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Gesetz des Midas – Wiener Abgründe (Leopold Kern 3) Gesetz des Midas – Wiener Abgründe (Leopold Kern 3) - eBook-Ausgabe

Peter Lorath
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Historischer Kriminalroman

— Wiener Abgründe und ein Ermittler mit ungewöhnlichen Methoden
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Gesetz des Midas – Wiener Abgründe (Leopold Kern 3) — Inhalt

Im Wien der Ringstraßen-Zeit und der Belle Epoque ermittelt Leopold Kern, ein geheimer Sonderermittler mit engen Kontakten zur Halbwelt, in seinem neuesten Fall. 

Nach der Ermordung des russischen Zaren liegen bei Polizeipräsident Marx die Nerven blank. Ungereimtheiten an der Leiche eines ermordeten Ziegelarbeiters lassen ihn ein ähnliches Attentat in Wien befürchten. Doch die Staatsanwaltschaft hat bereits ein Geständnis für die Tat vorliegen und sieht von weiteren Ermittlungen ab. Marx beauftragt seinen geheimen Sonderermittler mit der Klärung des mysteriösen Falls. In den Ziegelwerken vor den Toren Wiens gerät Leopold Kern in einen Sumpf aus Gier und Gewalt. Sein Fall wächst sich zu einer Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden der gesamten Monarchie aus und erschüttert Kerns Wertvorstellungen tief in ihren Grundfesten. Als ihn seine Menschenkenntnis im Stich lässt, ist auch sein Leben in tödlicher Gefahr.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erscheint am 01.08.2025
480 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50800-1
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€ 5,99 [D], € 5,99 [A]
Erscheint am 01.08.2025
400 Seiten
EAN 978-3-377-90167-5
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Leseprobe zu „Gesetz des Midas – Wiener Abgründe (Leopold Kern 3)“

Tod eines Herrschers

Kein Normalsterblicher erhielt ohne Passierschein Zutritt zur zweiten Etage der Wiener Polizeidirektion am Schottenring 11. Hier residierte das Zentrum der Macht – der Wiener Polizeipräsident Wilhelm Marx Ritter von Marxberg mit seinem Büro und seiner direkt angrenzenden Dienstwohnung. Am Abend des 13. März des Jahres 1881 fanden sich bei ihm drei Männer zu einer dringlichen Sitzung ein. Eduard Graf Lamezan-Salins, Leiter der k. k. Staatsanwaltschaft Wien in der Landesgerichtsstraße, Hofrat Anton Weiß, Leiter der Staatspolizei und [...]

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Tod eines Herrschers

Kein Normalsterblicher erhielt ohne Passierschein Zutritt zur zweiten Etage der Wiener Polizeidirektion am Schottenring 11. Hier residierte das Zentrum der Macht – der Wiener Polizeipräsident Wilhelm Marx Ritter von Marxberg mit seinem Büro und seiner direkt angrenzenden Dienstwohnung. Am Abend des 13. März des Jahres 1881 fanden sich bei ihm drei Männer zu einer dringlichen Sitzung ein. Eduard Graf Lamezan-Salins, Leiter der k. k. Staatsanwaltschaft Wien in der Landesgerichtsstraße, Hofrat Anton Weiß, Leiter der Staatspolizei und stellvertretender Polizeipräsident, und Polizeikommissär Bernhard Frankl, zuständig für die Unterwanderung der Arbeiterbewegung durch Spione und den Kampf gegen Anarchisten, erwiesen dem Polizeipräsidenten die Ehre. Keiner von ihnen benötigte einen Passierschein.

Sie saßen in Marx’ nüchtern eingerichtetem Büro an einem kleinen, runden Tisch, der mit seinen vier Kaffeehausstühlen für rein informelle Besprechungen benutzt wurde, klassischerweise mit einem Tässchen Kaffee oder Tee, manchmal auch ein wenig Bäckerei. Mitunter servierte der Polizeipräsident den Tee in Geschirr aus hauchdünnem Eierschalenporzellan, das er bei einem Arbeitsbesuch in London als Geschenk erhalten hatte und über alles liebte.

Doch an diesem Abend gab es nichts dergleichen. Marx saß starr an seinem monströsen Schreibtisch, verschanzt hinter einem wohlsortierten Aktenberg aus akribisch angeordneten Dokumenten und einer Schreibgarnitur aus rosa Marmor. Er wirkte deutlich älter als die sechsundsechzig Jahre, die er tatsächlich zählte. Das hohlwangige, lange Gesicht mit der Halbglatze, der geraden Nase und dem buschigen, grauen Kaiserbart war von Sorgen umwölkt. Die sonst gütig dreinblickenden blassblauen Augen wirkten gehetzt und nervös. Daumen und Zeigefinger der linken Hand rieben heftig aneinander, ein Zeichen der Nervosität, das allerdings nur Eingeweihte zu deuten wussten.

Marx wartete, bis die Unterhaltung seiner Gäste erstorben war, und setzte sich schweigend zu ihnen. Mit ernster Miene faltete er seine Hände und stützte die Unterarme auf den Tisch. Gespannt sahen ihn die drei Männer an. Sie wussten lediglich, dass der Präsident soeben aus dem Ministerium des Äußeren zurückgekehrt war. Die Botschaft, die er zu verkünden hatte, war mit Sicherheit von großer Tragweite und ließ nichts Gutes erwarten.

„Meine Herren, zunächst danke ich für Ihr promptes Erscheinen“, eröffnete Marx die Sitzung. Er ließ eine bedeutungsschwere Pause folgen, als wollte er sich noch einmal der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer versichern. Vielleicht fiel es ihm aber einfach nur schwer, mit der Hiobsbotschaft herauszurücken, die man ihm übermittelt hatte. Nach einem kurzen Seufzer fuhr er fort. „Soeben wurde mir im Ministerium des Äußeren mitgeteilt, dass der Zar, seine Majestät Alexander II., von feigen Attentätern heimtückisch ermordet wurde. Vor drei Stunden hat ihm eine Bombe beide Beine zerfetzt. Die Depesche wurde um halb sieben Uhr abends übermittelt.“ Es folgte ein detaillierter Bericht über den aktuellen Stand der Ermittlungen in Petersburg. Danach herrschte betroffenes Schweigen.

Hofrat Weiss, ein großer, korpulenter Mann mit dichtem braunem Haarschopf und buschigem Schnauzbart, fand als Erster seine Worte wieder. „Eine furchtbare Sache“, bemerkte er kopfschüttelnd.

Graf Lamezan wirkte hingegen unbeeindruckt. Auch er war groß gewachsen, sein dunkler Haaransatz bereits weit zurückgewichen. Er rümpfte kurz die breite, kerzengerade Nase und strich sich über den gepflegten Vollbart. „Na, sagen wir doch, jetzt hat er es endlich geschafft.“ Er ignorierte die erstaunten Blicke der anderen. „Das war jetzt das sechste Attentat, wenn ich mich nicht verzählt habe. Irgendwann musste es ja so enden.“

Marx rang um seine Beherrschung. Wieder einmal wurde der Staatsanwalt seinem Ruf als Zyniker gerecht. Unwillkürlich musste er an die Hinrichtung von Heinrich Francesconi vor fünf Jahren denken. Lamezan hatte den Briefträgermörder vor der Vollstreckung des Todesurteils mit den Worten „Leben Sie wohl“ verabschiedet und damit für Schlagzeilen gesorgt – eine der vielen Anekdoten um ihn. Unbedachtsamkeit oder Zynismus, nicht zum ersten Mal stellte sich der Polizeipräsident die Frage. „Aber dieses Verbrechen ist beispiellos.“

Der Graf widersprach. „Beispiellos ist die Naivität des Opfers! Im Übrigen gehört in Russland die Ermordung des Monarchen quasi zum Volkssport. Meines Wissens war mehr als der Hälfte aller russischen Herrscher kein natürlicher Tod vergönnt.“

„Ich kann Ihrer These nicht ganz folgen.“ Die Stimme des Polizeipräsidenten bebte vor Empörung, nicht zuletzt wegen des verstohlenen Grinsens seines Stellvertreters.

Lamezan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nach Ihrem Bericht hat die erste Bombe nur die Kutsche beschädigt, der Zar selbst blieb unverletzt. Anstatt dem Rat seines Kutschers zu folgen und sich zurück in den Winterpalast fahren zu lassen, ist er ausgestiegen.“

„Er tat das, um nach den Verletzten zu sehen, ein durchaus würdiges Motiv! Er sorgte sich um seine Untertanen.“

„Der Zar?“ Lamezan lachte kurz auf. „Das wär das erste Mal, dass er sich derartige Sorgen macht. Neugierig war er und lief prompt dem nächsten Attentäter in die Arme, der die günstige Gelegenheit nutzte, ihm, husch husch, noch eine Bombe zwischen die Beine zu werfen. Nach sechsmal Glück haben sollte man es besser wissen, meinen Sie nicht? Schlimm, wenn der Kutscher mehr Hirn hat als sein Zar.“

Marx hatte die Augen geschlossen und kämpfte seine Empörung nieder. In was für einer Welt lebten sie, in der Mordversuche an gekrönten Häuptern nicht für Entsetzen, sondern für herabwürdigende Bemerkungen sorgten? Früher hätte er die Bemerkungen des zwanzig Jahre jüngeren Staatsanwalts mit einem Lächeln abgetan. Warum ging das nicht mehr? Warum war er so dünnhäutig? Machte ihm sein Alter so sehr zu schaffen? Wie so oft in letzter Zeit stahl sich der Gedanke an einen baldigen Ruhestand in sein Bewusstsein. Verdient hätte er ihn sich allemal nach sechsunddreißig Jahren Polizeidienst.

„Mir ist das Ganze ein Rätsel“, meldete sich Weis wieder zu Wort. „Wir sind ja mit den Russen in engem Kontakt. Graf Melnikoff hat den Zaren schon vor geraumer Zeit angefleht, seine Ausfahrten zu unterlassen. Erst vor Kurzem gab es einen an seine Majestät persönlich adressierten Dynamitbrief, der nur wegen Feuchtigkeit nicht explodierte. Wie Sie ja selbst berichtet haben, wurde sogar noch heute Morgen ein anonymer Brief an Prinzessin Dolgorucki übergeben, in dem vor einem Anschlag gewarnt wurde. Selbst das hat ihn nicht abgehalten.“

„Was ich damit ausdrücken will …“, sagte der Staatsanwalt, „… ist meine absolute Überzeugung, dass unser gnädiger Herrscher niemals so dumm gewesen wäre.“

Marx hatte sich wieder beruhigt. „Trotzdem müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie hoch das Gefahrenpotenzial in Wien ist“, sagte er mit fester, wenn auch nicht allzu lauter Stimme. „Immerhin gedenkt seine Kaiserliche und Königliche Hoheit, der Erzherzog, in wenigen Wochen in den Stand der Ehe zu treten.“

„Die arme Frau …“ Erneut machte Lamezan aus seinen Gedanken kein Hehl. Dieses Mal wurde seine Äußerung allseits mit stiller Zustimmung aufgenommen. Der Thronfolger war sowohl für sein ausschweifendes Leben als auch für seine Wahllosigkeit bekannt. Mit seinen amourösen Abenteuern würde es nach seiner Hochzeit wohl kaum vorbei sein.

„Nach meiner Einschätzung müssen wir zwei Gruppen fürchten“, fuhr Marx fort. „Die Sozialisten und die Irredentisten, die für den Anschluss Südtirols und Istriens an Italien kämpfen.“ Er sah zu Kommissar Frankl. „Was machen die Sozialisten?“

Frankl war für seine hervorragende Arbeit bekannt. Er war klein und dünn, mit schütterem, dunkel pomadisiertem Haar. Die Kälte seiner wachsamen, ein wenig schlitzförmigen Augen ließ mitunter sogar den abgebrühten Polizeipräsidenten erschauern. „Es herrscht absolute Ruhe. Durch unsere Informanten erfahren wir die Dinge oft früher als die Arbeiter selbst.“

Weiss sprang seinem Kollegen bei. „Wir haben die Szene weitaus besser als die Deutschen oder die Franzosen im Griff.“

„Weil die Sozialisten vorwiegend damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekämpfen und zu denunzieren“, ergänzte Frankl. „Es ist beinahe peinlich, wie leicht sie es uns machen. Wir lösen die meisten Versammlungen auf, bevor sie noch begonnen haben.“

„Wenn wir sie nicht schon verbieten, sobald sie angemeldet werden“, fügte Graf Lamezan hinzu. „Das Vereins- und das Versammlungsgesetz geben uns jede Handhabe, die wir benötigen.“

„Auch die Industrie unterstützt uns bei der Bekämpfung dieser Aufrührer. Bessere Verbündete gibt es gar nicht.“

Marx wirkte nicht überzeugt. „Und diese Arbeiterklubs?“ Noch so eine Neuerung, die ihm zutiefst missfiel.

Frankl lächelte. „Eine Idee aus London. Man hofft, durch die geringe Mitgliederanzahl unbemerkt zu bleiben. Völlig bedeutungslos. Vor lauter Eifer, ihre Konkurrenz aus dem Weg zu räumen, haben die Sozialdemokraten allein im letzten Jahr sechs geheime Klubs an den Werkleiter der Wienerberger Ziegelwerke verraten. Wir konnten sie sofort hochnehmen. Zurzeit kennen wir in Wien noch sieben tschechische Arbeiterklubs. Drei davon wurden von unseren eigenen Informanten gegründet. Wir können sie jederzeit ausheben.“

„Und die Irredentisten halten in Wien absoluten Frieden“, sagte Weiss mit ruhiger Stimme. „Mehr, als wir derzeit tun, geht einfach nicht.“

Marx war nicht überzeugt. In den vierzig Jahren seiner Laufbahn hatte er zu viel gesehen, um sich sicher zu fühlen. Das alles klang einfach zu gut. Das Bekannte war nie gefährlich. Der Angriff kam immer von dort, wo man es am wenigsten erwartete.

„Trotzdem wird dieser Erfolg die Anarchisten zu weiteren Taten anspornen. Die Hochzeit des Kronprinzen ist ein ideales Ziel. Darum fordere ich Sie hiermit auf, all Ihre Bemühungen zu verdoppeln und jedem noch so kleinen Hinweis nachzugehen.“

Hofrat Weiss sah seinen Vorgesetzten fragend an. „Haben Herr Präsident vergessen, dass unsere Leute den Kronprinzen auf Wunsch seines leidgeprüften Vaters auf Schritt und Tritt überwachen? Es gibt wohl keinen besser geschützten Prinzen als unseren Rudolf.“

Der Einwand ärgerte Marx. Natürlich wusste er davon. Er selbst hatte ja den Befehl dazu gegeben. Sein strafender Blick perlte an Weiss ab.

Enttäuscht entließ der Polizeipräsident die Runde. Sie wollten es einfach nicht wahrhaben, erstickten buchstäblich an ihrer Hybris. Also war es an ihm, die Augen offen zu halten und die kleinste Unregelmäßigkeit zu beachten. Am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Er, der Meister der Selbstbeherrschung, hatte heute seine Gefühle offen zur Schau gestellt. Als Entschuldigung konnte er lediglich anführen, dass ihm der Tod des Zaren einen weitaus empfindlicheren Schlag versetzt hatte, als er sich eingestehen wollte. Allein der Gedanke an die bevorstehende Vermählung des Kronprinzen Rudolf und die zahlreichen Mitglieder des europäischen Hochadels, die als Gäste erwartet wurden, raubte ihm mittlerweile den Schlaf.

Die Berichte aus St. Petersburg, die in den folgenden zwei Tagen eintrafen, waren nicht dazu angetan, die Ängste des Polizeipräsidenten zu zerstreuen. Sie waren geradezu alarmierend. Man hatte unter einer Seitenstraße eine Mine mit hundert Kilogramm Sprengstoff gefunden. Die Attentäter hatten in aller Ruhe im Keller eines Wirtshauses einen Butter- und Käseladen eröffnet und sich von dort unter die Sadowalastraße gegraben. Der Tunnel war mit vollendeter Ingenieurskunst angelegt worden. Dabei lag der Straßenzug keine fünfzig Schritte vom Palais Anitschkow entfernt, wo der russische Thronfolger wohnte. Der Zar selbst war hier regelmäßig in die Reitschule gefahren. Hätte er den letzten Anschlag überlebt, hätten sie ihn spätestens dort erwischt.

So einen Tunnel grub man doch nicht an einem Tag! Sie mussten Wochen dafür gebraucht haben, hatten Tonnen von Aushub weggeschafft, von dem eingeschmuggelten Sprengstoff ganz zu schweigen! Und das alles vor der Nase der ach so wachsamen Behörden, die genauso wie in Wien fest davon überzeugt waren, alles unter Kontrolle zu haben! Wasser auf seine Mühlen! Die Dutzende von Verhaftungen, die nun stattfanden, retteten das Leben des Zaren auch nicht mehr. Heute hatte die russische Polizei um die Erlaubnis angesucht, in Wien ein Büro eröffnen zu dürfen, um mit ihren eigenen Beamten auch in der Residenzstadt nach Unterstützern der Täter suchen zu können. Marx hatte das Schreiben befürwortet, bevor er es an den Ministerpräsidenten Graf Taaffe weitergeleitet hatte. Ihm war jede Hilfe willkommen.

Seit dem Attentat nahm er im großen Sitzungssaal regelmäßig an den morgendlichen Sitzungen der Polizeiagenten teil, die den Kommissariaten in den Bezirken zugeteilt waren. Die Hälfte der insgesamt fünfundzwanzig Mann erstattete hier ihrem obersten Vorgesetzten Oberinspektor Stehling Bericht. Marx wurde nicht müde, die Beamten auf die bestehende Gefahrenlage hinzuweisen und jede noch so unwichtig erscheinende Kleinigkeit zu melden. Stundenlang brütete er selbst über den Berichten. Die Sorge, etwas zu übersehen, begann sich zu einer Obsession auszuwachsen.

Er war eben im Begriff, erneut dorthin aufzubrechen, als sein Sekretär Oberkommissär Kölle Professor Hofmann ankündigte, den legendären Vorstand des gerichtsmedizinischen Institutes. Der Polizeipräsident runzelte noch die Stirn über diese Überraschung, da betrat Hofmann auch schon sein Büro. Er war von beeindruckender Gestalt. Sein dichter, dunkler Vollbart ragte über den Hemdkragen, auch bei ihm war der Haaransatz weit zurückgewichen. Der Professor ergriff die Hand des Präsidenten und schüttelte sie heftig. Marx hatte den Blick seiner dunklen, traurigen Augen zu fürchten gelernt.

„Herr Präsident, dieser Zarenmord ist ja eine furchtbare Geschichte, Gott sei Dank weit weg von uns. Bitte verzeihen Sie mein Hereinplatzen.“

„Herr Professor, ich will nicht unhöflich sein, aber wenn Sie unangemeldet auftauchen, ist das ein sicheres Zeichen für Verdruss. Zumindest habe ich das im vergangenen Jahr so wahrgenommen.“

Hofmann vermochte ein verstohlenes Lächeln nicht zu unterdrücken. „Bitte erlauben Sie mir, Ihr Gedächtnis zu korrigieren. Sie waren es, der die letzten Male mich aufgesucht hat. Was den Verdruss anbelangt, haben Sie allerdings recht.“

Marx vollführte eine einladende Handbewegung. „Bitte kommen Sie zur Sache. Meine Zeit ist begrenzt, da ich zu einer wichtigen Besprechung muss.“

„Ich will mich kurz fassen“, erwiderte der Gerichtsmediziner. „Ich hatte vor zwei Tagen eine recht emotionale Unterredung mit Graf Lamezan.“

Marx nickte säuerlich. Die Worte des Staatsanwalts über den Zaren waren ihm noch in lebhafter Erinnerung. „Der kann ziemlich unwirsch werden, wenn es gegen seinen Willen geht.“

„Und gegen den ging es definitiv. Sie wissen von dem Toten am Wienerberg vor drei Tagen?“

„Ich habe den Bericht gelesen. Eine Schlägerei unter Betrunkenen, ein Geständnis. Die Staatsanwaltschaft plädiert auf Totschlag. Nichts Besonderes für den Wienerberg. Sie wollen sich doch nicht wegen eines Ziegelböhmen Lamezans Unmut zuziehen?“

„Ich fürchte doch. Denn dieser Mann ist nicht so ums Leben gekommen, wie es der geständige Mörder behauptet.“

Jetzt wurde Marx hellhörig. Plötzlich war sein Rachen ganz trocken. „Können Sie das ein wenig präzisieren?“

„Es ist … kompliziert.“ Fast verspürte Hofmann so etwas wie Mitleid, als er das Gesicht des Polizeipräsidenten sah, die heruntergezogenen Augenbrauen, das nervöse Flackern in seinen Augen. „Lassen Sie mich damit beginnen, dass der Tote kein Arbeiter ist.“

Marx’ Herzschlag setzte kurz aus. „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“

Hofmann lächelte. „Das ist nicht besonders schwer. Er hat gepflegte Hände, einen Hang zur Adipositas …“ Er bemerkte den fragenden Blick des Präsidenten und korrigierte sich. „Fettleibigkeit. Keine Spur eines entbehrungsreichen Lebens.“ Marx nickte nur. „Ich wollte von der Staatsanwaltschaft die Anforderung für eine Leichenöffnung, aber sie war völlig desinteressiert. Also habe ich den Toten aus wissenschaftlichem Interesse obduziert. Das Gesetz lässt mir da glücklicherweise Freiheit.“

Und wie, dachte Marx. Im letzten Jahr hatte er lernen müssen, dass Hofmann praktisch jeden Leichnam öffnen konnte, ohne irgendwelche Konsequenzen zu befürchten. „Sie haben ihn …?“

„Natürlich. Ich muss sagen, ich war über den Befund selbst erstaunt!“ Hofmann schüttelte als Zeichen seines Missfallens kurz den Kopf. „Ich habe soeben ein weiteres Mal bei Lamezan vorgesprochen, aber er zeigt nach wie vor kein Interesse. Er meinte, wenn jeder wohlgenährte Leichnam eine Staatsaffäre vermuten ließe, müsste er sein Personal verfünffachen oder die Lebensmittelversorgung einschränken. Dass es auch auf dem Wienerberg Menschen gäbe, die viel essen, sei kein Grund einzuschreiten. Der Fall sei klar und müsste schnell erledigt werden.“

Marx’ Gedanken rasten. Lamezan, immer wieder Lamezan! Sein jugendlicher Ungestüm würde ihm noch einmal zum Verhängnis werden! War das die Gefahr von Unbekannt, mit der keiner rechnete? Die kaum wahrnehmbaren Erschütterungen, an die sich jetzt wahrscheinlich einige Anrainer der Sadowalastraße erinnerten? Oder gingen ihm bereits die Nerven durch? Andererseits stand vor ihm einer der besten Gerichtsmediziner seiner Zeit. Den Hinweis eines Mannes mit Weltruf konnte man nicht einfach ignorieren.

Hofmann lag es fern, zu drängen. Er kannte Marx gut genug, um zu wissen, dass er angebissen hatte. „Es gibt keine Angehörigen, also sind wir nicht unter Druck. Ich bewahre die Leiche noch drei Tage in der Kühlkammer auf.“ Die Vorstellung einer bereits obduzierten Leiche im Kühlschrank der Gerichtsmedizin löste in Marx ein unangenehmes Kribbeln am ganzen Körper aus. Hofmanns geheimnisvolles Lächeln war nicht dazu angetan, seine Nervosität zu zerstreuen, und erst recht nicht das Leuchten in den dunklen, traurigen Augen des Gerichtsmediziners.

„Ich lade Sie ein, Herr Präsident, sich selbst ein Bild zu machen. Ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, dass Sie es nicht bereuen werden. Ein geradezu spektakulärer Fall!“

Zukunft

Der Frühling zeigte sich von einer ungewöhnlichen Seite. Nachdem vor einigen Tagen ein wahrer Orkan über Wien hinweggefegt war, ertrank die Stadt nun in heftigen Regenfällen. Donau und Donaukanal führten Hochwasser. Seit drei Tagen war am Donaukanal das Sperrschiff eingehängt und blockierte den gesamten Schiffsverkehr.

Auch beim „Toifl“ in der Ottakringer Hauptstraße 100 hatte der Sturm sichtbare Spuren hinterlassen. Das baufällige Dach war arg in Mitleidenschaft gezogen, der Gastgarten von ausgerissenen Zweigen und Dachziegeln übersät. Drohend ragten die verkrüppelten Wurzeln eines umgestürzten Baumes in den Abendhimmel.

Doch Herr Toifl hatte im Augenblick Besseres zu tun, als Schäden zu reparieren. An der Laterne über seiner Tür hing eine lange Stange mit einem grünen Zweig. „Ausg’steckt“ war – der Heurige, der junge Wein vom Vorjahr, wurde ausgeschenkt. Und das ließen sich die Wiener nicht zweimal sagen. Die Schankstube war trotz des Unwetters zum Bersten voll. Vor allem Handwerker und kleine Geschäftsleute saßen an den rohen Holztischen. Unter der Decke hingen dichte Schwaden von Zigarren- und Zigarettenrauch.

Der ganze Raum vibrierte vor Lebensfreude und Gemütlichkeit. Ein Quartett aus Geige, Klarinette, Gitarre und Ziehharmonika – im Wiener Dialekt liebevoll als Winsel, pieksüßes Hölzel, Klampfen und Quetschen bezeichnet – besang im dämmrigen Licht der Talgkerzen die Schönheiten der Wienerstadt, den Tod und den Wein. Vor den Musikern taumelte ein Betrunkener mit erhobenem Glas und grölte mit tränennassen Augen mit. Lauthals wurde diskutiert, gelacht und gesungen. Salamimänner und Kipferlfrauen verkauften Wurst und Gebäck.

Der kleine Tisch in der Mauernische am hinteren Ende des Lokals war eigentlich Liebespaaren vorbehalten. Doch heute hatten Verliebte das Nachsehen, denn dem Leibwächter der Vogler Susi, der mächtigsten Kupplerin Wiens, schlug der Herr Toifl keinen Wunsch ab. Also saß hier Anton Spindel vor zwei leeren Weingläsern, auch wenn ihn unter diesem Namen kaum jemand kannte. Alle riefen ihn bei seinem Spitznamen Grispindel-Toni. Im Wiener Dialekt war ein Krispindel ein magerer, ausgemergelter Mensch, und das war der groß gewachsene Toni allemal, nur dass er auf das „G“ in seinem Namen aus unerfindlichen Gründen großen Wert legte. Als immerwährende Erinnerung an die Syphilis verunzierte eine ausgeprägte Sattelnase das schmale, eingefallene Gesicht. Auf den hohen Wangen wucherte ein dichter Rasen weißer Bartstoppeln.

Heute hatte sich der Toni fein gemacht. Sein dunkler Gehrock, das hellblaue Hemd mit Stehkragen und die grellrote Krawatte vermittelten den Eindruck eines wohlhabenden Mannes. Soeben füllte er die Grube zwischen den beiden Sehnen an der Wurzel seines Daumens mit einer beachtlichen Menge Schnupftabak und sog eine Portion geräuschvoll in das rechte Nasenloch, die zweite in das linke. Der explosionsartige Niesanfall hüllte seine Umgebung in einen Nebel feinster Tröpfchen.

Der Mann, auf den er wartete, hatte soeben die Gaststube betreten. Leopold Kern war eher klein gewachsen und von gedrungener Gestalt. Ein sorgfältig nach oben gezwirbelter, pomadisierter Schnauzbart dominierte das runde Gesicht mit dem Ansatz eines Doppelkinns. In seinen dunklen Augen blitzte pure Lebensfreude. Das Linke war etwas kleiner geraten als das rechte, was seinen Gesichtsausdruck ein wenig verschlagen wirken ließ. Auch Kern hatte sich herausgeputzt, obgleich sein heller Anzug vielleicht ein wenig verfrüht für die Jahreszeit war. Er umklammerte die Hand einer jungen, molligen Frau mit zerzausten blonden Haaren. Lachend erreichten sie Tonis Tisch.

„Der neue Anzug macht sich bezahlt, tät ich sagen.“ Der Grispindel-Toni rieb mit dem Handrücken die Reste des Schnupftabaks von der Nase. Seitdem sie einander vor über zwanzig Jahren bei der Demolierung der Stadtmauern kennengelernt hatten, waren Kern und er befreundet.

Die junge Frau stieß Kern mit dem Ellbogen in die Seite. „Du bist im Gebüsch ja ordentlich zur Sache gegangen.“

Toni lachte. „Geh, tu nicht so, als ob du noch Jungfrau wärst.“

„Na, jetzt sicher nicht mehr.“ Sie grinste anzüglich. „Von dem kannst du dir ein Scheiberl abschneiden!“

Kern steckt ihr einen Geldschein zu. „Schön war’s!“

„Gerne jederzeit wieder!“ Sie verschwand in der Menge.

Herr Toifl wischte mit seiner blauen Schürze die Tischoberfläche ab und stellte einen vollen Weinkrug hin. „Wollt’s ein Weckerl?“ Er deutete auf die ausgebeulte Tasche seiner Schürze. „Der Salamimann kommt gleich.“

Kern kaufte zwei Salzstangerl, Toni schenkte ein, und sie tranken den Krug in wenigen Minuten leer. „Machen die gebrochenen Rippen beim Pudern keine Probleme?“, fragte Toni. Er spielte damit auf Kerns letzten Fall an, bei dem er sich in einem Kampf ein paar Rippen gebrochen hatte.

„Geht schon. Ab und zu knackst’s noch ein bisserl. Meine Gräten heilen schnell, weil ich nicht so ein dürres Elend bin wie du.“

„Dürres Elend?“ Toni hob den Zeigefinger. „Grispindel! Darauf besteh ich!“ Er lachte und entblößte seinen letzten, verbliebenen Zahn. „Diese Sonderermittlerg’schicht ist schon gefährlich. Als normaler Greifer ist dir nicht so viel passiert.“

„Ohne Polizeimarke bist du halt Freiwild.“

„Du musst besser auf dich aufpassen, Poidel. Das Glück ist ein Vogerl. Irgendwann fliegt’s davon, und du fahrst in den Himmel.“

Kern grinste. „Das tu ich sowieso irgendwann. Und weil das letzte Hemd keine Taschen hat, spendier ich noch einen Liter.“

Schnell war der Wirt zur Stelle, dieses Mal mit dem „Salamucci“ im Schlepptau. Wurst und Käse wurden geschnitten, mit einer kleinen Handwaage abgewogen, auf Zeitungspapier serviert und abgerechnet. Der Toni bezahlte, allerdings nicht, ohne laut über die Wucherpreise des Salamimannes zu schimpfen. In Ermangelung eines funktionierenden Gebisses schnitt er seinen Anteil Wurst und Käse in winzige Stückchen, was Kerns Geduld einigermaßen strapazierte. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sein Freund das Brot in den Wein eintauchte, bis es so weich war, dass er es laut schmatzend mit der Zunge zerdrücken konnte.

Irgendwann hatte jedoch auch Toni das Essen mit einem vollendeten Rülpser beendet. Als er jedoch Kern eine Prise aus seiner vor Schmutz starrenden Schnupftabakdose anbot, hob dieser abwehrend die Hände und zog zwei Virginias aus seiner Brusttasche. Er bohrte die Strohhalme in die Zigarrenenden, überreichte eine seinem alten Freund und gab mit einem Streichholz Feuer.

Nachdenklich blies der Ermittler den Rauch in die Luft. „Jetzt häng ich seit einem halben Jahr fad in der Gegend herum. Die Ruhe macht mich ganz narrisch. Die Peitscherlbuam und die Geigerln können doch nicht den großen Frieden ausgerufen haben.“

„Selbst schuld! Seitdem du das Massaker in der Leopoldstadt aufgeklärt hast, herrscht zwischen Geigerln und ihren Zuhältern stille Eintracht. Keine Schlägereien, keine Messerstechereien, fast fad, möcht man meinen. In Wirklichkeit sind alle froh, dass sie keinen Krepierer gemacht haben. Was macht dein Disspli…siszi…?“

„Mein Disziplinarverfahren?“ Kerns Miene verfinsterte sich. „Lauft noch immer.“ Fast ein Jahr war es her, dass er in eine Schlägerei verwickelt worden war, eine Falle, wie sich später herausstellte. Der Kampf hatte kaum begonnen, da wurde er auch schon von einem Sicherheitswachmann verhaftet und abgeführt, während sich sein Opfer von den eigenen Kameraden gegen ein großzügiges Schmerzensgeld krankenhausreif schlagen ließ. Es wurde Anzeige gegen ihn erstattet, und obwohl er seine Unschuld beteuerte, wurde er in einem Disziplinarverfahren aus dem Polizeiagenteninstitut ausgeschlossen.

Doch gerade dieses Unglück bildete den Grundstein für Kerns neue Karriere. Für den Polizeipräsidenten waren der Erfahrungsschatz und die Verbindungen seines entlassenen Polizeiagenten in der Halbwelt ein unfassbarer Glücksfall. In beträchtlichen Schwierigkeiten steckend, hatte er ihn kurzerhand zu seinem geheimen Sonderermittler gemacht und mit der Klärung einer mysteriösen Mordserie beauftragt. Kern hatte den Fall gelöst. Vier Monate später war seine Unschuld durch eine neue Aussage eindeutig bewiesen worden. Das Verfahren musste neu aufgerollt werden. Aber das lag bereits sechs Monate zurück.

Toni riss überrascht die Augen auf. „Aber du bist doch entlastet!“

„Trotzdem ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen!“

„Und wenn nicht …?“

„Dann flieg ich endgültig raus und hab alles verloren, was man verlieren kann. Meine Familie, meine Arbeit.“ Der Sonderermittler stieß ein bitteres Lachen aus. „Vielleicht kann ich dann als Türlsteher in deinem Puff arbeiten.“

„Warum hilft dir nicht der Polizeipräsident?“

„Vielleicht braucht er mich ja nicht mehr. Strich und Mädchenhändler waren mein Spezialgebiet. Dank mir herrscht da jetzt Ruhe. Ich hab mich selbst arbeitslos gemacht.“

Toni machte eine wedelnde Handbewegung und schüttelte dabei energisch den Kopf. „Auf den Hurenpoidel kann keiner verzichten.“ Diesen Spitznamen verdankte Kern seinem dichten Netz an Kontakten in der Halbwelt.

„Meine größte Angst ist, dass sie mich gegen die Roten einsetzen. Aber dann steig ich sowieso aus.“

„Gegen die Sozialisten?“

„Solche armen Teufel kann ich einfach nicht ans Messer liefern. Wer weiß, wozu ich fähig gewesen wäre, wenn die Luise und die Anna am Verhungern gewesen wären.“ Kern zog an seiner Zigarre und blies den Rauch hastig heraus. Sein Blick heftete sich an einen imaginären Punkt am Ende des Raums. Toni wusste genau, was in seinem Freund vorging, und wartete geduldig auf das, was er in einer solchen Stimmung immer sagte. „Vier Wochen vor ihrem fünften Geburtstag ist die Luise zugrunde gegangen. Eine Woche später ihre Mutter. Die verfluchte Cholera!“

„Wie lang ist es jetzt her?“

„Zwei Jahre und sieben Monate.“

Der Grispindel-Toni verschränkte die dünnen Arme. „Poidel, so mach doch endlich deinen Frieden. Ein Haufen Brunnen ist vergiftet.“

„Aber unser Haus wurde vier Wochen später an die Wasserleitung angeschlossen. Mit mehr Druck auf den Hausherren hätte ich das verhindern können.“ Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Glatze. „Es wäre so leicht gewesen. Ich war doch bei der Polizei! Aber ich Trottel hab mich in meine Arbeit vergraben.“

„Der liebe Gott macht keine halben Sachen. Hättest du sie vor der Cholera bewahrt, wären sie an was anderem kapores gegangen.“ Toni beugte sich vor und schlug Kern freundschaftlich auf die Schulter. „Trink a Glaserl, dann wird’s leichter.“ Er leerte sein Glas auf einen Zug und schenkte sich nach. „Du brauchst eine Frau, Poidel! Aber eine richtige.“

Plötzlich hob er den Blick. Eine Frau vom fahrenden Volk kämpfte sich bettelnd durch die Gaststube. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, aus dem der einsame Schneidezahn frech hervorleuchtete. „Solche können doch oft wahrsagen! Weißt was? Ich spendier dir die Zukunft, dann kommst du auf andere Gedanken.“

„Geh, lass den Blödsinn.“

Doch Toni ließ nicht locker. Er winkte heftig, bis ihn die Alte erblickte. „Jetzt kommt dein Glück“, verkündete er lachend. „Mit so einem Buckel und noch dazu so schiach wie die ist, muss die in die Zukunft schauen können! Geht auf mich!“

Die Alte war tatsächlich hässlich und stark abgemagert. Ihr verkrümmter Oberkörper war in bunte Tücher gehüllt, das abgetragene Kleid mit dem ausgewaschenen Blumenmuster mit Schmutzflecken übersät. Ein dunkelblaues Kopftuch verhüllte das schwarze Haar.

Kern hatte seinen Widerstand bereits aufgegeben. Er wollte kein Spaßverderber sein. „Na gut, wo nix ist, kann auch nix passier’n.“ Ihm fiel auf, dass die Alte die Gäste, die sie auf ihrem Weg zu ihnen ansprachen, zurückwies. Warum schlug sie das viele Geld aus, das sie hätte verdienen können? Stattdessen steuerte sie ihn zielstrebig an, beinahe, als wäre sie nur seinetwegen gekommen. Als sie sich vor ihm aufpflanzte, kroch ein unangenehmer, modriger Geruch in seine Nase. Er blickte in ein zerklüftetes Gesicht mit dunkler, sonnengegerbter Haut. Ihre linke Pupille schimmerte weiß und seelenlos. Umso lebhafter funkelte ihn die andere an.

Toni sprang auf und bot der Alten seinen Platz an. „Der Herr will ein Horoskop!“

Nein, will ich nicht! Auf keinen Fall, dachte Kern plötzlich. Seit er geheimer Sonderermittler war, hatte er zwei verstörende Träume gehabt, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben hatten. Es ging darin um die Fälle, die er bearbeitet hatte. In der Rückschau der Ereignisse hatte sich herausgestellt, dass sie ihm die Zukunft geweissagt hatten – für einen rationalen Menschen wie Kern eine in höchstem Grad beunruhigende Erkenntnis, die er unverzüglich verdrängt hatte. Nun waren die alten Ängste wieder zurückgekehrt, und er begann die Prophezeiung der alten Hexe zu fürchten. Doch kneifen wollte er auch nicht. Also schwieg er und trotzte sich ein schiefes Lächeln ab.

Die Alte setzte sich, ergriff Kerns Hände und drehte die Handflächen nach oben. Erst ekelte ihn vor ihren langen gelben Krallen, doch langsam überwand er seine Abscheu und beobachtete bald gebannt, wie die knochigen, langen Finger eine Ewigkeit über jede Falte, jede noch so kleine Wölbung seiner Handflächen strichen. Danach wandten sie sich mit genauso viel Akribie Handrücken und Handgelenken zu. Schließlich schloss die Zigeunerin die Augen, begann leise zu summen und den Kopf in einem eigenartigen Rhythmus zu wiegen.

Es war ein unheimliches Schauspiel. Selbst dem Grispindel-Toni verging nun das Lachen. Mindestens genauso gespannt wie Kern starrte er die Alte an. In diesem Moment schienen sie alle drei auf unerklärliche Weise miteinander verbunden und vom lärmenden Rest der Welt abgeriegelt.

Plötzlich ertönte dunkel und heiser die Stimme der Alten. „Du hast viel Leid gesehen, Gott prüft dich. Deine Frau, deine Tochter …“ Sie schlug einen Augenblick ihre Augen auf und sah in Kerns weit aufgerissene.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Sie schloss die Augen, flüsterte in einer unverständlichen Sprache. Dann straffte sich ihr Oberkörper, und sie hob wieder laut und deutlich zu sprechen an. „Sie sind dir nicht böse. Sie lieben dich. Und ich soll dir ausrichten, dass du keine Schuld auf dich geladen hast, was sie betrifft.“

Kern brachte kein einziges Wort über seine Lippen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Der Grispindel-Toni nutzte die kurze Pause, rannte zum nächsten Tisch und zog einem Gast, der sich gerade erhob, um mit seinem Gegenüber anzustoßen, den Stuhl weg. Als dieser verärgert die Fäuste ballte, entblößte Toni kurzerhand sein langes Messer. „Grüße von meinem Hütling. Du kriegst ihn in ein paar Minuten wieder, dann spendier ich dir ein Glaserl.“

Er kehrte mit seiner Beute an ihren Tisch zurück und setzte sich. Ohne die beschwichtigende Handbewegung seines Freundes zu bemerken, rüttelte er ungeduldig am knochigen Arm der Seherin und handelte sich ihren vorwurfsvollen Blick ein. „Was ist mit seiner Arbeit?“

Wieder schloss die Alte ihre Augen und entsandte ihren forschenden Geist in unbekannte Sphären. Schwankend zwischen Erwartung und Angst, klebte Kern an ihren Lippen. Atemlos vor Spannung schüttete Toni den letzten Wein in sich hinein.

Da erklang erneut die dunkle, heisere Stimme. „Deine Schuld ist vergeben, aber nicht abgetragen. Das Böse muss bekämpft werden. Es geht um Geld. Unvorstellbar viel Geld. Ein Mann wird zweimal sterben, und die Flammen der Hölle werden nach dir greifen.“ Wieder ein langes Schweigen, ein Streichen über Kerns Hände, unangenehm kratzend auf seiner Haut. „Ich sehe gelbe Augen, Männer, die kämpfen.“ Dann riss sie die Augen auf, ihre knochigen Finger schlossen sich um Kerns Hand. „Viel Elend! Der Ausgang ungewiss. Hüte dich vor dem Mann mit dem Abbild des Herrschers.“

Die Alte erschlaffte und sank in sich zusammen. Schwer atmend öffnete sie die Augen. Sie wirkte erschöpft. „Du schuldest mir zehn Gulden“, flüsterte sie heiser.

Der Grispindel-Toni wollte protestieren, doch der mahnende Blick seines Freundes ließ ihn verstummen. Wortlos legte er das Geld auf den Tisch. Die Alte nahm es an sich, erhob sich und verschwand grußlos in der Menge. Die beiden Männer sahen einander an.

„War das jetzt echt, oder bin ich besoffen?“ Toni wirkte, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. „Ich habe gerade zehn Gulden bei einer Hexe abgelegt. Hoffentlich zahlt sich das für dich aus.“

„Ich geb dir das Geld“, erwiderte Kern. „Anna und Luise geben mir keine Schuld. Dafür hätte ich auch hundert Gulden bezahlt.“

„Und der Rest? Offenbar musst du weiterarbeiten, um deine Schuld abzutragen. Aber den ganzen Blödsinn, den sie sonst verzapft hat, gneiss ich nicht.“

„Wir werden ja sehen, was das Schicksal für mich bereithält“, sagte Kern achselzuckend. Wieder musste er an die Träume denken, die seinen letzten beiden Fällen vorausgegangen waren. Waren sie dieses Mal durch eine Wahrsagerin ersetzt worden?

„Geh, so ein Topfen!“ Toni vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Gelbe Augen! Hast du Angst vor einer Katze? Das alles glaubst du doch selbst nicht.“

Doch Kern blieb in Gedanken versunken. „Lassen wir’s gut sein für heut’, Toni“, sagte er nachdenklich. „Ich will heim.“

Über Peter Lorath

Biografie

Der gebürtige Wiener Peter Lorath pendelt zwischen seiner Bleibe am Rhein und seinem Zuhause in seiner Geburts- und Heimatstadt Wien. Schon sein schlesischer Großvater war Schriftsteller und populärer Theaterautor. Lorath beschäftigt sich seit einigen Jahren mit den politischen und...

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