlich.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 03.04.2017
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97696-1
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Leseprobe zu „Luther“

Einleitung

Es ist Martin Luther in seinem ganzen Leben um nichts so sehr, ja überhaupt um nichts anderes gegangen als allein um Gott. Aber gerade das, was für Luther lebenslang das Wichtigste und Gewisseste, das Allerselbstverständlichste und Unbestrittenste war, wovon er nur in der Weise „entschiedener Behauptung“ zu reden vermochte, erscheint vielen Zeitgenossen heute, vielleicht sogar schon den meisten, unwichtig und ungewiß, höchst bestreitbar, wenn nicht gar längst unwiederbringlich erledigt. Nicht daß Luther so fest an den Teufel, sondern daß er so [...]

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Einleitung

Es ist Martin Luther in seinem ganzen Leben um nichts so sehr, ja überhaupt um nichts anderes gegangen als allein um Gott. Aber gerade das, was für Luther lebenslang das Wichtigste und Gewisseste, das Allerselbstverständlichste und Unbestrittenste war, wovon er nur in der Weise „entschiedener Behauptung“ zu reden vermochte, erscheint vielen Zeitgenossen heute, vielleicht sogar schon den meisten, unwichtig und ungewiß, höchst bestreitbar, wenn nicht gar längst unwiederbringlich erledigt. Nicht daß Luther so fest an den Teufel, sondern daß er so gewiß an Gott geglaubt hat, bereitet uns heute die größere Beschwer. Sein Teufelsglaube mag als Tribut an den mittelalterlichen Zeitgeist noch dahingehen – überdies erscheint uns angesichts unserer eigenen Zeit die Rede vom Teufel nicht mehr gar so unrealistisch. Aber daß für einen Mann seine Beziehung zu Gott den Vorrang vor allem anderen einnimmt, daß er darum aus der Welt geht, um zunächst jahrelang in der Stille an den Fundamenten seines Lebens zu arbeiten und zu graben, statt sich zuerst einen Beruf zu suchen, in ihm nach Fortkommen, Karriere und Ansehen zu streben und gewiß auch sich zu bewähren und in der Öffentlichkeit Verantwortung zu übernehmen, das dünkt uns merkwürdig fremd, schier unverständlich – trotz unseres gelegentlichen persönlichen Fragens nach dem Sinn des Lebens und unseres historischen Wissens um das Gesetz von „Rückzug und Wiederkehr“. Für Luther war das Fundament wichtiger als der Bau – und das Fundament lag für ihn im Himmel, nicht auf der Erde. Damit rückt Luther uns historisch in die Ferne. Aber gerade darauf beruht bis auf den heutigen Tag seine historische Wirkung. Die einsamen, ganz und gar persönlichen Seelenkämpfe des unbekannten Augustinermönchs in seiner Zelle, eines „kleinen Klosterbruders“, wie Kaiser Karl V. ihn geringschätzig genannt hat, haben in einer einzigartigen Weise Geschichte gemacht. Sie haben nicht nur die Kirche erneuert, sie haben das Gesicht der Welt verwandelt. Gewiß, die Zeitumstände haben dabei mitgewirkt. In Luther faßt sich, indem er sie am eigenen Leibe konzentriert erlebt, seine Zeit zusammen: das ausgehende Mittelalter mit seinen tiefen Ängsten und dumpfen Ahnungen wie wachen Wünschen und wirren Hoffnungen. Luthers Gestalt bildet ein Schulbeispiel für jenen Zusammenfall von Person und Zeit, den Leopold von Ranke den „weltgeschichtlichen Moment“ genannt hat. Aber Luther war mehr als nur ein Repräsentant seiner Zeit. Aus seiner Zeit allein läßt er sich nicht erklären, sondern zuletzt nur aus dem, was die Mitte seines Lebens ausgemacht hat: aus der unbedingten Bindung seines Gewissens an Gott und sein Wort. „Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch / Und fest umklammert er sein Bibelbuch“ (Conrad Ferdinand Meyer, Huttens letzte Tage). Die Religion ging Luther über alles. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur – dies alles erschien ihm nebensächlich im Vergleich zu der einzigen Hauptsache, der Beziehung des Menschen zu Gott. Ich scheue mich nicht, Luther ein „religiöses Genie“ zu nennen, auch wenn dieser Ausdruck heute theologisch immer noch verpönt ist und Luther selbst ihn, hätte er ihn gekannt, für sich sicher abgelehnt hätte. Aber gerade das scheint mir ein Kennzeichen aller religiösen Genies zu sein, daß sie es selbst nicht sein wollen. Sie weisen immer von sich weg auf Gott hin: „Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen.“ (Jeremia 20, 7) An Luther hat sich, was selten genug vorkommt, die Verheißung erfüllt, daß Gott sich die Starken zum Raube holen wolle. Weil Luther, „rein historisch“ betrachtet, ohne seinen Glauben an Gott, genauer an Gottes Offenbarung, in Jesus Christus nicht zu verstehen ist, gibt es ihm gegenüber auch keine Neutralität. Wer sich mit ihm befaßt, sieht sich zur Stellungnahme herausgefordert. Er muß sich nicht nur mit Luther und dessen Lebenswerk, sondern auch mit sich selbst und seinem eigenen Leben auseinandersetzen. Denn es geht bei Luther in jedem Fall um die Grundsituation des Menschen in der Welt. Mag es in unserer Zeit auch fraglich geworden sein, was Gott noch damit zu tun hat, die Frage nach dem Grund unseres Lebens in der Welt bleibt gestellt: worauf ein Mensch steht und wovon er zu leben gedenkt. Es geht mir mit Luther so, wie der junge Karl Barth einmal von den großen Gottesmännern der Bibel, von den Patriarchen, Propheten und Aposteln, geschrieben hat: „Sie alle sind so gebrochene, menschlich so unbefriedigende Gestalten, das gerade Gegenteil von Heroen, unabgeschlossen ihre Lebensgeschichte, unabgerundet ihr Lebenswerk, mehr als problematisch ihr Seelenzustand und ihr praktischer Erfolg. Bei mehr als einem von diesen Gottesmännern hat man, wenn man es aufrichtig sagen will, den Eindruck, daß er persönlich ein ganz unerträglicher Kauz gewesen sein muß.“ Die totale Hingabe an Gott scheint nicht immer auch menschlich sympathisch zu machen. Die Zeiten, in denen die Lutheraner den Reformator als Glaubens- und Nationalhelden gefeiert und das Reformationsfest entsprechend wie einen Heldengedenktag begangen haben, sind ein für allemal vorüber. Wir sollen Luther weder als Kirchenvater, als „ewigen Deutschen“, als Vorkämpfer für moderne Geistesfreiheit oder als Schöpfer der deutschen Schriftsprache verehren noch ihn als Erzketzer, Glaubensspalter oder Fürstenknecht verachten lassen. Was wir brauchen, ist ein Luther ohne Legende. Den richtigen Umgang mit seiner Person und Lehre hat Luther selbst gewiesen. Im Jahre 1522, also auf dem Höhepunkt der Reformation, schreibt Luther auf der Wartburg: „Ich bitt, man wollt meines Namens geschweigen und sich nit lutherisch, sondern Christen heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nit mein. So bin ich auch für niemand gekreuzigt. Wie käme denn ich armer, stinkender Madensack dazu, daß man die Kinder Christi sollt mit meinem heillosen Namen nennen? Nit also, lieben Freund, laßt uns tilgen die parteiischen Namen und Christen heißen, des Lehre wir haben. Ich bin und will keines Meister sein. Ich habe mit der Gemeinde die einige, gemeine Lehre Christi, der allein unser Meister ist.“ Indem wir uns danach richten, geben wir Luther zugleich den ihm gebührenden Platz innerhalb der christlichen Ökumene. Luther gehört nicht nur den Lutheranern, auch nicht nur den Protestanten, sondern der ganzen Christenheit, wie Augustinus oder Thomas von Aquin, aber auch Papst Alexander VI. nicht nur der römisch-katholischen Kirche zuzurechnen beziehungsweise anzulasten sind. Insofern versteht sich diese Biographie, obwohl von einem überzeugten Protestanten geschrieben, als ein ökumenisches Buch.

 

Am Vorabend der Reformation

Wer vom „Vorabend“ spricht, rechnet – in Furcht oder Hoffnung –damit, daß es ein Morgen gibt. Er befindet sich im Übergang und vermag nicht genau zu sagen, ob das Zwielicht, in dem er steht, noch das schwindende Licht des vergehenden Abends oder schon das kommende des anbrechenden Morgens ist. Solche „Übergangszeiten“ gibt es auch in der Geschichte, und es liegt gleichfalls in ihrem Wesen begründet, daß sich ihr Anfang und Ende chronologisch nur schwer bestimmen lassen, weil sie sich im Vorher oder Nachher verlaufen. Goethe hat solchen Geschichtsperioden die Überschrift „welterschütternder Übergang“ gegeben. Wenn diese Bezeichnung auf eine Epoche der Geschichte zutrifft, dann ist es das ausgehende Mittelalter, grob gerechnet die Zeit spätestens vom Ende des 14. Jahrhunderts bis tief noch in das 16. hinein. Es ist die Zeit Martin Luthers.

Welterschütternder Übergang
Das Jahrhundert vor der Reformation ist in ein tiefes Zwielicht getaucht. Es ist eine Zeit der Unentschiedenheit, der Schwebe zwischen Altem und Neuem. Auf der einen Seite hat man den Eindruck: Ende, Untergang, Vergehen, Tod. Ein voller, reicher Geschichtstag neigt sich dem Ende zu; die Schatten sind lang geworden. Bezeichnend für die herrschende Stimmung der Zeit ist die Vieldeutigkeit des Wortes „Melancholie“. Es bedeutet nicht nur Schwermut, sondern auch ernsthaftes Nachdenken und Phantasie. Dabei droht der Geist der Zeit jedoch immer wieder ins Dunkel hinüberzugleiten. Alles ist schon einmal dagewesen, alles schon einmal gedacht, alles schon einmal gesagt worden. Man ist fertig mit dem Bau, den man aufzuführen hatte, und so beginnt man, das Fertige zu wiederholen, es immer neu zu bearbeiten. Aber was soll᾿s? Es lohnt sich fast nicht, man ist müde von dem langen Tag. Am liebsten möchte man diesen Menschen die Hand auf ihre großen, traurig blickenden Augen legen, ihnen ihre langen, feingliedrigen Hände zusammenfalten und sie zur Ruhe betten bis zum Jüngsten Tag. Aber dies alles ist nur die eine Seite der Zeit. In die Schwermut, Melancholie, Resignation, Enttäuschung und Lebensangst, in Überreife, Stillstand und Vergehen mischt sich zugleich ein Zug von völlig anderer Art, „das siegreiche Gefühl eines fälligen neuen Anfangs“ (Joseph Lortz). Zur gleichen Zeit, als das Gefühl herrschte, daß die Welt alt geworden ist und die Geschichte vielleicht sogar ihrem Ende entgegengeht, wird die „Neue Welt“ entdeckt und damit eine neue Epoche in der Geschichte eingeleitet. In die trübe Erkenntnis, daß es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt, mischt sich das helle Bewußtsein eines neuen Anfangs. Es beginnt die Zeit der Entdeckungen und Eroberungen, der ersten Kolonisation – 1492 entdeckt Christoph Kolumbus Amerika. „Weltgeschichte“, bislang nur theoretisch als Begriff gedacht, füllt sich durch die Entdeckungen und Eroberungen jetzt mit konkretem Inhalt: Auf den neuen Landkarten tritt es auch sichtbar ins Blickfeld. Gleichzeitig durchstieß der Mensch das Himmelsgewölbe, das sich über ihn spannte. Der Thorner Domherr Nikolaus Kopernikus entdeckte aufgrund seiner Berechnungen der Umlaufbahnen der Himmelskörper, daß nicht die Sonne die Erde, sondern die Erde die Sonne umkreist, also nicht die Erde den Mittelpunkt der Schöpfung bildet. Das bedeutete mehr als nur eine neue naturwissenschaftliche Erkenntnis; daraus folgte eine neue Weltordnung. In demselben Augenblick, in dem infolge der Entdeckung des Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums rückte, wurde der Mensch zum universalen Bezugspunkt der Welt. Das mag Luther geahnt haben, wenn er über die Entdekkung des Kopernikus kurzweg urteilt: „So geht es jetzt, wer da will klug sein, der muß was Eigenes machen. Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift anzeigt, so hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht das Erdreich.“ So geht durch dieselbe Zeit, die auf Schritt und Tritt an das Vergehen im Herbst gemahnt, zugleich ein Erwachen, das an das Ahnen und heimliche Wachsen frischen Lebens im Frühling erinnert. Die Menschen sehnen sich nach etwas Neuem, sie warten auf eine gründliche Erneuerung des ganzen Lebens. Es ist, als hielten sie ihr Ohr der Zukunft entgegen, und was sie von dort vernehmen, ist etwas Gutes, Reines, Neues, voller Verheißung. Am zutreffendsten hat ein zeitgenössischer Chronist die seelische Verfassung des späten Mittelalters ausgedrückt: „Ich verstehe die Welt nicht mehr; es gehet ein ander Welt herfür.“ Dies ist der Ausdruck eines umfassenden Krisengefühls. Fragt man nach dem Grund dieses allgemeinen Krisenbwußtseins, so trifft man überall auf dieselbe Erklärung: Die universale Ordnung des Mittelalters, jene „auf Gott hin geordnete Welt“, die vom Thron Gottes bis zu den tiefsten Örtern der Erde und von dort wieder hinauf bis in den Himmel reichte, schien gestört. Das Mittelalter hatte die Wirklichkeit in einer Art architektonischem Idealismus durchkonstruiert. „Summen“ nannten die Scholastiker bezeichnenderweise ihre großen, die ganze Welt umgreifenden Werke. In ihrer umfassenden Einheit und unendlichen Vielfalt glich die von ihnen entworfene Hierarchie des Seins dem Bild einer gotischen Kathedrale; es war sozusagen eine Kathedrale von Ideen. Die Zeitgenossen fühlten sich darin wie in einem festen Gehäuse geborgen und vernahmen daraus Sinn und Anspruch für ihr Dasein. Es wurde ihnen Antwort gegeben auf ihre Frage nach dem Heil, nicht so sehr dadurch, daß die Frage nach dem persönlichen Schicksal des einzelnen beantwortet wurde, als vielmehr dadurch, daß dem einzelnen sein gottgewollter fester Platz, sein „Stand“, innerhalb des Ganzen angewiesen war. Mehr als auf die persönliche Heilsgewißheit des einzelnen kam es auf den Zusammenhang des Ganzen an. Solange die Harmonie des Ganzen glaubwürdig war und hielt, war die Welt „in Ordnung“. Nun aber war an die Stelle der einstigen Ordnung eine ebenso universale Unordnung getreten. In dieser Feststellung stimmen – fast bis in den Wortlaut – alle überein, die über die veränderte Zeit nachdenken. „Die Welt hat sich verkehret“, lautet der pessimistische Grundton, der sich durch die Schrift des sogenannten Oberrheiners zieht. „Nichts steht in rechter Ordnung“, faßt die Reformation Kaiser Sigmunds ihr Urteil über die Zeit zusammen; es ist kein „Lidmas“ da, das heißt kein Maßstab und kein ordnendes Prinzip. Das ganze Buch ist eine einzige heftige Klage über die verlorengegangene Ordnung und ein Ruf nach ihrer Wiederherstellung; es bezeichnet sich selbst als ein „Ordnungsbuch“. Am deutlichsten werden die Dinge bei Nikolaus von Kues. Wenn er den rings um ihn stattfindenden Verfall beschreibt, so kehren bei ihm immer dieselben Ausdrücke wieder: „Abweichung“, „verkehrte Ordnung“, „allgemeine Zerstörung“, „totale Entartung“; oder er sagt: Die Welt „verkommt“, „schwindet“, „nimmt ab“, „geht nieder“. In allen diesen Worten drückt sich ein und dasselbe Urteil aus: Die Ordnung hat sich in ein Chaos verwandelt. Und das erfüllt die Menschen mit Unruhe, Unsicherheit, Unzufriedenheit und vor allem mit Angst. Es ist eine namenlose Angst, die sich ihre wechselnden Objekte sucht und sich bald an diesem, bald an jenem festmacht. Die Krise hatte alle Lebensbereiche erfaßt, nicht nur die Kirche, sondern ebenso die Staaten und Stände, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, Sitte, Recht und Brauchtum. Da war das Reich. Während sich im Westen Europas England, Frankreich und Spanien als neue Nationalstaaten mit zentraler monarchischer Gewalt herausbildeten und man ringsum über den Staat und die Ausübung seiner Macht Neues und anderes zu denken begann, schleppte sich in der Mitte Europas das halb weltliche, halb geistliche Gebilde des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ dahin, schwer an der Bürde seiner vergangenen Herrlichkeit tragend, dazu an seiner Südostflanke noch ständig bedroht von den mächtig vordringenden Türken. Zwar versuchten die Humanisten die einstige Größe des Reiches neu zu beleben; sie träumten von der Wiederherstellung einer christlichen Universalmonarchie unter einem deutschen Kaiser. Eine kurze Zeit lang setzten sie ihre Hoffnung auf Maximilian I. Er wurde der „letzte Ritter“ genannt, und dieser Beiname charakterisiert ihn in der Tat aufs trefflichste. Es ist etwas Romantisches an seiner Gestalt, das die Zeitgenossen kräftig anzog und ihn preisen ließ wie kaum je einen anderen Herrscher, aber eben damit auch etwas Abenteuerliches, das durch keine entsprechende Wirklichkeit gedeckt war, und zwar sowohl in seiner Hofhaltung durch kein Geld als auch in seinem politischen und militärischen Handeln durch keine Macht und Stetigkeit. Nach innen wie nach außen hatte der Kaiser hochfahrende, ja ideale Pläne, von denen jedoch kaum einer verwirklicht wurde. Die Wirklichkeit sah so aus, daß das Reich seinen Bestand nur noch mit Mühe zu behaupten vermochte, daß es an seinen äußeren Grenzen bereits abzubröckeln begann, in seinem Innern aber allmählich einer Auflösung aller Ordnung zutrieb. „Unser Reich ist krank, blöd und schwach“, klagt die Reformation Kaiser Sigmunds und ähnlich, fast wörtlich, Gregor von Heimburg in einer Rede vor dem kaiserlichen Hofgericht: „In unseren Händen ist das Reich geschwächt worden und vernichtet. Unsere Nation, zerrissen und zerschlagen, findet zu keiner Stunde Ruhe, überall ertönt Kriegslärm, nirgends ist Sicherheit, jedermann lebt vom Raube.“ Diese allgemein empfundene Unsicherheit bedeutete nicht nur ein partielles, zufälliges Versagen des Reiches, sondern stellte es als Ganzes in Frage. Denn Recht und Frieden in der Welt zu wahren hatte von jeher als die entscheidende Aufgabe des Kaisers gegolten und aller derer, die ihm im Reiche nachgeordnet waren. Wenn Recht und Friede nun aber nicht mehr gewahrt wurden, sondern statt dessen allenthalben Unfriede und Rechtlosigkeit herrschten, dann hieß dies, daß das Reich seine Funktion als Ordnungsmacht nicht mehr erfüllte, und dann bedeutete dies für die Menschen damals das Ende aller Sicherheit. Die politische Schwäche Deutschlands am Ende des Mittelalters lag nicht zuletzt in der Verfassung des Reiches begründet, diesem unklaren Mittelding zwischen einer kaiserlichen Monarchie und einer fürstlichen Föderation. Wer sollte der Träger der Macht sein: der Kaiser oder die Stände? Um diese Frage ging ein unaufhörlicher Streit. Der Kaiser wollte sich nicht damit begnügen, nur ein Vorsitzender oder Präsident der Stände zu sein; die Fürsten aber wehrten sich gegen die „viehische Servitut“ und wollten ihre „Libertät“ bewahren. Und so glich die deutsche Landkarte in ihrer Buntheit einem Flickenteppich. Die Reichsmatrikel von 1495 nannte mehr als 350 weltliche und geistliche Territorialstaaten, Grafschaften, Reichsritterschaften, Abteien, reichsfreie Städte und so weiter. Was das Reich daher dringend brauchte, war eine gründliche Umgestaltung seiner Verfassung mit dem Ziel einer stärkeren Zentralisierung der Kräfte, einer neuen Verdichtung der politischen Substanz. Und so beschäftigte sich Reichstag um Reichstag während der ganzen Regierung Maximilians und bis in die ersten Jahre Karls V., manchmal fast Jahr um Jahr, mit dem Problem der Reichsreform. Aber was immer man beschloß – ob „ewiger Landfriede“, Reichskammergericht, „gemeiner Pfennig“ oder ständiges Reichsregiment–, jedesmal begann man verheißungsvoll mit großem Schwung, geriet aber ebenso rasch wieder ins Stocken: alles in allem nur ein Herumdoktern an den Symptomen, aber nicht die fällige gründliche Reform. Auf die Dauer gehörte die politische Zukunft im Reich den emporstrebenden Territorialstaaten, wenigstens den mächtigeren unter ihnen. Sie boten ein schwaches Abbild der im Westen entstandenen großen Nationalstaaten und damit zugleich einen Ausblick auf die künftige moderne Staatenwelt. Gleich jenen suchten die deutschen Territorialfürsten die mannigfach zersplitterten, sich überschneidenden Herrschaftsrechte in ihrer Hand zu vereinen – mit fester Residenz, einheitlicherem Gerichtswesen, gestraffter Finanzverwaltung und einem nicht mehr mit Klerikern, sondern mit Juristen besetzten Beamtenapparat. Als „Gottes Amtleute“ fühlten die Fürsten sich gleichermaßen für das leibliche Wohl wie für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich und dehnten ihre Macht dementsprechend auch über die Kirche aus. Das entscheidende Motiv ihrer Politik war das unablässige Streben nach Erweiterung und Befestigung der eigenen Macht. Aber eben diese politische Eigensucht der Territorialfürsten sollte dem Fortgang der Reformation zugute kommen. Verstrickt in seine außenpolitischen Kämpfe und dadurch für lange Jahre ferngehalten vom Reich, mußte der Kaiser mit den Fürsten paktieren und ihnen in Sachen der Religion immer wieder freie Hand lassen. Neben den Territorialfürsten waren die Städte und damit die Bürger die Gewinner, die Ritter und Bauern die Verlierer. Die Städte, zumal die freien Reichsstädte, wurden zu den Zentren des wirtschaftlichen und kulturellen, teilweise auch des politischen Lebens. Ihr Aufstieg wäre nicht möglich gewesen ohne den Übergang von der älteren Naturalwirtschaft zur neuen Geldwirtschaft. Mit der neuen, unheimlichen, bis dahin so nicht geahnten Macht des Geldes tritt der Frühkapitalismus auf den Plan und bewirkt große Veränderungen. Die Zeitgenossen erkannten nicht die Zwangsläufigkeit der Entwicklung und standen erschrocken und fassungslos vor dem, was sich vor ihren Augen tat. Noch Luther fragt halb staunend, halb erzürnt: „Wie ist᾿s möglich, daß es sollt göttlich und recht zugehn, daß bei einem Menschen sollten auf einen Haufen so große königliche Güter gebracht werden? Ich weiß die Rechnung nit, wie man mit hundert Gulden mag des Jahres erwerben zwanzig, ja ein Gulden den andern!“ Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Städte begann das Bürgertum seinen künftigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das öffentliche Leben insgesamt nahm eine Wendung zum Bürgerlichen hin. Ihres neuen Selbstwertes auch politisch bewußt, regierten die Bürger nicht nur in ihren größer und reicher werdenden Städten, sondern drangen auch in die Ratsstuben der Fürsten ein, wurden Räte, ja Kanzler. Sie erwarben Grund und Boden und ließen sich, wie früher die Adligen und Geistlichen, porträtieren. Dies alles geschah freilich nicht reibungslos, nicht ohne Konflikte zwischen Patriziern und Zünften und dazu einem entstehenden städtischen Proletariat. Die mittelalterliche Wirtschaftsordnung war in das christliche Liebesgebot gefaßt. Sie ruhte auf den drei Säulen: auskömmliche Nahrung – gerechter Preis – Zinsverbot. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft wandelten sich nicht nur Inhalt und Stil, sondern vor allem auch das Ziel alles Wirtschaftens. Geld ist Macht, Geld regiert die Welt – das ist die neue Erkenntnis, die man gewinnt. Und so begannen die entstehenden Großbanken und Handelshäuser auch sehr bald in der Politik eine Rolle zu spielen. Der aufkommende Fürstenstaat brauchte ständig Geld, und die Fugger, Welser, Paumgartner, Tucher, oder wie immer sie hießen, liehen es ihm und erhielten dafür Monopole. Damals fing es an, daß sich Politik und Kapital, Staat und Wirtschaft in die Hände spielten. Ein neuer Typ von Wirtschaftlern kam auf: kühne und kühl rechnende Geldmänner, die mit gewaltigem Kapital, gewagten Einsätzen, aber auch rücksichtslosen Methoden arbeiteten. Der Erwerb schien für sie zum Selbstzweck geworden zu sein. Als ein Freund Jakob Fugger riet, sich zur Ruhe zu setzen, da antwortete ihm dieser, „er habe viel einen andern Sinn, er wolle gewinnen, dieweil er könne“. Von den sieben Todsünden wurde die Habsucht jetzt zum Hauptlaster, wie zuvor, in der Zeit des Ritters, die Hoffart. Der Erfolg blieb nicht aus. Das Vermögen der Fugger stieg bis 1546 zum Höchststand von 4,75 Millionen Goldgulden (etwa 300 Millionen Goldmark) – das Zehnfache des Betrages, den das Bankhaus der Medici in Florenz 1450 erreicht hatte. Dafür haßte man die „Pfeffersäcke“ aus vollem Herzen und machte sie für alle Übel in der Welt verantwortlich. In einer Welt, deren Sinn vornehmlich auf das Praktisch-Rationale, ja Finanzielle gerichtet war, hatte der Ritterstand keinen logischen Platz mehr. Durch die Macht der aufstrebenden Landesfürsten einerseits und die überlegene Kriegskunst der neuen Infanterie und Artillerie andererseits in Bedrängnis geraten, verloren die Ritter ihre seit dem frühen Mittelalter überlieferte Funktion, als Panzerreiter den Kern des kaiserlichen beziehungsweise landesfürstlichen Heerbanns zu bilden. In Schlachtreihe oder zum Geviert formiert, stießen die Landsknechte die gepanzerten Ritter mit ihren langen Spießen vom Pferd oder brachen mit den neuen Geschützen ihre Burgen. Auf diese Weise von den modernen Söldnerheeren aus dem Felde geschlagen, flüchteten die Ritter sich in Raub und Fehde und gingen zugrunde, es sei denn, sie ließen ihre Nachkommen wie die Bürgersöhne studieren. Eine Symbolgestalt für den Niedergang des Ritterstandes ist Franz von Sickingen, auch er eine Art „letzter Ritter“ wie Kaiser Maximilian, nur von kleinerem Format. Von seiner Ebernburg bei Kreuznach aus verdingte er sich bald diesem, bald jenem als Kondottiere und verfolgte sogar hochfliegende politische Pläne. Zuletzt entfesselte er den Aufstand der Reichsritterschaft an Mittel- und Oberrhein (1522/23), sagte dem Erzbistum Trier Fehde an, wurde als Landfriedensbrecher geächtet und starb schließlich, schwer verwundet, tapfer unter den Trümmern seiner Feste Landstuhl. Die geringsten Chancen hatten damals die Bauern. Sie bildeten zahlenmäßig den weitaus größten, sozial aber den schwächsten Stand; sie waren so gut wie ausgeschlossen vom öffentlichen Leben der Nation und verfielen darum einer wachsenden Vereinsamung und Verkümmerung. Dabei war ihre wirtschaftliche Not gar nicht einmal so groß; was sie vor allem bedrückte, war ihre politische und soziale Zurücksetzung, die zunehmende Abhängigkeit durch strengere Eintreibung der Abgaben und Ausdehnung der Herrschaftsrechte über Wasser, Wald, Weide und Jagd. Wenn vom „armen Mann“ die Rede ist, dann sind damals in erster Linie die Bauern gemeint. Der „Arme“ aber ist gerade der, der Gott am nächsten steht, und der Ackerbau das Gott wohlgefälligste Werk: Sind es nicht die Bauern, die durch ihren Schweiß die Menschheit ernähren, und pflanzen sie nicht das Korn, das sich auf dem Altar in Gott verwandelt? Solche Verherrlichung, ja fast religiöse Verklärung bedeutet mehr als nur ein Lob des Bauernstandes; es rüttelt bereits gefährlich an den bestehenden Verhältnissen. Die rechtliche und soziale Zurücksetzung reizte mächtig zur Predigt von der Gleichheit aller: Alle Menschen sind Brüder von Adam her, und alle hat Christus durch sein teures Blut erkauft, den Bauern so gut wie den Edelmann und den Kaiser. Wie aber ist es dann möglich, daß es Leibeigene gibt, ja daß die einen arbeiten und die anderen müßiggehen? Solche Ungleichheit ist wider göttliches und menschliches Recht! Und so predigt man den sozialen Umsturz und hofft auf den Tag des großen Ausgleichs, von dem nicht immer ganz deutlich ist, ob er noch in diese Zeit fallt oder schon zum neuen zukünftigen Reich Gottes gehört. Das waren unklare, wirre Sozialrevolutionäre Ideen, teilweise eingebettet in eine phantastische Apokalyptik. Aber diese Ideen wirkten. Und so hörte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Unruhe unter den Bauern nicht mehr auf. Bald hier, bald dort, vor allem im Süden und Südwesten des Reiches, flammte ein Aufstand nach dem andern auf. Als auf dem Mainzer Reichstag 1517 eine Kriegshilfe für Kaiser Maximilian ausgeschrieben werden sollte, wagte man dies nicht, aus Furcht, „der gemeine Bauersmann möchte dadurch in seinem wütenden Gemüt noch mehr gereizt werden“. „Wir sind wie Schafe ohne Hirten, geschoren, nicht geweidet“ – das ist der Eindruck der Zeitgenossen am Vorabend der Reformation angesichts der Versuche, mit den großen Veränderungen der Welt, den „geschwinden Läufen“ der Zeit, wie man sagte, fertig zu werden. Es ist der Ausdruck eines allgemeinen Mißtrauens und des Gefühls einer allseitigen Führerlosigkeit. Das vorherrschende Merkmal der Lage ist im Inneren wie Äußeren eine Unausgeglichenheit der Kräfte, ein fast chaotisches Durcheinander. Und so ist Rebellion das Gebot der Stunde und der gegebene Zustand. Es ist eine anarchische Zeit. Jeder ist gegen jeden: die Territorialherren gegen den Kaiser, die Städte gegen die Fürsten und Bischöfe, die Ritter gegen die Pfeffersäcke, die Plebejer gegen die Patrizier, die Bauern gegen den Adel, alle miteinander aber gegen die Pfaffen und die römische Tyrannei. So entstand eine allgemeine Gärung, die auf eine gewaltsame Lösung der Dinge zutrieb. Der Oberrheiner dekretierte: „Das Volk macht ein᾿ Kaiser, und der Kaiser macht nit das Volk.“ Verstärkt wurde diese Gärung noch durch die immer wieder auflebende Sehnsucht nach dem „Friedenskaiser“, der kommen würde, um, wie sein Name „Friedrich“ besagt, Frieden und Recht in der Welt wiederherzustellen, damit der gemeine Mann wieder atmen und leben kann. Und so begann man, diese oder jene Rettergestalt in Aussicht, sich zu „Bünden“ zusammenzuschließen. Aber je dunkler und unverständlicher den Menschen die Welt wurde, je mehr sie ihnen aus den Fugen und in Unordnung zu geraten schien, desto leidenschaftlicher bestürmten sie den Himmel.

Heinz Zahrnt

Über Heinz Zahrnt

Biografie

Heinz Zahrnt, geboren 1915 in Kiel und 2003 gestorben, galt als der große alte Mann der protestantischen Theologie. Er war von 1948 bis 2000 theologischer Chefredakteur des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts und seit 1960 im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Sein Werk liegt im...

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