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Gebrauchsanweisung fürs Reisen mit Kindern

Gebrauchsanweisung fürs Reisen mit Kindern

Jana Steingässer
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Gebrauchsanweisung fürs Reisen mit Kindern — Inhalt

Geht nicht, gibt’s nicht – mit Kindern die Welt entdecken!

Zwei plus Vier macht Sechs: Die Globetrotterin Jana Steingässer erkundet mit ihrem Mann und ihren vier Kindern von Australien bis Grönland, von den Alpen bis Südafrika regelmäßig die Welt. Ansteckend schildert sie, wie man in einer pulsierenden Großstadt, der arktischen Wildnis oder einer Sandwüste zusammen die schönsten Abenteuer erlebt und Kinder von ihren Erfahrungen mit fremden Kulturen profitieren. Sie verrät, welches Spielzeug in den Koffer gehört. Mit welchen Tricks jeder Einzelne auf seine Kosten kommt, obwohl man Entscheidungen gemeinsam als Familie trifft. Dass Not überaus erfinderisch macht, wenn mal beide Eltern krank werden sollten. Und dass man auf Reisen vom unverstellten Blick seiner Kinder eine ganze Menge lernen kann.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 04.09.2018
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99187-2
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung fürs Reisen mit Kindern“

1+1=2, 2+1=?

Fragen Sie mich! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und fragen mich: nach einem der schönsten aller Erlebnisse, das das Reisen mit Kindern für mich auf den Punkt bringt. Die Antwort wird Sie vielleicht überraschen, denn sie ist auffällig unspektakulär, aber sie bewegt mich trotzdem noch heute, etwa fünf Jahre später.

Sermiligaaq, Ostgrönland. Das Holzhüttchen, das auf nacktem Fels über dem Fjord thront, ist für einige Tage unser Zuhause. Fließendes Wasser gibt es hier nicht – in keinem der Häuser. Während Jens mit Kanistern über die Felsen [...]

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1+1=2, 2+1=?

Fragen Sie mich! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und fragen mich: nach einem der schönsten aller Erlebnisse, das das Reisen mit Kindern für mich auf den Punkt bringt. Die Antwort wird Sie vielleicht überraschen, denn sie ist auffällig unspektakulär, aber sie bewegt mich trotzdem noch heute, etwa fünf Jahre später.

Sermiligaaq, Ostgrönland. Das Holzhüttchen, das auf nacktem Fels über dem Fjord thront, ist für einige Tage unser Zuhause. Fließendes Wasser gibt es hier nicht – in keinem der Häuser. Während Jens mit Kanistern über die Felsen absteigt zu dem beheizten Tank in der Mitte der Siedlung, zwischen Schule, „Pilersuisoq“ (einer grönländischen Supermarktkette) und verrottenden Walknochen, die vor einer der Hütten vom weit zurückliegenden Jagderfolg zeugen, schiebe ich die vergilbte Spitzengardine zur Seite und schaue ihm nach.

Heute ist der Himmel grau. Und so fühle ich mich auch. Die ganze Nacht hat mich das Geheule der hungrigen Schlittenhunde geplagt, haben quälende Fragen an mir genagt. Ist Grönland wirklich ein geeignetes Reiseziel für eine sechsköpfige Familie? Was, wenn unsere Kinder mit Kälte, Eis und Schnee nicht zurechtkommen? Wenn Eisbären unseren Weg kreuzen oder einer der gefürchteten Stürme ausgerechnet jetzt wie eine Dampfwalze vom Inlandeis kommend über die Siedlung rollt? Das ist einer der Momente, in denen ich am liebsten wieder zu Hause wäre.

Lange Zeit zum Trübsal blasen bleibt mir nicht. Hinter mir toben Hannah, Mio und Frieda wie wild gewordene Welpen durch den kleinen Raum, während Paula versucht, mit ihrem E-Book-Reader ein ruhiges Plätzchen zu finden. Was für ein Irrsinn, denke ich. Jens kommt gerade in dem Moment zur Tür herein, als Frieda übermütig ihren Stoffbeutel voller bunter Loom-Armbänder auf dem Boden ausleert. Meiner Tirade entkommt sie nur, weil hinter Jens nun auch noch zwei wildfremde Menschen auftauchen. Jugendliche Inuit mit coolen Frisuren und lässig weiten Klamotten wippen im Rapper-Schritt in unser Chaos herein.

„Hi, I am Odin“, sagt der eine.

„Rasmus“, stellt sich der zweite vor.

Jens sieht meinen fragenden Blick.

„Hab’ die beiden am Wassertank kennengelernt. Sie haben mir stolz gezeigt, an welchen Stellen sie heute Nacht Bindfäden durch die Haut an ihren Armen und Beinen genäht haben.“

Na super!

„Den beiden ist, glaube ich, ziemlich langweilig. Vielleicht haben sie ja Lust, mit unseren Kindern zu spielen.“

Langeweile ist ein absurd verharmlosender Ausdruck für die von dem Gefühl der Sinnlosigkeit geprägte Leere, die viele Jugendliche in ostgrönländischen Siedlungen erfasst: Ursächlich sind Eingriffe in die Kultur der Inuit, nicht zuletzt durch die Dominanz dänischer Werte und Systeme, und die Auswirkungen des Klimawandels, die in der Arktis besonders deutlich zutage treten.

Ich muss lachen bei dem Gedanken, dass diese obercool aussehenden, frisch gepiercten Jugendlichen Zeit mit unserem Kleingemüse verbringen wollen.

„Spielen? Und an was hast du da so gedacht?“

Weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, meine schlechte Laune an diesem grauen Tag an meinem Mann auszulassen, dauert es einen Moment, bis ich sehe, was sich hinter meinem Rücken abspielt.

Odin und Rasmus sitzen bereits zwischen Frieda, Mio und Hannah auf dem Boden. Sogar Paula lässt ihren E-Book-Reader liegen und nimmt neben unseren Gästen Platz. Die beiden Jungs inspizieren interessiert die Loom Bands und schauen Hannah zu, wie sie ein Armband daraus macht. Keine fünf Minuten später überreicht Odin Paula sein Werk aus grellen Gummibändchen. Jetzt bleibt unseren Kindern der Mund offen stehen. Entweder sind Loom Bands in Grönland ein alter Hut, oder Odin ist ein Naturtalent.

Die Jungs bleiben zum Mittagessen. Ohne dass ich sagen könnte, wann es geschieht, nimmt der graue Tag eine Wendung. Unsere Kinder, Odin und Rasmus kommen in Fahrt. Nach Armbändern, Mau-Mau und Malaktion schlagen sie einen typisch grönländischen Nachmittag vor: jagen gehen. Wir ziehen uns an und folgen Rasmus zu seinem Vater, der ebenso schlecht gelaunt wie ich am Morgen die Tür der kleinen Holzhütte öffnet. Schlabberige Hose, Unterhemd, düsterer Blick. Das Eisbärenfell, das vor dem Eingang zum Trocknen hängt, deutet darauf hin, dass Rasmus’ Vater auch bessere Tage kennt. Anscheinend gibt er seinem Sohn das Okay, sein Motorboot zu borgen. Er erlaubt ihm auch, sein Gewehr mitzunehmen.

Wir folgen den beiden Jungs zu den Booten, die im Fjord neben dem Lager des „Pilersuisoq“ auf dem Wasser schaukeln. In mehrere Lagen Winterkleidung und Schwimmwesten gepackt, setzen wir uns zu den Jungs ins Boot. Die halten es nicht mal für nötig, sich die Kapuzen ihrer Sweatshirtjacken über den Kopf zu stülpen. Eine Robbe nach der anderen hebt den Kopf aus dem Wasser. Odin zielt ein einziges Mal halbherzig und legt dann das Gewehr weg. Wir sind ganz offensichtlich nicht zum Jagen hier!

Am Ende des Fjords, wo der Karale-Gletscher kalbt, halten Odin und Rasmus das Boot an. Wie auf einer eigens für sie errichteten Bühne stellen sie sich auf die Sitzbank, den Gletscher im Rücken, und beginnen zu rappen. Ihren selbst entwickelten „Tunu-Rap“, zur Melodie von Pippi Langstrumpf. Dass es dabei um das beschwerliche Leben jugendlicher Grönländer geht (Tunu ist eine alte Bezeichnung der Einheimischen für Ostgrönland), erfahren wir erst im Nachhinein. Unsere Kinder sind ebenso wie wir restlos begeistert.

Irgendwann wird auch den beiden Tunu-Rappern kalt, und wir fahren zurück zur Siedlung. Ich wünschte, wir sprächen Ostgrönländisch, oder wenigstens Dänisch. Ich hätte so viele Fragen, würde gern so vieles sagen. Vielleicht ist es gerade deshalb besser, dass wir uns mit den wenigen Brocken Englisch verabschieden, über die Rasmus und Odin verfügen. Und damit den Tag einfach so stehen lassen, wie er war.

„Thank you!“, verabschiedet sich Rasmus von uns.

„And see you tomorrow!“, sagt Odin mit dem lässigen Iro und zaubert damit einer unserer Töchter ein ganz besonderes Lächeln ins Gesicht.

 

Die Heimat zu verlassen und in fremde Welten aufzubrechen ist für unsere Spezies keine Neuheit. Auch wenn die Gründe für den Aufbruch ins Unbekannte (und das war es in der Vergangenheit wirklich noch) über Raum und Zeit hinweg ganz unterschiedlich waren. Frühe Homo sapiens kannten, genau genommen, gar keinen Aufbruch aus der Heimat, weil sie als nomadische Wildbeuter ohne „festen Wohnsitz“ immer den Tieren nachzogen, von denen sie sich ernährten. Ständig unterwegs zu sein war Voraussetzung für einen Lebensstil, durch den sich unsere Art über den ganzen Planeten ausgebreitet hat. Erst mit dem Ausbau von Ackerbau, Viehzucht und dem Anlegen von Vorräten gingen unsere Vorfahren zu einer sesshaften Lebensweise über. Wenn sie jetzt auf Reisen gingen, dann nicht mehr zur reinen Selbstversorgung.

Religiöse Beweggründe trieben schon vor Tausenden von Jahren Christen, Muslime, Buddhisten, Juden, Hindus oder andere Gläubige vor die Tür. Auch Buddha Siddhartha Gautama zog einige Jahre als besitzloser Wanderer auf der Suche nach Erlösung durch Indien, bis er unter einer Pappelfeige das vollkommene Erwachen (Bodhi) erreichte und zum Stifter des Buddhismus wurde. Im mittelalterlichen Europa nahmen Pilger aber nicht nur aus religiösen oder spirituellen, sondern auch aus ganz weltlichen Gründen beschwerliche Reisen auf sich, nämlich um drakonischen Strafen zu entgehen. Und nicht nur Pilger versuchten unterwegs, den Gefahren der mitunter bedrohlichen Natur zu entkommen, sondern auch Kaufleute und Händler, die nationalen und internationalen Handel betrieben.

Die Hoffnung auf Reichtum und Ruhm, die Ausdehnung von Machtbereichen, die Suche nach Rohstoffen, Handelswegen und -partnern und später auch die Verbreitung christlicher Werte motivierten Entdeckungsreisen vom Altertum bis zum Mittelalter. Dass „Entdecktes“ dabei schon längst entdeckt war (nur eben nicht von Europäern), Land besiedelt (nur eben nicht nach europäischen Maßstäben) und Glaubenssysteme etabliert waren (nur eben nicht das Christentum), hielt wenige der namhaftesten Reisenden davon ab, bei der Inbesitznahme „neuer“ Länder auf absurde Methoden zurückzugreifen.

Hätten Pilger, mittelalterliche Händler oder Entdeckungsreisende einen Blick in dieses Buch geworfen, hätten sie schallend gelacht: Alles, was aus unserer heutigen Perspektive als Abenteuer daherkommt, wäre im Vergleich zu den Strapazen und Gefahren, denen diese Reisenden ausgesetzt waren, so wenig aufregend wie der tägliche Gang zum Markt. Und während heute viele vom Alltag erschöpfte Abenteurer ganz bewusst dorthin reisen, wo noch möglichst wenig menschengemachte Infrastruktur zu finden ist, war Natur für die oben erwähnten Herren (es waren zu dieser Zeit tatsächlich fast ausschließlich Herren unterwegs) das Hindernis schlechthin: gefährlich, herausfordernd und vor allem unberechenbar.

Gab es für frühe Reisende kaum eine schlimmere Vorstellung, als die Orientierung zu verlieren, können wir uns heute freiwillig in der Pampa absetzen lassen und dann völlig problemlos dank Navigations-App von jedem Ort der Erde wieder nach Hause gelangen. Mit dem Ergebnis übrigens, dass einige Menschen heute ohne Smartphone nicht einmal mehr die nächste Postfiliale finden. In Tromsø begegneten wir kürzlich einer Familie, die wie Goldsucher mit Wünschelrute im Zickzack durch die Innenstadt lief und uns, kurz den Blick vom Smartphone hebend, geradezu aufgelöst fragte, wo denn nun um alles in der Welt der nächste Burger King sei. „Hinter Ihnen!“, antwortete unser Sohn, ganz ohne Spott (den ich mir sicher nicht hätte verkneifen können).

Dass „Reisen bildet“ (Kant) und Reisende nicht unterwegs sind, „um anzukommen, sondern um zu reisen“ (Goethe), sind wiederum Ideen, die sich im 17. Jahrhundert langsam entwickelten, als junge Adlige durch Europa geschickt wurden, um ihren Horizont zu erweitern. Inspiriert von Goethes Italienreisen, entdeckte im 18. und 19. Jahrhundert das Bürgertum das Thema „Reisen“ für sich. Mittlerweile existierte entlang der gängigen Routen immerhin eine entsprechende Infrastruktur aus Übernachtungs- und Einkehrmöglichkeiten. Rastlose Naturforscher wie Alexander von Humboldt befriedigten den Wissensdurst des Bürgertums weiter mit den Erkenntnissen, die sie auf Jahre dauernden internationalen Expeditionsfahrten gewannen. Und nebenbei trugen Forschungsreisende mit ihren Berichten dazu bei, das bestehende eurozentristische Weltbild und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl gegenüber den erforschten „anderen“ noch fester zu zementieren. Während Goethe sich noch mit Italien zufrieden gab, drängte es Reisende im 19. Jahrhundert, und jetzt auch zunehmend Frauen, in exotischer anmutende Regionen wie Ägypten. Aber nicht, ohne dabei auf Luxus (in Form schrankhoher Reisekoffer) zu verzichten. Maximalisten, unterwegs in Zügen oder auf Schiffen.

Noch ein Jahrhundert später waren sie dann beinahe ganz vergessen, die Strapazen der frühen Reisenden, die Furcht vor der Natur und ihrer überlegenen Macht. So gründlich vergessen, dass sogar eine romantische Rückbesinnung auf das natürliche Leben der vergangenen Zeit stattfand. Einfaches Leben auf dem Land, jenseits von urbanen Zusammenhängen, industriellen Entwicklungen und rationalen Zwängen, sowie entbehrungsreiche Wanderungen durch die Natur wurden wieder erstrebenswert. Das sogenannte Wirtschaftswunder hat seinen Teil zum veränderten Reiseverhalten beigetragen. Denn halb Deutschland machte regelmäßig, nein, keine Reise, sondern Urlaub!

Zunächst waren die Ziele nicht ganz so spektakulär, sondern lagen vornehmlich in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Bis Ende des 20. Jahrhunderts selbst eine Reise in die Südsee kaum noch übermäßige Bewunderung hervorrief. Die Auswahl des Ziels reichte also nicht mehr zur sozialen Distinktion, denn Reisen sind auch Gegenstand unseres Konsumverhaltens und als solche Mittel, sich von „anderen“ abzuheben. Nach „je exotischer, desto erfolgreicher“ kam „je extremer, desto besser“ (und das gilt nicht nur fürs Reisen).

Spätestens seit Ende der 1980er-Jahre kurbelt übrigens ein weiterer Impuls die globale Tourismusindustrie kräftig an: „Last chance to see!“ Unter diesem Titel veröffentlichten der englische Schriftsteller Douglas Adams und der Zoologe Mark Carwardine eine Hörfunkserie bei der BBC. Darin ermöglichten sie ihren Zuhörern, „den Letzten ihrer Art“ zu begegnen, vom Amazonas-Manati bis zum weißen Nashorn. Dieser „Letzte-Chance-Tourismus“ hat mittlerweile Hochkonjunktur. Am Rhonegletscher beispielsweise spucken Reisebusse ganze Ladungen voll weit gereister Touristen aus. Geschickt vermarktet, wird der sterbende Riese zum Pilgerziel für Menschen aus allen Winkeln unseres Planeten.

Eine Balkan-Begegnung im vergangenen Sommer lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass Reisen trotz globaler Tourismusexpansion immer noch um des Reisens willen möglich ist.

 

Die Sonne über Südalbanien hat noch nicht den höchsten Stand des Tages erreicht. Trotzdem zeigt das Thermometer bereits 42 Grad Celsius im Schatten an. Jeder vernünftige Mensch sucht Zuflucht in einem Haus, unter einem Baum oder Felsvorsprung. Esel liegen, von Fliegenschwärmen umschwirrt, wie tot auf dürrem Gras, Hütehunde suchen hechelnd Abkühlung im Fluss. Wir reiten, in Begleitung unserer albanischen Gastfamilie, seit fünf Stunden durch die brütende Hitze – und vor uns liegen noch drei weitere Stunden Weg. Frieda, unsere Kleinste, ist gerade einmal sechs Jahre alt. Ich reite hinter ihr und beobachte fasziniert, wie sie ohne Aufforderung alle zehn Minuten ihre Wasserflasche aus den Satteltaschen zieht und trinkt oder sich Wasser über das T-Shirt kippt.

„Alles in Ordnung, Kinder?“, rufe ich der Karawane vor mir zu. „Braucht ihr eine Pause?“

„Ich will bis zum Fluss reiten!“, bestätigt Frieda. „Wir hatten doch gerade erst eine Pause!“

Am diesigen Horizont taucht ein kleiner Passagierbus auf. Wir drängen die Pferde dicht an die Felswand, um auf der engen Passstraße Platz zu machen. Der Fahrer hängt sich aus dem Fenster und deutet auf Frieda. „Das kleine Mädchen aus Deutschland gibt es wirklich? Es stimmt also, was die Leute in den Dörfern erzählt haben.“ Er wollte es nicht glauben, aber jetzt sieht er mit eigenen Augen, dass eine sechsköpfige deutsche Familie durch Albanien reitet.

„Wo kommt ihr her?“, will der albanische Busfahrer wissen, der auf der staubigen Passstraße neben uns hält.

„Aus Gjirokaster!“, antwortet Kristina.

„Und wohin reitet ihr?“

„Nach Gjirokaster!“

„Und was habt ihr unterwegs erledigt?“

„Nichts.“

„Nichts? Und warum reitet ihr dann zwei Wochen lang von Gjirokaster nach Gjirokaster?“

Um zu reisen!

 

Spätestens mit Einführung der Elternzeit entdecken auch Familien, die in ihrem eng getakteten Arbeitsalltag bisher nicht die Chance gesehen hatten, die nötigen zeitlichen Freiräume zu schaffen, das Reisen für sich. Erstaunlicherweise gibt es Menschen, die Reisen in der Elternzeit als soziales Schmarotzertum bezeichnen. Ich kann diese Sichtweise nicht nachvollziehen. Manche Kritiker behaupten, Reisen in der Elternzeit sei Urlaub auf Staatskosten, oder argumentieren, dass frischgebackene Väter ihren Frauen lieber helfen sollten, wieder ins Berufsleben einzusteigen (also schön artig ihren zugewiesenen Platz im System zu besetzen). Andere meinen, Vater sein muss auch mal wehtun und darf deshalb auf keinen Fall mit einer entspannenden, am Ende sogar erfüllenden Erfahrung zu tun haben.

Wo kämen wir nur hin, wenn Mutter, Vater und das neugeborene Menschenkind Wochen, am Ende sogar Monate harmonisch durch die Welt zögen? Vielleicht kämen sie auf die Idee, nie wieder zurückzukehren – an den Bürotisch, hinter den Tresen, in den Produktionsprozess. Ja, und was würde passieren, wenn jeder Mensch in materieller Bescheidenheit (beim Reisen muss man sich zwangsläufig auf einen Bruchteil des Besitzes beschränken) nach Entspannung, Zufriedenheit und achtsamem Umgang mit seiner Umwelt strebte und sich übersteigerte Konsumbedürfnisse dadurch in Luft auflösten? Um Himmels willen – so gesehen ist Reisen in der Elternzeit tatsächlich eine echte Bedrohung! Für unser Wirtschaftssystem, für Arbeitsplätze und vor allem für sämtliche Konzerne, die es tagein, tagaus schaffen, uns Dinge als nötig zu verkaufen, von denen wir bis dahin nicht einmal wussten.

Konservative Gegner der „Elternzeit=Reisezeit“-Verfechter sehen sich entsprechend als Verteidiger bemitleidenswerter und von den Vätern der eigenen Kinder ausgenutzter Mütter, eines hintergangenen Sozialstaats und derer, die sich, mit oder ohne Elternzeit, sowieso niemals eine Reise leisten können. Ich frage mich allerdings: Welchen besseren Start in ein Leben kann ein neuer Erdenbürger haben, als, rund um die Uhr von Mutter und Vater begleitet, in die unbegrenzte Vielfalt der Welt, in die er geboren wurde, hineinzuwachsen? Und zwar dort, wo sich Mutter und Vater am wohlsten fühlen und sich auch ihren Bedürfnissen entsprechend entspannt und zufrieden um die Entwicklung ihres Nachwuchses kümmern können.

 

Dank der Fortschritte in der Hirnforschung können Argumente leicht entkräftet werden, die Reisen mit Kindern als unnütze Zeitverschwendung, Ablenkung vom wesentlichen Lernziel oder gar egoistische Aktivität von Eltern abtun. Während im Gehirn unserer Kinder Millionen von Nervenzellen über Billionen von Kontaktstellen mit anderen Nervenzellen kommunizieren, bildet sich ein Wunderwerk aus Nervenbahnen, das sich schätzungsweise 145-mal um die gesamte Erde wickeln ließe. Im Kleinkindalter werden diese Vernetzungen von den Erfahrungen, die unsere Kinder machen dürfen, überprüft und korrigiert und gegebenenfalls differenziert. Aus „Alle Menschen essen Kartoffeln“ wird vielleicht „Manche Menschen essen Kartoffeln, manche essen Reis, manche essen Robbenfleisch“. Das klingt banal, macht aber deutlich, welche weitreichenden Möglichkeiten Kinder zur eigenen Entwicklung durch ein breites Spektrum an Sinneserfahrungen und Eindrücken haben.

Je mehr Anregungen Kinder von klein an ausgesetzt sind, umso vielfältiger gerät die Struktur, die sich im Hirn unseres Nachwuchses ausbilden darf (größere Nervenzellen, mehr Verbindungen), und umso größer die Vielfalt der Bereiche, die sie später als Erwachsene ausbauen können. Reisen sind die perfekte Möglichkeit, Kindern dazu die nötigen Voraussetzungen zu bieten: Sie können neugierig sein und, angeregt von den neuen Eindrücken, ihre Eltern mit Fragen überhäufen, sie dürfen Abenteuer erleben, spielen, Probleme lösen, ihre Weltsicht justieren, Empathie entwickeln. Mein Rat: Vergessen Sie angesichts dieser Tatsachen die scheinheilige Debatte, die Eltern die Möglichkeit nehmen will, in der Elternzeit mit ihrem Nachwuchs loszuziehen und sich den Eindrücken der Welt auszusetzen.

 

Gehen wir also davon aus, dass die Frage des „ob oder ob nicht“ geklärt ist. Die Vorstellungen davon, was genau Reisen beinhaltet, welche Motivation und welche Ansprüche dahinterstecken – vom zweckgebundenen Ortswechsel über Bildung oder persönliche Weiterentwicklung bis hin zu purer Erholung –, gehen individuell weit auseinander. Viele unserer Freunde finden es geradezu provozierend, dass wir freiwillig mit vier Kindern zu Fuß die Alpen überqueren, auf dem oberitalienischen Fluss Tagliamento eine Flusswanderung unternehmen, im arktischen Winter bei minus zwanzig Grad Celsius Grönland erkunden oder Albanien nach fünf Wochen verlassen, ohne auch nur ein einziges Mal an der Adriaküste gewesen zu sein.

Ich habe deshalb begonnen, zwischen Reisen und Urlaub zu unterscheiden. Eine Begegnung in Südschweden hat mir diesbezüglich eine Last von den Schultern genommen: Wir waren bereits drei Monate mit einem fünfzig Jahre alten, umgebauten Feuerwehrlaster durch Lappland getourt. Die meiste Zeit hatten wir vom schwedischen Allemannsrecht Gebrauch gemacht und einfach in der Wildnis unser Lager aufgeschlagen. Ein Campingplatz am Meer war geradezu unerhörter Luxus. Während wir in der Kabine saßen, schlenderte eine Familie vorbei.

„Wow, was für ein cooler Bus!“ Ein aufgeregter Vater lief mit seinem noch aufgeregteren Sohn auf unser Mobil zu, nicht ahnend, dass wir darin frühstückten und ihre Unterhaltung mitverfolgten.

„Der ist ja genial. Ich will auch mal mit so einem Bus reisen“, stimmte der Sohn zu.

Mittlerweile stand auch die Mutter daneben und schnaubte: „Ich bin doch nicht verrückt. Was die machen, ist doch kein Urlaub!“

Stimmt!

Das ist kein Urlaub.

Das ist Reisen!

Mich hat diese Feststellung immens erleichtert, weil ich seitdem nicht mehr dem Anspruch hinterherzuhecheln versuche, dass unterwegs mit Kindern alles reibungslos, ohne Anstrengung und innere und äußere Widerstände klappt. Diese Schweden-Episode hat mir vor Augen geführt: Wir reisen, und dazu gehört für mich neben dem regelmäßigen Ortswechsel auch, Raum für spontane Entwicklung zu gewähren und sich vor Ort von den Geschehnissen und Begegnungen treiben zu lassen, anstatt die täglichen Abläufe im Voraus festzulegen.

Gerade aber deshalb ist das Reisen ab und an, das gebe ich zu, ziemlich kräftezehrend. Wer sich auf neues Terrain begibt – geografisch, kulinarisch, sprachlich, kulturell –, wird immer wieder mit den Grenzen des eigenen Selbst konfrontiert, stellt sich Legitimationsfragen, muss sich im Spiegel des scheinbar Fremden neu entdecken. Mein Mann und ich sind mittlerweile ein eingespieltes Reiseteam. Trotzdem ist die Reisezeit immer noch die Phase unseres Zusammenlebens, die das meiste Konfliktpotenzial birgt.

„Es gibt kein sichereres Mittel festzustellen, ob man einen Menschen mag oder hasst, als mit ihm auf Reisen zu gehen“, schrieb Mark Twain. Wie wahr! Jens und ich waren gerade einige Wochen ein Paar, als er eine lang geplante Reise nach Neuseeland und Australien antrat. Zwei Monate später folgte ich ihm nach Wellington. Nach vierzig Stunden Flug mit viel zu vielen Zwischenstopps landete ich völlig übermüdet in Neuseeland und stand plötzlich vor dem Mann, mit dem ich in den kommenden zwei Monaten auf allerengstem Raum zusammenleben würde.

Zu zweit zu reisen bedeutet, den anderen in Rekordgeschwindigkeit mit all seinen Vorzügen und Macken kennenzulernen. Bei Verhandlungen mit Autoverkäufern, im Kontakt mit anderen Reisenden, bei der Auswahl der Nahrungsmittel im Supermarkt, wenn man nach drei Stunden Fahrt plötzlich feststellt, dass man im falschen Zug sitzt, oder bei Dauerregen im viel zu engen Zelt.

Fest steht, dass wir nach dieser Reise süchtig waren. Nach einander und danach, gemeinsam in der Welt unterwegs zu sein. Mittlerweile sind wir seit zwanzig Jahren ein Paar – und seit zwanzig Jahren Reisejunkies. Süchtig nach den magischen Momenten, an die wir noch Jahrzehnte später gern denken.

Unsere zweite gemeinsame Reise führte uns nach Indien und Nepal. In der fruchtbaren, grün leuchtenden Tiefebene des nepalesischen Terai wagten wir einen Selbstversuch und schlossen uns zum ersten Mal für einen Tag einer geführten Tour an. So weit der Plan. Der junge nepalesische Guide lief voraus, eine Gruppe hoch motivierter britischer Trekkingtouristen sowie Jens und ich liefen hinterher. Wir hatten gerade die letzten Häuser des Dörfchens hinter uns gelassen, als Jens aufgeregt auf einen Fluss zeigte.

„Elefanten!“, flüsterte er mir zu.

„Bist du sicher? Vielleicht sind es einfach nur Felsen im Wasser?“ Unsere Gruppe lief zügig weiter, und wir waren hin- und hergerissen.

Wie unhöflich, einfach abtrünnig zu werden!

Wie aufregend, möglicherweise Elefanten näherzukommen!

Wir entschieden uns für das Wagnis und zogen uns aus der Affäre, indem wir Guide und Reisegruppe erklärten, in der feuchten Hitze unter Kreislaufproblemen zu leiden, die eine lange Tagestour unmöglich machten.

Während wir uns nun stattdessen den vermeintlichen Felsen näherten, sahen wir, dass drei Elefantenhüter ihre Tiere nach einem Arbeitseinsatz in den Fluss geführt hatten und auf den liegenden Kolossen knieten, um sie mit Bürsten zu schrubben. Als sie uns entdeckten, winkten sie uns heran. Begeistert wateten wir in den Fluss und verbrachten den Rest des Tages mit den Männern und ihren Tieren. Ohne dass wir darum gebeten hätten, brachten uns die Mahuts bei, wie die Tiere gepflegt werden und welchen Kommandos sie gehorchen. Und als wir allmählich meinten, die Freundlichkeit der Männer schon über die Maßen strapaziert zu haben, gaben sie zwei der Elefanten einen Befehl. Diese senkten daraufhin die Köpfe, boten uns ihre Rüssel als Aufstiegshilfe und hoben uns behutsam auf ihren breiten Nacken. Noch ein Befehl, und die Kolosse setzten sich in Bewegung. Eine Stunde lang trugen sie uns am Flussufer entlang. Ihre Mahuts waren bereits zu kleinen Punkten am Horizont geschrumpft. Es gab nur noch Jens und mich, die Elefanten und den Fluss.

 

Unsere Zweisamkeit hatte nach drei Jahren mit der Geburt unserer ersten Tochter Paula ein Ende.

Jetzt stand die Frage im Raum, ob wir unserer Tochter Sesshaftigkeit vorleben oder Reiselust mit der Muttermilch mitgeben wollten. Ein Brief aus Bonn nahm uns schließlich die Entscheidung ab. Der Deutsche Akademische Austauschdienst hatte mir ein Jahresstipendium zum Studium in Australien gewährt. Ich hatte die Chance, mein Studium der Ethnologie, Kulturanthropologie und Soziologie mit dem Studium der „Australian Indigenous Studies“ in Perth zu kombinieren. Und Jens und Paula sollten mich begleiten. Ihre ersten Schritte machte Paula am anderen Ende der Welt. Dort brachen ihre ersten Zähne durch, die ersten (englischen) Worte kamen über ihre Lippen. Und weil wir überzeugt davon waren, total erfahrene Reisende zu sein, machten wir so weiter wie bisher. Wir tingelten in den Studienpausen wochenlang mit dem Zelt die Westküste entlang, besuchten die Siedlungen indigener Australier, brachten Paula zwischen Delfinen das Schwimmen bei, maßen das Wachstum unserer Tochter, indem wir sie neben Pelikanen am Strand beobachteten, und tanzten an einsamen Stränden mit ihr zu unseren Lieblingssongs. Romantisch, oder?

Wir wissen alle: Jede Medaille hat eine Kehrseite. Dummerweise wurden wir im Outback dauerhaft von Millionen kleiner Buschfliegen attackiert, die uns vehement in Nasen, Ohren und Augen krochen. Selbst in der Nacht fielen die Temperaturen nicht unter 35 Grad, aber Abkühlung im Wasser war besonders im tropisch-heißen Norden nicht möglich wegen der Salties – der Salzwasserkrokodile („Naughty bastards. They like dogs and kids, good size for them!“). Es gab keine Mahlzeit ohne Sandkruste darauf, und Gleichaltrige traf Paula nur alle paar Wochen, was letztendlich bedeutete, dass ich täglich auf allen vieren über gebrochenen Muschelkalk am Shelly Beach krabbelte, um unsere Tochter zu bespaßen. Oft war der Sand dermaßen heiß, dass Paula sich nicht setzen konnte. Und beim Sammeln von Stöckchen und Steinchen mussten wir sie immer wieder daran erinnern, vorher fest dagegenzutreten – der Schlangen wegen. Während Jens und ich uns zu zweit mit diesen Tatsachen vermutlich gut hätten arrangieren können, ließ Paula klar und deutlich ihren Unmut erkennen, wenn wir aus Unwissenheit zu weit gegangen waren. Und je unzufriedener unser Kind war, umso nervöser wurden wir.

Als erstes Kind in eine Familie geboren zu werden hat den klaren Vorteil, sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Eltern sicher sein zu können. Und den klaren Nachteil, dass diese Eltern meist noch Neulinge im Zusammenleben mit Kindern sind. Dass sie an ihrem Kind üben müssen und dabei manchmal natürlich auch Fehler machen. Einer unserer größten Fehler war nicht die Vermessenheit, auch mit Kleinkind unserer größten Leidenschaft nachzugehen, sondern der Irrglaube, mit Kind exakt genauso reisen zu können wie ohne Kind.

Zwei Individuen zusammen ergeben ein Paar, zwei Individuen mit Kind ergeben eine Familie mit ganz neuen Rollen und Herausforderungen auf Reisen. Vier Jahre lang haben Jens und ich gemeinsam an einem journalistischen Projekt zu den Auswirkungen des Klimawandels gearbeitet – in allen möglichen Regionen unseres Planeten. Immer waren unsere Kinder, mittlerweile waren es vier, dabei. Und diese wollten bekocht, verarztet, durch fremde Länder geführt, unterhalten und getröstet werden. Kurzum: Jens und ich entwickelten auf diesen Reisen multiple Rollen, die wir je nach Bedürfnissen unserer exquisiten Reisegruppe zu wechseln und einzunehmen lernten.

Dass wir diese nötige Umstellung anfangs nicht in unser Reisekonzept mit einbezogen haben, hätte Jens und mich beinahe die Ehe gekostet und das Ende unserer gemeinsamen Reisen besiegelt.

Stattdessen erlernten wir das Reisen neu. Die folgende Gebrauchsanweisung schreibe ich in der Hoffnung, dass Sie nach der Lektüre mutig, neugierig und selbstsicher auf Reisen gehen. Dass Sie dabei so manches Fettnäpfchen umgehen (in das wir getreten sind), Irrwege vermeiden, unnötige Sorgen von vornherein durch gute Vorbereitung und Mut zur Lücke entkräften. Und dass Sie die Welt – ganz egal ob vor der eigenen Haustür oder in weiter Entfernung – jenseits ausgetretener Pfade achtsam, neugierig und mit der nötigen Portion Gelassenheit und Humor erkunden können.

So schwer ist das gar nicht. Schließlich haben wir weise Lehrer dabei: unsere Kinder.


 Badehose oder Daunenmantel

Die erste Frage, die uns gestellt wird, wenn wir von unseren mehrere Wochen bis Monate dauernden Reisen erzählen: „Wie habt ihr es nur geschafft, schulpflichtige Kinder zu befreien?“ Und dann folgt meist ziemlich schnell die Aussage, mit der sich Eltern selbst Steine in den Weg legen: „Mehrere Monate reisen in der Schulzeit – das geht doch gar nicht!“

Wir haben aufgehört zu fragen, ob etwas machbar ist, und haben uns stattdessen angewöhnt zu überlegen, wie wir etwas machbar machen.

Ja, in Deutschland besteht eine allgemeine Schulpflicht. Jedes Kind mit deutschem Wohnsitz muss täglich die Schulbank drücken und darf nicht, wie in Ländern mit allgemeiner Bildungspflicht, außerschulisch lernen. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, Schulkinder im Rahmen eines Reiseprojektes freistellen zu lassen. Schon allein, weil es zunächst mal im Ermessen der Schule liegt, wie sie mit solchen Elternanfragen umgeht. Versetzen Sie sich in die Situation der Lehrer, die mit Anträgen auf Schulbefreiung konfrontiert werden. Die Ferienzeiten verlängern, weil dann die Flüge billiger sind? Dass diese Argumentation schiefgehen muss, liegt auf der Hand. Jens’ und meine Argumentation ist für unseren Fall simpel und leicht nachvollziehbar: Als freiberufliches Fotografen/Autorinnen-Team gehört das Reisen zu unserem Alltag. Und dass wir unsere Kinder nicht einfach zu Hause lassen können, versteht sich von selbst. Eltern, die nicht mit diesem Argument in der Tasche bei Lehrerschaft, Schulleitung und Schulamt aufwarten können, müssen etwas kreativer sein. Gibt es eine familiäre Bindung an das Reiseziel? Welche sprachlichen Vorteile erhoffen Sie sich? In den folgenden Kapiteln werden Sie zudem einige Hinweise dafür sammeln können, wie sich Reisen positiv auf Kinder auswirkt.

 

Selbst wenn Klassenlehrer und Schulleitungsteam unserer Arbeits- und Lebensweise gegenüber sehr aufgeschlossen sind, wollen sie natürlich sicherstellen, dass unsere Kinder nicht einfach nur „Urlaub“ machen.

Für Paula artet das in Australien phasenweise in echten Stress aus. Wir sind diesmal vier Monate für einen Forschungsaufenthalt in Perth, und Paula besucht eine der dortigen Waldorfschulen. An ihrer Seite Lily, ihre beste australische Freundin, mit der sie im langen Flur unseres Häuschens damals als Einjährige Hand in Hand die ersten Schritte ohne Eltern gewagt hatte.

In den ersten Schultagen ist Paula fasziniert, wie anders Schule aussehen und ablaufen kann, obwohl sie zu Hause auch eine Waldorfschule besucht. Durch den Hof, der eher umzäuntes australisches Buschland ist als versiegelte Fläche wie bei uns üblich, hüpfen Wallabys. In den Bäumen sitzen Papageien, Rosenköpfchen und Kookaburras. Jede Klasse hat ein eigenes Häuschen, das mit den anderen über Pfade verbunden ist. Ihr neuer Lehrer Bruce (seinen Nachnamen hat Paula nie erfahren) ist „total cool“, „lustig“ und „meganett“. Einen Nachmittag die Woche setzen sich Paula, ihre Mitschüler und Bruce zusammen zum Plauderstündchen, um herauszufinden, wo es brennt und was gut läuft. Schule in Australien, findet Paula, könnte richtig easy sein. Wenn nicht am Nachmittag noch die Aufgaben auf sie warten würden, die ihre Lehrerin ihr von zu Hause aus mitgegeben hat. Unser Kind ist gewissenhafter als Jens und ich zusammen und zudem ehrgeizig. Keine der deutschen Hausaufgaben „vergisst“ sie einfach mal. Und wenn die erledigt sind, warten noch die Aussie homeworks auf unsere Tochter. Manchmal tut uns Paula richtig leid. Aber immer, wenn wir sie in den vier Monaten vor Ort fragen, was eigentlich das Schönste an diesem Auslandsaufenthalt sei, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: „Die australische Schule!“

Nicht jedes Mal sind wir so lange an einem Fleck sesshaft, dass sich ein Schulbesuch lohnen würde. Zwei Mal tingeln wir über den nördlichen Polarkreis bis ins nördliche schwedische Lappland. Nur selten halten wir uns mehrere Tage am Stück an einem Ort auf. Deshalb geben uns bei der ersten Skandinavienreise sämtliche Klassenlehrer unserer Kinder eine To-do-Liste mit, die ich unterwegs mit den Kindern abarbeite.

Auf der zweiten Reise begleitet uns meine Zwillingsschwester samt Mann und vier Kindern. Und Katja ist, was für ein Glück, Waldorflehrerin! Sie unterrichtet die Kinder am Strand, im Wald, bei schlechtem Wetter auch im Expeditionsmobil. Angepasst an das deutsche Curriculum, aber mit den Freiheiten, die eine rollende Schule mit sich bringt. In Schweden begegnen die Kinder der Kultur der Sami, die sich in ihren Schularbeiten widerspiegelt. Als „Mitbringsel“ für Mitschüler, Lehrerkollegium und Schulführung erarbeiten sie ein Schweden-Tagebuch mit Geschichten, Bildern und Informationen über Schwedens Geschichte und Gegenwart.

Die letzte Unterrichtsstunde der rollenden Schule findet auf den Lofoten statt. Am Abend machen wir ein Lagerfeuer, die Kinder stellen Stühle im Halbkreis auf und präsentieren uns, was sie unterwegs in Skandinavien alles erarbeitet haben. Ihrer „Lehrerin“ (und sie trennen zwischen den verschiedenen Rollen, in denen meine Schwester ihnen täglich gegenübertritt) überreichen sie ein Abschiedsgeschenk, an dem alle Kinder mitgearbeitet haben: einen nach samischer Technik gewebten, wunderschönen Gürtel.

 

Im Gespräch ist es eigentlich immer möglich, ein Gespür dafür zu entwickeln, unter welchen Bedingungen Schulkollegium und Schulamt eine Beurlaubung befürworten können. Am schlauesten ist es, nicht nur darzulegen, welchen Vorteil Ihre Kinder von einer Reise haben werden, sondern auch, was Sie und Ihre Familie für die Schule Gutes tun können (Vorträge, Projektarbeit). Trotzdem wird es Nüsse geben, die einfach nicht zu knacken sind. Dann bleibt immer noch, den dauerhaften Wohnsitz aus Deutschland in ein anderes Land zu verlegen (Bildungspflicht statt Schulpflicht!), aber das hat natürlich auch finanzielle Konsequenzen. Wer nicht in Deutschland gemeldet ist, muss eventuell auf Kindergeld und Elterngeld verzichten. Also werden Sie erfinderisch beim Umschiffen der Klippen, suchen Sie das Gespräch! Und fragen Sie, wie gesagt, nicht nach dem „ob“, sondern nach dem „wie“. Dann haben Sie sich sowieso schon eines der wichtigsten Werkzeuge zugelegt, die Sie unterwegs benötigen werden.

Kürzlich kam übrigens eine Lehrerin des Schulleitungsteams auf mich zu.

„Frau Steingässer!“, rief sie fröhlich. „Gut dass ich Sie treffe. Ich wollte mal fragen, ob Sie schon sagen können, wann Sie im nächsten Jahr wieder auf Reisen sein werden. Damit wir schon mal planen können.“

Tolle Schule, weitsichtige Lehrer!

Jana Steingässer

Über Jana Steingässer

Biografie

Jana Steingässer, geboren 1976, studierte Ethnologie und Soziologie in Frankfurt und Indigenous Studies in Perth. Das Eintauchen in andere Kulturen und Lebenswelten ist ihre große Leidenschaft. Egal, ob sie mit ihrer Familie in einem Minibus durch Tansania tuckert, mit Inuit auf dem Polarstrom...

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