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Im toten Winkel

Jochen Rausch
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Roman

„›Im toten Winkel‹ ist ein Roman, der unter die Haut geht, eine Geschichte, die sich ins Extreme lehnt, die Grenzen des Erträglichen auslotet.“ - Westdeutsche Zeitung

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Im toten Winkel — Inhalt

Eine Kleinstadt im Niemandsland, eine Ermittlerin auf der Suche nach einem neuen Leben, ein ungeklärter Mord aus der Vergangenheit

Die Ermittlerin Marta Milutinovic sucht einen Neuanfang. Alles, woran sie glaubte, hatte plötzlich in Trümmern gelegen: ihre Familie, die Liebe, die Geltung von Recht und Gesetz, ihre Zukunft. In der fränkischen Provinz übernimmt sie die Leitung einer Polizeidienststelle, um zur Ruhe zu kommen, doch ihre Ermittlungen in einem Cold Case sorgen für Unruhe und Widerstand.

„Lesen Sie Jochen Rausch. Es wird Sie umhauen. Versprochen!“ Spiegel-Online

Der lang zurückliegende ungeklärte Tod eines Abiturienten rührt an ihre eigene Vergangenheit. Und Marta Milutinovic spürt, dass sie einem großen Geheimnis auf der Spur ist. Psychologische Spannung vom Feinsten!

„Rausch schreibt Gänsehautgeschichten.“ Westdeutsche Zeitung

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erschienen am 30.03.2023
304 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07164-2
Download Cover
€ 16,99 [D], € 16,99 [A]
Erschienen am 30.03.2023
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60424-6
Download Cover
„Ein spannender Krimi mit einer vielschichtigen Hauptfigur, deren Persönlichkeit und Schicksal neugierig auf mehr macht.“
SR3 „Krimitipp“
„Ein ganz feiner, finsterer Krimi, gegen den Strich gebürstet.“
Der Standard

Leseprobe zu „Im toten Winkel“

01

Es soll aufhören. Endlich aufhören. Die Lügen. Die Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Wer schuld war? Wer denn? War Charlotte schuld? Weil sie jung war? Siebzehn. Jung und hübsch? Weil sie Kopfhörer trug und Musik hörte? Und ihr Pferdeschwanz? War der schuld?

Er soll still sein. Sei still.

Nein, er ist nicht still. Ist taub und blind für den Schmerz der anderen. Spürt nur seinen eigenen Schmerz. Mami, Mami, es tut so weh.

Sein Vater hatte sich am Bahnhof bei den Albanern eine Knarre besorgt. Eine Beretta. Hatte sich die Beretta in den Mund [...]

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01

Es soll aufhören. Endlich aufhören. Die Lügen. Die Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Wer schuld war? Wer denn? War Charlotte schuld? Weil sie jung war? Siebzehn. Jung und hübsch? Weil sie Kopfhörer trug und Musik hörte? Und ihr Pferdeschwanz? War der schuld?

Er soll still sein. Sei still.

Nein, er ist nicht still. Ist taub und blind für den Schmerz der anderen. Spürt nur seinen eigenen Schmerz. Mami, Mami, es tut so weh.

Sein Vater hatte sich am Bahnhof bei den Albanern eine Knarre besorgt. Eine Beretta. Hatte sich die Beretta in den Mund geschoben und abgedrückt. War der schuld?

Kein Witz, Frau Richter. Mein Vater hat in der Schraubenfabrik Schrauben gezählt. Soll ein Junge einen Schraubenzähler bewundern, wenn die Väter von den anderen Jungs Bulldozerfahrer sind oder bei der Feuerwehr?

Schraubenzähler, Schraubenzähler, haben die gerufen.

Sei doch endlich still. Sag nichts mehr. Nichts. Kein Wort. Charlotte, Liebling. Ich liebe dich. Und ich vermisse dich. Keinen Menschen vermisse ich so sehr wie dich.

Seine Mutter ist also auch schuld. Auch wenn die keine Albaner gekannt hatte. Seine Mutter nahm Schlaftabletten. Sie sammelte die Pillen wie Eichhörnchen Nüsse sammeln.

Eichhörnchen sind meine Lieblingstiere, Frau Richter. Ehrlich wahr.

Im Zuschauerraum wird gehustet. Um Gottes willen darf nicht gelacht werden. Die Richterin schaut streng in den Saal. Wer lacht, den bringt der Justizwachtmeister auf den Flur.

Frau Richter, mit elf Jahren war ich im Waisenhaus. Ich war der Einzige, dem seine Eltern sich umgebracht haben. Die konnten ihren eigenen Sohn nicht leiden. Darum haben die sich umgebracht. Damit sie mich nicht mehr sehen müssen.

Jetzt lacht doch einer im Zuschauerraum. Ein junger Mann. Wer bei Gericht zuschaut, weiß, dass das wahre Leben schlimmer ist als alles, was im Fernsehen gezeigt wird. Im Film sind die Toten Schauspieler, die sich nach dem Dreh die Schminke und das Theaterblut aus dem Gesicht wischen und sich auf die Schultern klopfen, weil sie so gute Leichen waren.

Er hockt auf der Anklagebank wie der arme Sünder. Arm und unschuldig. Und blass wie die Wand. Vielleicht sollten Sie versuchen, ihm zu vergeben, Marta, hatte der Seelsorger gesagt. Vielleicht bringt es Ihnen den Frieden.

Nein, hatte sie gesagt. Einen solchen Frieden will ich nicht.

Mit den Eltern muss man Mitleid haben. Wie kann man nur ein unschuldiges Mädchen von siebzehn Jahren totmachen? Der Vater hat gesagt, seine Charlotte wäre zu jedem Menschen freundlich gewesen. Selbst zu den unfreundlichen. Und ausgerechnet ein solches Mädel gerät an einen Perversen wie den. Er wollte sie nur mal küssen, hat er gesagt. Und sie hätte so gut gerochen und der Pferdeschwanz – der hätte ihn verrückt gemacht. Wenn man so etwas hört, da kann einem doch schlecht werden. Was der mit dem armen Mädchen gemacht hat, das müsste man mit dem machen. Ihm langsam die Luft abdrehen und fertig. Das wäre gerecht. Das ist meine Meinung, ist mir egal, wenn sie den Kopf schütteln. Die Eltern von der Charlotte, die tun mir leid. Der Vater Ingenieur und die Mutter bei der Polizei. Ausgerechnet einer Kommissarin passiert so was Schreckliches mit dem eigenen Kind.

Du musst misstrauischer werden, Charlotte. Nicht jeder ist dein Freund, Liebling, hatte sie gesagt.

Mama, du bist bei der Polizei, und deshalb siehst du überall Gespenster.

Deine Mutter hat recht, Charlotte.

Ihr seid voll süß. Ihr seid mega Eltern. Ich habe euch voll lieb.

Eigentlich wollte ich Pilot werden, Frau Richter. Aber als der Sohn von einem Schraubenzähler wird man ja wohl nicht Pilot. Wissen Sie, was meine Mutter erzählt hat? Dass die Hebamme gesagt hat, was haben wir denn da für einen hässlichen Balg auf die Welt gebracht? Das sagt man doch nicht. Oder sind Sie anderer Meinung, Frau Richter? Im Knast kann mich auch keiner leiden. Einem Kinderficker wie mir müsste man einen Lötkolben in den Arsch schieben, sagen die. Oder gleich den Schwanz wegflexen.

Wenn noch mal jemand lacht, schließe ich die gesamte Zuhörerschaft vom Prozess aus, sagt die Richterin ins Mikrofon.

Angeklagter, haben Sie eigentlich nicht das leiseste Mitgefühl?

Was soll ich haben, Herr Staatsanwalt?

Mitgefühl. Schauen Sie sich doch mal Charlottes Eltern an. Wie sollen die das ertragen, wenn Sie hier so daherreden.

Wie rede ich denn daher?

Sie jammern und heulen wie ein Kind. Dabei sind Sie ein erwachsener Mensch, Herr Angeklagter. Nein, einen Menschen will ich Sie nicht nennen. Für mich sind Sie ein Monster.

Einspruch, Euer Ehren. Ich sehe in der Einlassung des Herrn Staatsanwalts eine unzulässige Beeinflussung des Gerichts und der Geschworenen.

Einspruch stattgegeben, Herr Verteidiger.

Okay, dann sperren Sie das Monster weg, Frau Richter. Lebenslänglich am besten und danach in die Klapse. Dass ich euch Heiligen bloß nicht mehr unter die Augen komme. Ich bin ja nur Dreck, Dreck, Dreck, Dreck.

Die polizeilichen Ermittlungen haben ergeben, dass das Zusammentreffen von Opfer und Täter zufällig war, sagt der Kommissar. Der Angeklagte lungerte wie jeden Tag an dem stillgelegten Bahnhof herum. Er bemerkte Charlotte erst, als sie beinahe schon vorbeigelaufen war.

Ja, das stimmt. Ich hab da einfach so gesessen. Da liefen ja immer hübsche Mädchen lang. Mit super Figuren. Aber mir hat keine so gut gefallen wie die mit dem Pferdeschwanz.

Er soll aufhören. Endlich aufhören.

Mit welcher Absicht haben Sie das Mädchen verfolgt, Angeklagter?

Welche Absicht? Das hat mir die Stimme gesagt.

Welche Stimme, Angeklagter?

Die Stimme ist bei mir im Kopf einprogrammiert. Wie ein Navi im Auto. An der Kreuzung links abbiegen, verstehen Sie, Frau Richter?

Und die Stimme hat gesagt, Sie sollen die Joggerin verfolgen?

Genau das hat die Stimme gesagt: Lauf hinter dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz her. Der Pferdeschwanz hat mich hypnotisiert. Sonst wär das doch alles gar nicht passiert.

Die Zuschauer halten jetzt die Luft an. Sie wollen wissen, wie er es gemacht hat. Wie er Charlotte …

… die trug Kopfhörer. Die hat Musik gehört. Das war ihr Fehler, würde ich sagen. Die konnte ja bestimmt schneller rennen als ich. Die hat mich aber nicht gehört. Und der Pferdeschwanz ging immer hin und her. Das hat mich verrückt gemacht. Und dann hat die Stimme zu mir gesagt, ich soll den Pferdeschwanz festhalten.

Aus psychiatrischer Sicht ist dem Angeklagten in diesem Augenblick alles durcheinandergeraten, sagt der Gutachter. Als hätte er fünf Filme auf einmal gesehen, so müssen Sie sich das vorstellen, Euer Ehren.

Nee, das stimmt nicht, Herr Psychiater. So war das nicht. Ich hab nur einen Film gesehen. Und nicht fünf Filme.

Und was haben Sie gesehen, Angeklagter?

Marta muss raus. Sie kann nicht mehr da sein, kann es nicht mehr hören, nicht mehr sehen, nicht mehr ertragen.

Auf dem Flur sitzt eine Frau auf einer Bank und raucht. Wo sind die Zigaretten? Haben Sie mal eine Zigarette für mich? Vielen Dank.

Ein Wachtmeister schiebt ein Wägelchen mit Akten. Die Räder quietschen. Hat denn nicht mal jemand einen Tropfen Öl für die Räder?

Auf die Toilette, die Zigarette im Waschbecken ausdrücken. Und alles auskotzen. Alles. Nur nicht die Erinnerungen. Die lassen sich nicht auskotzen. Die Bilder. All diese Bilder. Wie Charlotte lächelte. Wie Charlotte sprach. Wie sie schaute. Wie sie roch.

Mama?

Charlotte?

Mama, so wach doch auf. Mama!

02

Es ist noch nicht Morgen, auch nicht mehr Nacht. Es ist irgendwann dazwischen. Marta lehnt am Geländer, zwischen den leeren Blumenkästen. Der Himmel ist ein flächiges, silbriges Schimmern. Wie eine Verheißung. Der Horizont ist ein Faden Licht. Im Appartementhaus gegenüber brennt die Neonleuchte in einer Küche. Sonst sind alle Fenster dunkel. In der Küche sitzt ein Mann im Unterhemd. Vermutlich ein Frühaufsteher. Der Mann streicht die Zeitung glatt und greift blind nach der Kaffeetasse.

Die Stadt schläft noch, gibt sich unschuldig. Vielleicht ist Schwarzbach ja unschuldig. Im Polizeibericht waren gestern nur vier Einträge. Eine Rangelei zwischen einem Ehepaar in einem Supermarkt; eine Unfallflucht im Parkhaus; ein Einbruch in eine leere Lagerhalle, und eine Schülerin wollte mit einer Kreditkarte, die sie auf der Straße gefunden hatte, im Drogeriemarkt einen Lippenstift kaufen.

Mama, nicht rauchen.

Marta nimmt einen tiefen Zug und lässt den Rauch über die Brüstung des Balkons ins Halbdunkel schweben. Der Mann stellt sich ans Fenster, er ist nackt, und Marta schaut weg.

Geht es immer so harmlos zu in Schwarzbach?, hat sie gestern bei der Besprechung gefragt.

Hartmann hat gelacht und ihr die Akte gebracht. Der letzte Mord geschah vor neun Jahren. Ein Motorradfahrer hatte die Küsterin der Maria-Hilf-Kirche in ihrem Auto gefunden, es stand an der Landstraße nach Tschechien. Die Frau lag auf dem Rücksitz, der Mörder hatte ihr die Füße in die Halteschlaufen geschoben. Und ihr dabei die Hüftknochen ausgerenkt. In der Frau hatte die Ratsche des Wagenhebers gesteckt.

Widerlich.

Die Kollegen hatten eine Ringfahndung ausgelöst, und währenddessen war ein Lieferwagen eines Paketservice an der Polizeiwache vorgefahren. Der Fahrer hatte eine Weihnachtsmannmütze mit blinkenden Lichtern getragen, so stand es in der Akte.

Der Nikolaus ist da, habe der Diensthabende noch gerufen, und alle hätten gelacht, erzählte Hartmann. Woher hätten sie denn wissen sollen, dass der Mann mit der blinkenden Mütze nicht der Nikolaus gewesen wäre? Sondern der Mörder.

Ich wollte mal eine Frau kaputtmachen, hatte er bei der Vernehmung gesagt.

Und warum?, fragte Hartmann.

Wenn ich das wüsste.

Eine Kirchturmglocke schlägt. Wenn in den Nächten die Träume kommen, wenn sie Charlotte sieht und die Stimmen aus dem Gericht hört, dann kommt der Moment, in dem Marta sich selber aus dem Schlaf reißt. Und jedes Mal erleichtert ist, in ihrem Bett zu liegen und nicht bei Gericht auf der Bank der Nebenkläger zu sitzen. Wo sie sich selber wie eine Angeklagte gefühlt hatte.

Angeklagt, ihr Kind nicht beschützt zu haben.

Sie hatte es Charlotte doch versprochen, als sie das Baby zum ersten Mal in den Armen hielt. Ihr Baby. Sie hatte es geküsst und geflüstert, sie werde immer für sie da sein, immer, immer, immer, und sie vor allem und jedem beschützen.

Und dann war sie doch zu weit weg gewesen. Viel zu weit weg, und er hatte sie gepackt und …

Mama.

Die Erleichterung, es nur geträumt zu haben, weicht der Ernüchterung, dass sich alles so zutrug, wie sie es immer wieder aufs Neue träumt. Marta wird Charlotte nie wiedersehen, sie wird nie wieder ihre Stimme hören, wird ihr Baby nie wieder riechen und umarmen und küssen und über seine Hände streicheln. Nie wieder.

Als Marta vor einigen Tagen aufgebrochen war, weg aus München, hatte sie die Hoffnung gehabt, die Albträume in der Stadt zurückzulassen. Da in dem schicken Viertel, in der schönen Wohnung. In der Tom und sie in den vier Jahren, nachdem es geschehen war, nichts verändert hatten. Nicht mal die Möbel oder eine Vase hatten sie an einen anderen Platz gerückt. Falls sie doch noch zurückkäme, sollte Charlotte alles so vorfinden, wie sie es verlassen hatte.

Aber natürlich war Charlotte nicht zurückgekommen. Kommt nicht zurück. Wird nicht zurückkommen. Charlotte ist tot. Wurde eingeäschert, wurde zu Asche in einer Urne.

Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Ohne ein Wort hatten die Kollegen ihr Charlottes Sachen gebracht. Was sollten sie auch sagen? Sneaker, Jogginghose, Shirt, Anorak, Unterwäsche, Handy, Kopfhörer, Armbanduhr, der Ring, den Toms Eltern ihr zum Fünfzehnten geschenkt hatten, und die Ohrstecker von Papa, die sie nie trug, weil sie ihr zu kitschig gewesen waren. Selbst das Gummi, mit dem Charlotte sich den Zopf gebunden hatte, brachten sie ihr.

Der Pferdeschwanz hat mich …

Und dann war Marta ein letztes Mal die Treppe heruntergegangen. Wie oft hatte sie Charlotte nach oben oder unten getragen? Bis das Kind selber gelaufen war. Stolz lachend und jede Stufe einzeln nehmend. Charlotte war ein aufgewecktes Mädchen gewesen, begeistert von dem, was im Kindergarten geschehen war. Sie hatte die Lieder gesungen und die Geschichten nacherzählt und von einem Jungen mit schwarzen Locken geschwärmt. Tim.

Der hübsche schwarze Locken hatte wie der Papa.

Später, als Schulkind, war Charlotte dann mit stampfenden Schritten auf ihre Etage hinaufgestiegen, und noch einige Jahre später das vorsichtige Staksen, als sie schon eine junge Frau gewesen war und zum ersten Mal hohe Absätze getragen hatte. Zum Tanzen, Feiern, Trinken und Knutschen. Und am letzten Tag von allen war Charlotte leichtfüßig und arglos die Stufen heruntergehüpft, in ihren schicken neuen Laufschuhen, die Stufen kaum berührend, im Sportzeug. In ihren Ohren hatten schon die Bluetooth-Kopfhörer gesteckt, und der Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt.

Schade, dass Sie ausziehen, Marta. Sie waren mir immer die Liebste im Haus, hatte Lemke gesagt. Der Hausmeister.

Das ist nett von Ihnen, Herr Lemke.

Aber ich kann’s verstehen, wenn einen alles an alles erinnert.

Vielleicht bekomme ich ja da, wo ich hingehe, mein Leben zurück, hatte Marta gesagt. Auch wenn sie nicht daran geglaubt hatte.

Das wünsche ich Ihnen, hatte Lemke gesagt und gewunken, und Marta hatte die Chipkarte an die Schranke gehalten und war, von Tränen blind, Dutzende Kilometer in die falsche Richtung gefahren, nach Süden und nicht nach Norden.

Es war ihr erst aufgefallen, als sie die Gipfel der Alpen sah.

Tom wird die Möbel und die Wohnung verkaufen. Vielleicht zieht er zu der anderen oder auch nicht. Kurz vor Schwarzbach hatte Marta an einem Möbelhaus gehalten und die Musterwohnung gekauft. Die Monteure hatten gegrinst, als sie die Möbel in ihrer Wohnung so aufbauten, wie sie in der Ausstellung gestellt waren.

Der Nackte im Haus gegenüber ist wieder in der Küche und löscht das Licht, er geht in den nächsten Raum, wo das Licht aufscheint und er sich ins Bett legt.

Dann ist er wohl doch kein Frühaufsteher.

Die Dinge sind oft anders, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Das weißt du doch, Marta, hatte Christoph gesagt, als es passiert war. Und er hatte recht gehabt. Natürlich. Ein einziger Schuss und ihr allergrößter Fehler.

Können Sie auch nicht schlafen?

Marta erschrickt, sie hat niemanden bemerkt da draußen. Jetzt erkennt sie eine Silhouette auf dem Balkon nebenan, der Stimme nach eine ältere Frau.

Ich hab was Blödes geträumt, sagt Marta.

Bei mir ist es die Schlaflosigkeit. Nachts kann ich nicht schlafen und tagsüber auch nicht, sagt die Frau und lacht.

Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich eine Zigarette rauche, sagt Marta.

Mein Mann hat auch geraucht. Das konnte er einfach nicht lassen. Mein Klaus ist schon drei Jahre tot. Wie die Zeit vergeht. Zum Glück habe ich ja noch den Phosphor.

Das tut mir sehr leid mit Ihrem Mann, sagt Marta. Und wer ist Phosphor?

Das ist mein Kater, sagt die Frau.

Phosphor ist ein recht ungewöhnlicher Name für einen Kater, sagt Marta.

Ich weiß, sagt die Nachbarin. Es war die Idee meines Mannes. Aber fragen Sie mich nicht, wie er darauf gekommen ist.

Mir wird kalt, sagt Marta und drückt die Zigarette in dem Blumenkübel aus.

Um diese Zeit höre ich oft die Vögel singen, sagt die Nachbarin.

Für eine Weile sind sie still und lauschen in die Dämmerung. Da ist ein feines Rauschen in der Luft, und einmal fährt ein Auto. Aber Vögel hört Marta nicht.

Vielleicht schlafen die auch noch, sagt die Frau und lacht.

Martas Bett hat noch einen Rest Wärme. Das mag sie, unter die warme Decke zu kriechen, die Arme und Beine anzuziehen und sich in die Kissen zu drehen. Wie sich eine Raupe in einen Kokon dreht.

Marta schließt die Augen, und jetzt, da sie ruhig daliegt, kann sie doch noch die Vögel hören.

Jochen Rausch

Über Jochen Rausch

Biografie

Jochen Rausch ist Autor, Journalist, Musiker. Der Grimmepreisträger veröffentlichte den Erzählungsband „Trieb“ (2011), den Roman „Krieg“ (2013, verfilmt von Rick Ostermann und vorgestellt beim Internationalen Film-Festival in Venedig 2017) sowie „Rache“ (2015) und „Im Taxi. Eine Deutschlandreise“...

INTERVIEW mit Jochen Rausch

Was hat Sie zum Schreiben dieses Thrillers inspiriert?

Ich stieß im Netz zufällig auf den Twitter-Account eines jungen Amerikaners, der vor 40 Jahren ermordet wurde. Er wendet sich immer wieder an seinen Mörder, der nie ermittelt werden konnte. Der Account wird von Familienangehörigen des Ermordeten geführt. Eine Geschichte aus Crime und nie endender Liebe, dieser Zusammenhang interessiert mich bei all meinen Büchern. 

Wie würden Sie die Protagonistin Marta Milutinovic beschreiben?

Es ist ein Wagnis, als Mann eine Frau zu beschreiben. Marta hat slowenische Wurzeln und ist ein Mensch mit einer tiefen Liebesfähigkeit, aber sie ist auch impulsiv und macht Fehler. Zum Teil krasse Fehler. Aber sie entwickelt sich, sie kommt nach und nach aus dem tiefen Tal wieder heraus, in dem sie aufgrund persönlicher Schicksalsschläge und beruflicher Fehlleistungen steckte. Sie wächst - irgendwann sogar über sich hinaus und am Ende wird es fast schon gut für sie…

Wird es noch mehr Fälle für Marta geben?

Ich habe fast drei Jahre an Marta und ihrer Geschichte gearbeitet. Ich bin auch irgendwie verliebt in sie. Und sie hat das Potenzial, sich weiter zu entwickeln. Eine Geschichte existiert schon in groben Zügen - es geht also weiter, aber nicht so, wie man es vielleicht erwartet...
 

Medien zu „Im toten Winkel“
Pressestimmen
SR3 „Krimitipp“

„Ein spannender Krimi mit einer vielschichtigen Hauptfigur, deren Persönlichkeit und Schicksal neugierig auf mehr macht.“

Der Standard

„Ein ganz feiner, finsterer Krimi, gegen den Strich gebürstet.“

Radio freeFM „Freunde reden Tacheles“

„Starkes Buch“

Westdeutsche Zeitung

„›Im toten Winkel‹ ist ein Roman, der unter die Haut geht, eine Geschichte, die sich ins Extreme lehnt, die Grenzen des Erträglichen auslotet.“

Freundin

„Der erste Teil von Jochen Rauschs Grenzland-Reihe ist keine leichte Krimikost – sondern ein intelligenter, harter Thriller, durchzogen von tiefem Schmerz.“

ultimo

„Psychologische Spannung vom Feinsten!“

kulturnews.de

„Die Figuren der neuen Grenzland-Reihe, sind jedoch alles andere als eindimensional und durch den stimmigen Plot lebensnah inszeniert.“

To Go Berlin

„So rasant und schnell überschlagen sich Ereignisse und der Leser wird in einen Strudel gerissen, der diesen Psycho-Thriller zu einem wahren Highlight erwachsen lässt. Wer Spannung liebt, wird diesem Buch verfallen.“

Merkur online

„Eine Geschichte, die in die tiefen Abgründe hineinführt und den Leser zu fesseln versteht. Ein überaus kühler psychologischer Krimi mit Suchtpotential.“

karinhahnrezensionen.com

„Jochen Rausch kann spannend und atmosphärisch schreiben.“

Wuppertaler Rundschau

„Wie in all seinen bisherigen Texten gelingt es Rausch, ohne Effekt-Getue und vorhersehbare Handwerk-Tricks zu fesseln.“

Wuppertaler Rundschau online

„Seine Figuren, die in Sachen Optik & Co. viel Platz für die Leser-Fantasie lassen, sind anfassbar und entblättern ihre Seele sowie ihre Abgründe Schritt für Schritt. Wie in all seinen bisherigen Texten gelingt es Rausch, ohne Effekt-Getue und vorhersehbare Handwerks-Tricks zu fesseln. Sein Stil zieht auch in ›Im toten Winkel‹ in den Sog.“

BÜCHERmagazin

„Für Fans kühler, psychologischer Krimis ein spannender Auftakt einer Reihe im deutsch-tschechischen Niemandsland.“

Radio Mülheim

„›Im toten Winkel‹ ist Psychologische Spannung vom aller feinsten und eine Geschichte, bei der sich menschliche Abgründe auftun.“

Kölner Stadt-Anzeiger

„Das ist gut erzählt und spannend zu lesen.“

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