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Eine Geschichte der Wölfe

Eine Geschichte der Wölfe

Emily Fridlund
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Roman

„Fridlunds Schreiben ist ein Öffnen der Augen durch Sprache, ein Umherschauen und Wahrnehmen, hier ist nichts performativ, sondern könnte immer auch anders sein. Stephan Johann Kleiner hat das atmosphärisch getreu und sprachmächtig übersetzt.“ - Berliner Zeitung

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Eine Geschichte der Wölfe — Inhalt

In den dunklen Wäldern von Minnesota wächst Linda in den kläglichen Überresten einer Kommune auf. Ihre Eltern sind über das Scheitern ihrer Hippie-Ideale zu Eigenbrötlern geworden, in der High-School kommt sie sich vor wie eine Außerirdische. In ihrer Isolation fühlt sich Linda wie magisch hingezogen zu ihrer Klassenkameradin Lily und zu ihrem Geschichtslehrer, Mr. Grierson. Es ist ein Schock, als der wegen des Besitzes von Kinderpornographie verhaftet wird und dann auch noch Lily von der Schule verschwindet. Linda hat niemand, mit dem sie über all das reden könnte. Da zieht eine Familie neu an den See. Alles bei ihnen scheint Linda gut und schön. Sie wird die Babysitterin des kleinen Paul und sehnt sich danach zu dieser heilen Familie zu gehören. Doch als Paul schwer krank wird, bleiben seine Eltern seltsam inaktiv. Soll Linda trotzdem einen Arzt rufen und damit das gute Verhältnis zu ihren „neuen Freunden“ riskieren? Eine vielleicht unmögliche Entscheidung für eine Vierzehnjährige, die ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen wird....

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 19.03.2018
Übersetzt von: Stephan Kleiner
384 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7970-1
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„Emily Fridlund schreibt so schroff und schön über die Düsternis in uns, dass man die Bilder nicht aus dem Kopf bekommt.“
Brigitte
„Fridlunds Schreiben ist ein Öffnen der Augen durch Sprache, ein Umherschauen und Wahrnehmen, hier ist nichts performativ, sondern könnte immer auch anders sein. Stephan Johann Kleiner hat das atmosphärisch getreu und sprachmächtig übersetzt.“
Berliner Zeitung
„Langsamkeit, die sich lohnt.“
Stern
„Starkes Debüt.“
Augsburger Allgemeine
„Madeline gewinnt schließlich für ihre Arbeit einen Preis. Den hat auch dieses Buch verdient. Mindestens. Denn Emily Fridlund ist ein Romandebüt gelungen, dessen poetische Sprache bezaubert – und dessen Handlung nachhaltig verstört.“
Hamburger Morgenpost
„Emily Fridlunds Geschichte nimmt einen von Anfang an gefangen, und weil alle Figuren sehr ambivalent agieren, fühlt man sich ihnen nah und fremd zugleich. Tolles Buch.“
Flow
„Eine außergewöhnlich schöne Sprache zeichnet diesen Roman aus, was sicher auch an der deutschen Übersetzung liegt. Hier gibt es keine abgegriffenen Bilder und Klischees. Ein feines, ruhiges, manchmal etwas unheimliches Buch.“
WDR 4
„Mit lyrischer Prosa seziert Emily Fridlund komplex das Wesen des Bösen.“
Dresdner Morgenpost
„Der vorzügliche Debütroman der amerikanischen Autorin Emily Fridlund ist ein Bildungsroman, lebhaft und spannend geschrieben.“
Hamburger Abendblatt

Leseprobe zu „Eine Geschichte der Wölfe“

1

Es ist nicht so, dass ich nie an Paul denken würde. Manchmal kommt er zu mir, bevor ich ganz wach bin, wobei ich mich fast nie erinnern kann, was er gesagt hat oder was ich mit ihm gemacht oder auch nicht gemacht habe. In meiner Erinnerung plumpst mir der Junge einfach auf den Schoß. Bumm. Dadurch weiß ich, dass er es ist: ohne besonderes Interesse an mir, ohne jedes Zögern. Es ist ein Spätnachmittag wie jeder andere, wir sitzen im Nature Center, und sein Körper bewegt sich automatisch auf meinen zu – nicht aus Liebe oder Respekt, sondern einfach nur [...]

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1

Es ist nicht so, dass ich nie an Paul denken würde. Manchmal kommt er zu mir, bevor ich ganz wach bin, wobei ich mich fast nie erinnern kann, was er gesagt hat oder was ich mit ihm gemacht oder auch nicht gemacht habe. In meiner Erinnerung plumpst mir der Junge einfach auf den Schoß. Bumm. Dadurch weiß ich, dass er es ist: ohne besonderes Interesse an mir, ohne jedes Zögern. Es ist ein Spätnachmittag wie jeder andere, wir sitzen im Nature Center, und sein Körper bewegt sich automatisch auf meinen zu – nicht aus Liebe oder Respekt, sondern einfach nur weil er noch nicht gelernt hat, höflicherweise darauf zu achten, wo sein Körper aufhört und ein anderer anfängt. Er ist vier, er muss ein Eulenpuzzle machen, sprich ihn nicht an. Ich tue es nicht. Eine Lawine aus Pappelflaum schwebt am Fenster vorbei, still und schwerelos wie Luft. Das Sonnenlicht verändert sich, das Puzzle spaltet sich in eine Eule auf und fällt wieder auseinander, ich ziehe Paul auf die Beine. Zeit zu gehen. Es ist Zeit. Aber in der Sekunde bevor wir aufstehen, bevor er seinen Protest herausjammert und darum bittet, noch ein bisschen bleiben zu dürfen, lehnt er sich mit dem Rücken an meine Brust, gähnt. Und es schnürt mir die Kehle zu. Weil es so seltsam ist, wisst ihr? Es ist wunderbar, und es ist traurig, wie gut es sich anfühlen kann, wenn dein Körper für jemanden eine Selbstverständlichkeit ist.

~

Vor Paul kannte ich nur einen Menschen, der vom Leben zum Tod übergewechselt war. Es war Mr Adler, bei dem ich in der achten Klasse Geschichte hatte. Er trug braune Cordanzüge und weiße Tennisschuhe, und obwohl Amerika auf dem Lehrplan stand, redete er lieber über die Zaren. Einmal zeigte er uns ein Bild des letzten russischen Kaisers, und so stelle ich ihn mir jetzt vor – mit einem schwarzen Bart und Schulterquasten –, obwohl er immer glatt rasiert und emsig war. Wir hatten gerade Englisch, als einer seiner Schüler aus der Vierten hereinplatzte und sagte, Mr Adler sei hingefallen. Wir stürmten alle auf den Gang hinaus, und da lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Augen geschlossen, die blauen Lippen am Teppich fest­gesaugt. „Ist er Epileptiker?“, fragte jemand. „Braucht er Tabletten?“ Wir ekelten uns alle. Die Pfad­finder diskutierten über die richtigen Wiederbelebungs­techniken, während die begabten und talentierten Kin-
der hysterisch flüsternd seine Symptome analysierten. Ich musste mich zwingen, zu ihm zu gehen. Ich hockte mich hin und nahm Mr Adlers trockenfleischartige Hand. Es war Anfang November. Seine Spucke machte dunkle Flecken auf den Teppich, die Abstände zwischen seinen japsenden Atemzügen wurden immer länger, und ich kann mich an einen entfernten Lagerfeuergeruch erinnern. Jemand verbrannte Müll in Plastiksäcken, irgendein Hausmeister, der vor dem ersten Schnee Blätter und Kürbisschalen beseitigte.

Als die Rettung Mr Adlers Körper schließlich auf eine Trage lud, dackelten die Pfadfinder hinterher, die auf irgendeinen Auftrag hofften. Sie wollten eine Tür zum Aufmachen, etwas Schweres zum Heben. Auf dem Gang standen Trauben schniefender Mädchen. Ein paar Lehrer drückten sich die Handflächen an die Brust, wussten nicht, was sie als Nächstes sagen oder tun sollten.

„Ist das ein Doors-Stück?“, fragte einer von den Notärzten. Er war zurückgeblieben, um Salzkräcker an benommene Schüler zu verteilen. Ich zuckte mit den Schultern. Ich musste wohl laut vor mich hin gesummt haben. Er gab mir einen Pappbecher mit orangem Gatorade und sagte – als wäre ich diejenige, die er retten wollte, als wäre es seine Pflicht, jedem Lebewesen, dem er begegnete, die Übelkeit zu vertreiben –: „Langsam trinken. Nur kleine Schlucke.“

Damals nannte man uns die Welthauptstadt des Barsches. An der Route 10 gab es ein Schild, auf dem so etwas in der Art stand, und auf die Seitenwand des Diners waren drei Fische mit Irokesenfrisur gemalt. Die warfen einem immer einen flossigen Gruß zu – Grinsen und Augenbrauen, Zähne und Zahnfleisch –, aber sobald die großen Seen im November zugefroren waren, kam niemand mehr von außerhalb zum Fischen oder sonst irgendetwas. Damals gab es das Resort noch nicht, nur ein gammeliges Motel. Das war die Innenstadt: Diner, Eisenwarenladen, Anglerbedarf, Bank. Der eindrucksvollste Ort in Loose River war damals wohl die alte Holzmühle, und das lag bloß daran, dass sie halb abgebrannt war und ihre verkohlten schwarzen Planken über dem Flussufer aufragten. Fast alle offiziellen Gebäude, das Krankenhaus, die Verkehrsbehörde, der Burger King und die Polizeiwache befanden sich im über dreißig Kilo­meter entfernten Whitewood.

Am Tag, an dem die Notärzte Mr Adler abholten, schalteten sie das Martinshorn ein, als sie vom Schulparkplatz hinunterfuhren. Wir standen alle am Fenster und sahen zu, selbst die Hockeyspieler mit ihren gelben Kappen, selbst die Cheerleader mit ihren elektrisch aufgeladenen Ponyfrisuren. Da hatte es schon heftig zu schneien begonnen. Als der Krankenwagen um die Ecke glitt, harkten seine Scheinwerfer wie wahnsinnig durch die dichten Flocken, die in Böen über die Straße geblasen wurden. „Müssten die nicht die Sirene anmachen?“, fragte jemand, und während ich den letzten Schluck Gatorade in meinem kleinen Becher abschätzte, dachte ich: Wie blöd kann man denn sein?

Der Ersatz für Mr Adler war Mr Grierson, und als er einen Monat vor Weihnachten erschien, war er überirdisch tief gebräunt. Er trug einen kleinen goldenen Ohrring und ein leuchtend weißes Hemd mit Perlmuttknöpfen. Später erfuhren wir, dass er aus Kalifornien gekommen war, von einer privaten Mädchenschule am Meer. Niemand wusste, was ihn bis hierher ins nördliche Missouri verschlagen hatte, aber nach der ersten Unterrichtswoche nahm er Mr Adlers Karten des russischen Kaiserreichs von den Wänden und tauschte sie gegen vergrößerte Kopien der amerikanischen Verfassung aus. Er ließ uns wissen, dass er einen zweifachen Universitätsabschluss in Theaterwissenschaften hatte, was erklärte, warum er eines Tages mit ausgestreckten Armen vor der Klasse stand und die komplette Unabhängigkeits­erklärung auswendig herunterbetete. Nicht nur die mitreißenden Teile über das Leben, die Freiheit und das Streben nach dem Glück, sondern auch die stichelnde, jämmerliche Auflistung von Ungerechtigkeiten gegenüber den unterjochten Kolonien. Ich merkte, wie wichtig es ihm war, gemocht zu werden. „Was bedeutet das?“, fragte Mr Grierson, als er an der Stelle mit der „gegenseitigen Verpflichtung zum Einsatz unserer heiligen Ehre“ angelangt war.

Die Hockeyspieler schliefen unschuldig auf ihren verschränkten Händen. Sogar die begabten und talentierten Kinder waren unbeeindruckt, klickten auf ihren Druckbleistiften herum, bis das Blei obszön weit herausguckte wie Spritzennadeln. Sie duellierten sich über den Mittelgang hinweg. „En garde!“, zischten sie voller Verachtung.

Mr Grierson setzte sich auf Mr Adlers Schreibtisch. Er war nach seinem Vortrag außer Atem, und mir wurde – in einem merkwürdigen Aufblitzen, so als würde ein zu helles Licht über ihn hinweggleiten – bewusst, dass er nicht mehr jung war. Ich sah Schweiß auf seinem Gesicht und wie sein Pulsschlag unter den grauen Halsstoppeln pochte. „Leute. Freunde. Was bedeutet es, dass die Menschenrechte als selbstverständlich erachtet werden? Kommt schon. Das wisst ihr.“

Ich sah, dass seine Augen auf Lily Holburn ruhten, die glatte schwarze Haare hatte und trotz der Kälte nur einen dünnen purpurroten Pullover trug. Er schien zu glauben, dass ihre Schönheit ihn erlösen würde, dass sie, weil sie schöner war als wir anderen, auch nett und freundlich wäre. Lily hatte große braune Augen, eine Lese-RechtschreibSchwäche, keinen Bleistift, einen Freund. Unter Mr Griersons Blick wurde sie allmählich rot.

Sie zwinkerte. Er nickte ihr zu, gab ihr das stumme Versprechen, dass er mit allem, egal, was sie sagte, einverstanden wäre. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen wie ein Reh.

Ich weiß nicht, warum ich mich meldete. Ich hatte gar nicht unbedingt Mitleid mit ihr. Oder mit ihm. Die Anspannung war bloß unerträglich geworden, dem Anlass völlig unangemessen. „Es bedeutet, dass manche Dinge nicht erst bewiesen werden müssen“, schlug ich vor. „Manche Dinge sind einfach wahr. Man kann sie nicht ändern.“

„Genau!“, sagte er dankbar, wobei ich wusste, dass er weniger mir dankbar war als irgendeinem Kreis aus Glück, in den er hineingestolpert zu sein glaubte. Das konnte ich. Den Leuten geben, was sie wollten, ohne dass sie merkten, dass es von mir kam. Lily konnte die Leute aufbauen, ohne ein Wort zu sagen, konnte ihnen das Gefühl geben, sie seien etwas ganz Besonderes. Sie hatte Grübchen auf den Wangen und Brustwarzen, die durch den Pullover blitzten wie ein Zeichen von Gott. Ich war flach wie ein Brett und redete Klartext. Von mir fühlten die Leute sich durchschaut.

In diesem Jahr brach der Winter über uns zusammen. Erschöpft ging er in die Knie und blieb dort. Mitte Dezember fiel so viel Schnee, dass das Dach der Turnhalle einstürzte und wir eine Woche lang schulfrei hatten. Weil der Unterricht ausfiel, gingen die Hockeyspieler zum Eisfischen. Die Pfadfinder spielten auf den Seen Hockey. Dann kam Weihnachten mit den bunten Lichterketten entlang der Main Street und den rivalisierenden Krippenspielen der luthe­rischen und der katholischen Kirchengemeinde – das eine mit bemalten Sandsäcken als Schafen und das andere mit einem aus einem Eisblock geschnitzten Jesuskind. Das neue Jahr brachte noch einen schlimmen Schneesturm. Als im Januar die Schule wieder losging, hatte Mr Grierson seine frischen weißen Hemden gegen unscheinbare Pullover eingetauscht und seinen Ohrring gegen einen Stecker. Jemand musste ihm gezeigt haben, wie man die Maschine bediente, mit der man die Antworten der Multiple-Choice-Tests automatisch auslesen konnte, denn nach einer Woche Vorträge über Lewis und Clark ließ er uns zum ersten Mal einen Test schreiben. Während wir uns über unsere Tische beugten und winzige Kreise ausmalten, ging er auf dem Mittelgang auf und ab und klickte mit seinem Kugelschreiber.

Am nächsten Tag wollte Mr Grierson, dass ich nach dem Unterricht noch dablieb. Er saß hinter seinem Schreibtisch und befühlte seine Lippen, die rau und aufgesprungen waren und unter seinen Fingern abblätterten. „Du hast beim Test nicht besonders gut abgeschnitten“, sagte er zu mir.

Er wartete auf eine Erklärung, und ich hob verteidigend die Schultern. Aber bevor ich ein Wort sagen konnte, fügte er hinzu: „Hör mal, es tut mir leid.“ Er drehte den Stecker – zarte, hakelige Schraube – in seinem Ohr. „Ich bin noch dabei, meinen Lehrplan auszuarbeiten. Was habt ihr denn durchgenommen, bevor ich kam?“

„Russland.“

„Ah.“ Ein spöttischer Ausdruck glitt über sein Gesicht, unmittelbar gefolgt von echtem Amüsement. „Im Hinterland geht der Kalte Krieg also weiter.“

Ich nahm Mr Adler in Schutz. „Wir haben nicht nur über die Sowjetunion gesprochen. Wir hatten die Zaren.“

„O Mattie.“ So nannte mich nie jemand. Es war, als würde einem jemand von hinten auf die Schulter tippen. Ich hieß Madelaine, aber in der Schule nannten sie mich Linda oder rote Socke oder Freak. Ich ballte die Hände in meinen Ärmeln zu Fäusten. Mr Grierson sprach weiter. »Vor Stalin und der Bombe hat sich niemand für die Zaren interessiert. Sie waren Marionetten auf einer weit entfernten Bühne, vollkommen bedeutungslos. 1961 gingen dann die ganzen Mr Adlers zur Uni, und es herrschte eine generelle Nostal­gie in Bezug auf die alten russischen Spielzeuge, die Inzucht-prinzessinnen aus einem anderen Jahrhundert. Ihre Belanglosigkeit machte sie interessant. Verstehst du?« Daraufhin lächelte er, schloss halb die Augen. Seine Schneidezähne waren weiß, die Eckzähne gelb. „Aber du bist erst dreizehn.“

„Vierzehn.“

„Ich wollte nur sagen, es tut mir leid, wenn wir einen schlechten Start hatten. Wir werden bald besser miteinander auskommen.“

In der nächsten Woche wollte er, dass ich nach der Schule in sein Klassenzimmer kam. Diesmal hatte er den Stecker aus seinem Ohr gezogen und auf seinen Schreibtisch gelegt. Mit Zeigefinger und Daumen befühlte er vorsichtig das Fleisch um das Ohrläppchen herum.

„Mattie“, sagte er und richtete sich auf.

Ich sollte mich auf einen blauen Plastikstuhl neben dem Tisch setzen. Er legte mir einen Stapel Hochglanzbroschüren auf den Schoß, bildete mit seinen Fingern ein Zelt. „Kannst du mir einen Gefallen tun? Sei mir nicht böse, ich muss das fragen. Es ist mein Job.“ Er wand sich.

Und dann fragte er mich, ob ich die Schule bei der Geschichtsodyssee vertreten würde.

„Das wird klasse“, sagte er wenig überzeugend. „Du gestaltest ein Poster. Dann hältst du eine Rede über Verzeichnisse aus dem Vietnamkrieg, Grenzübertritte nach Kanada oder etwas in der Art. Oder vielleicht willst du lieber was über die Schändung der Anishinabe-Völker machen? Oder über diese Zurück-zur-Natur-Leute, die sich hier oben niedergelassen haben. Irgendetwas Regionales, etwas ethisch Uneindeutiges. Etwas mit verfassungsrechtlichen Auswirkungen.“

„Ich möchte etwas über Wölfe machen“, sagte ich zu ihm.

„Wie, eine Geschichte der Wölfe?“ Er war verdutzt. Dann schüttelte er den Kopf und grinste. „Klar. Du bist ein vierzehnjähriges Mädchen.“ Die Haut um seine Augen herum schob sich zusammen. „Ihr habt es alle mit Pferden und Wölfen. Herrlich. Einfach herrlich. Das ist so sonderbar. Was hat es damit bloß auf sich?“

Weil meine Eltern kein Auto hatten, kam ich folgender­maßen nach Hause, als ich den Bus verpasste. Ich lief fünf Kilometer am schneegeräumten Rand der Route 10 entlang und bog dann rechts in die Still Lake Road ein. Nach weiteren anderthalb Kilometern gabelte sich die Straße. Die linke Seite lief am See entlang in Richtung Norden, und die rechte, wo nicht geräumt war, führte auf einen Hügel. Dort blieb ich stehen, stopfte die Hosenbeine meiner Jeans in die Socken und zog die Bündchen meiner Wollfäustlinge zurecht. Im Winter sahen die Bäume vor dem orangen Himmel wie Adern aus. Der Himmel zwischen den Ästen sah wie Sonnenbrand aus. Zwanzig Minuten ging es durch Schnee und Sumach, bis mich die Hunde hörten und an ihren Ketten zu zerren begannen.

Als ich zu Hause ankam, war es dunkel. Ich öffnete die Tür und sah, wie sich meine Mutter über das Waschbecken beugte, die Arme bis zu den Ellbogen in tintenschwarzem Wasser. Ihre langen glatten Haare, die ihr wie ein Vorhang über Gesicht und Hals fielen, ließen sie meist etwas verschlossen wirken. Aber ihre ganz aus Vokalen bestehende Stimme war typisch Mittlerer Westen, weit offenes Kansas. „Gibt es ein Gebet für verstopfte Abflüsse?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

Ich legte meine Fäustlinge auf dem Holzofen ab, wo sie steif werden und am Morgen nicht mehr richtig auf meine Hände passen würden. Die Jacke ließ ich an. Es war kalt im Haus.

Meine Mutter, deren eigene Jacke vom Spülwasser feucht war, ließ sich am Tisch schwer auf einen Stuhl fallen. Aber die fettigen Hände hielt sie in die Luft gestreckt, als würde es sich um etwas Wertvolles handeln – etwas Zuckendes und noch Lebendiges –, das sie aus einem Teich gefischt hatte. Etwas, das sie uns vielleicht zu essen geben würde, ein Paar hübscher kleiner Barsche. „Wir brauchen Abflussfrei. Mist.“ Sie schaute nach oben in die Luft und wischte sich dann ganz langsam die Handflächen an ihren Hosen­taschen aus Segeltuch ab. „Bitte hilf uns, Gott des unerschöpflichen Mitleids bei der armseligen Farce, die wir Leben nennen.“

Sie meinte es nur halb im Scherz. Das wusste ich. Ich kannte die Geschichten, wie meine Eltern Anfang der Achtziger in einem gestohlenen Lieferwagen nach Loose River gekommen waren, wie mein Vater Gewehre und Hasch gehortet hatte und wie meine Mutter nach der Auflösung der Kommune das, was noch von ihrem fanatischen Hippietum übrig war, gegen das Christentum eingetauscht hatte. Soweit ich zurückdenken konnte, war sie dreimal die Woche zur Kirche gegangen – mittwochs, samstags, sonntags –, weil sie die Hoffnung hatte, dass am Konzept der Buße etwas dran sei, dass man über Jahre hinweg Teile der Vergangenheit nach und nach ungeschehen machen könne.

Meine Mutter glaubte an Gott, aber widerwillig, so wie eine Tochter, der man Hausarrest gegeben hat.

„Meinst du, du könntest einen der Hunde nehmen und noch mal zurückgehen?“

„Zurück in die Stadt?“ Ich schlotterte immer noch. Der Gedanke machte mich kurz rasend, löschte alles andere in mir aus. Ich spürte meine Finger nicht mehr.

„Oder lieber doch nicht.“ Sie warf ihre schwarzen Haare zurück und fuhr sich mit dem Handgelenk über die Nase. „Nein, nein. Es sind wahrscheinlich minus 20 Grad da draußen. Tut mir leid. Ich hole noch einen Eimer.“ Aber sie bewegte sich nicht von ihrem Stuhl weg. Sie wartete auf etwas. „Entschuldige, dass ich gefragt habe. Du kannst es mir doch nicht übel nehmen, dass ich gefragt habe.“ Ihre fettigen Hände klammerten sich aneinander fest. „Entschuldige, entschuldige, entschuldige.“

Mit jedem Entschuldige wurde ihre Stimme eine halbe Stufe höher.

Ich wartete einen Moment lang, bis ich sprach. „Ist schon gut“, sagte ich.

Mit Mr Grierson verhielt es sich folgendermaßen. Ich hatte gesehen, wie er sich neben Lilys Tisch gehockt hatte. Ich hatte gesehen, wie er sagte: „Du machst das gut“, und seine Hand ganz behutsam wie einen Briefbeschwerer auf ihre Wirbelsäule legte. Wie er die Fingerspitzen hob und sie leicht tätschelte. Ich sah, wie neugierig und ängstlich er den Karens begegnete, den Cheerleadern, die manchmal ihre Wollstulpen auszogen, unter denen nackte Winterhaut zum Vorschein kam, weiß und mit Gänsehaut genoppt. Von den Stulpen bekamen sie Ausschlag, und sie kratzten daran herum, bis der Schorf mit Klopapierfetzen betupft werden musste. Ich sah, wie er im Unterricht jede Frage an eine von ihnen – an die Karens oder an Lily Holburn – richtete, während er sagte: „Weiß es irgendjemand? Hallo? Jemand zu Hause?“ Dann formte er mit der Hand ein Telefon, senkte die Stimme und brummte: „Hallo, bin ich da bei Holburn? Ist Lily zu sprechen?“ Lily wurde rot und lächelte mit geschlossenen Lippen in ihren Ärmel hinein.

Wenn ich dann nach der Schule zu ihm ging, schüttelte Mr Grierson den Kopf. „Das mit dem Telefon war ziemlich daneben, oder?“ Es war ihm peinlich. Er wollte hören, dass alles in Ordnung sei, dass er ein guter Lehrer sei. Er wollte, dass man ihm all seine kleinen Fehler verzieh, und weil ich häufig die Arme verschränkte und bei Tests schlecht abschnitt, schien er zu glauben, dass meine Mittelmäßigkeit Absicht war, gegen ihn gerichtet. „Hier“, sagte er leutselig und schob eine schmale blaue Dose über den Tisch. Ich nippte ein paarmal an seinem Energydrink, der so süß und koffeinhaltig war, dass ich fast augenblicklich Herzklopfen bekam. Nach ein paar weiteren Schlucken zitterte ich auf meinem Stuhl. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht aufeinanderschlugen.

„Hat Mr Adler euch jemals Filme gezeigt?“, wollte er wissen.

Ich kann nicht genau sagen, warum ich auf seine Spielchen einging. Ich weiß nicht, warum ich ihm so entgegenkam. „Sie zeigen viel mehr Filme als er“, sagte ich.

Er lächelte befriedigt. „Also, wie läuft es denn mit deinem Projekt?“

Darauf antwortete ich nicht. Stattdessen trank ich unaufgefordert noch einmal von seinem Energydrink. Er sollte wissen, dass ich sah, wie er Lily Holburn anschaute, dass ich seinen Blick besser einordnen konnte als sie, dass ich ihn, obwohl ich ihn überhaupt nicht mochte – obwohl ich den Witz mit dem Telefon gruselig fand und seinen Ohrring lächerlich –, verstand. Aber die Dose war leer. Ich musste das Metall an meine Lippen führen und so tun, als würde ich trinken. Vor dem Fenster wurden sämtliche Schnee­wehen von Eisregen überzogen, die ganze Welt steinhart gemacht. In einer Stunde, in weniger als einer Stunde würde es dunkel sein. Die Hunde würden wartend an der äußeren Umlaufbahn ihrer Ketten auf und ab laufen. Mr Grierson zog seine Jacke an. „Wollen wir?“ Niemals – nicht ein einziges Mal – fragte er, wie ich nach Hause kam.

Mr Grierson sprach über die Geschichtsodyssee, als wüs­sten wir beide, dass es sich um eine unangenehme Pflicht handelte. Insgeheim wollte ich gewinnen. Ich wollte unbedingt einen Wolf sehen. Nachts ging ich aus dem Haus, in Mukluks, einer Skimaske und der Daunenjacke meines ­Vaters, die von seinen Gerüchen getränkt war, von Tabak und Moder und bitterem Kaffee. Es war, als hätte ich seinen Körper an, während er schlief, als verdiente ich mir einen Zugang zu seiner Gegenwart, zu seiner Schweigsamkeit und seiner Masse. Ich setzte mich auf einen alten Eiseimer in der Nähe der am weitesten entfernten Fischerhütte und trank in kleinen Schlucken gekochtes Wasser aus einer Thermoskanne. Aber so spät im Winter gab es hier selten Wölfe – alles, was ich zu sehen bekam, waren von Krähen wimmelnde Baumstämme in der Ferne. Am Ende musste ich mich mit einem toten zufriedengeben. Samstags ging ich auf Schneeschuhen zum Forest Service Nature Center, wo ich die aus­gestopfte Wölfin in der Eingangshalle studierte, mit ihren Glasaugen und ihren rotgelblichen Nägeln, die eingefallenen schwarzen Lefzen zu etwas zurückgezogen, das wie ein Lächeln aussah. Peg, die Naturkundlerin dort, zog eine Schnute, als sie sah, wie ich versuchte, den Schwanz der Wölfin zu berühren. „Äh-äh“, tadelte sie. Sie gab mir Gummibärchen und erklärte mir Präparationstechniken, brachte mir bei, wie man Augenlider aus Lehm machte und Muskeln aus Polyurethanschaum. „Bügel die Haut, bügel die Haut“, ermahnte sie mich.

Am Morgen der Geschichtsodyssee sägte ich einen Ast von der alten Kiefer hinter unserem Haus ab. Nadeln rieselten als kleine Propeller – wick wick – zu Boden. Nach der Schule fuhr ich mit dem Casino-Bus nach Whitewood, schleppte mein Wolfsplakat und den Ast an den alten Leuten vom Seniorenheim vorbei, die nur wortlos die Stirn runzelten. In der Aula der Whitewood High School lehnte ich den Ast gegen das Pult, um die notwendige Atmosphäre zu erzeugen. Ich ließ eine Aufnahme von heulenden Wölfen in Endlosschleife laufen. Ich hatte zwar einen trockenen Mund, als ich zu sprechen anfing, aber ich musste nicht in meine Notizen schauen und wippte auch nicht die ganze Zeit vor und zurück wie der Junge vor mir. Ich war konzentriert, ruhig. Ich zeigte auf Schaubilder mit Wolfsjungen in verschiedenen Stadien der Unterwerfung und zitierte aus einem Buch, in dem stand: »Der Ausdruck Alpha – der sich zu einer Bezeichnung für Tiere in Gefangenschaft ent­wickelt hat – ist irreführend. Ein Alphatier ist mitunter nur zu bestimmten Zeiten und in speziellen Zusammenhängen ein Alphatier.« Diese Worte gaben mir jedes Mal das ­Gefühl, etwas Kühles, Süßes, Verbotenes zu trinken. Ich dachte an die schwarze Wölfin im Nature Center, die in ihrer hündischen Freundlichkeitspose gefangen war, und wiederholte diesen Teil meiner Rede, langsam diesmal, als wäre er ein Zusatzartikel zur Verfassung.

Danach stocherte eines der Jurymitglieder mit seinem Bleistift in der Luft. „Aber – hier muss ich einhaken. Eine Sache hast du nicht sehr gut erklärt. Was haben Wölfe denn mit der menschlichen Geschichte zu tun?“

Das war der Moment, in dem ich Mr Grierson an der Tür sah. Er hielt seine Jacke über dem Arm, als wäre er gerade erst hereingekommen, und ich sah, wie er den Blick des Jurymitglieds auffing und mit den Schultern zuckte. Es war das subtilste Schulterzucken, so als wollte er sagen: Was soll man bloß mit diesen Kindern machen? Was soll man bloß mit diesen Teenagermädchen machen? Ich holte tief Luft und blitzte sie beide wütend an. „Wölfe haben überhaupt nichts mit Menschen zu tun. Sie gehen ihnen aus dem Weg, wo sie nur können.“

Ich bekam den Originalitätspreis, einen Strauß Nelken,
die zum St. Patrick’s Day grün eingefärbt worden waren. Mr Grierson wollte wissen, ob wir den Kiefernast mit
dem Poster in sein Auto laden sollten, damit er sie mit zur
Schule nehmen konnte. Ich war deprimiert und schüttelte den Kopf. Die Gewinnerin, ein Mädchen aus der Siebten in ­einem Hosenanzug, wurde zusammen mit ihrem Aquarell vom Untergang der SS Edmund Fitzgerald fotografiert. Ich knöpfte meinen Mantel zu und folgte Mr Grierson, der den Ast hinter sich herschleifte, durch einen Seitenausgang nach draußen. Er warf den Ast wie einen Speer in eine grießige Schneeverwehung, in der dieser aufrecht stecken blieb. „Sieht aus wie bei Fröhliche Weihnachten, Charlie Brown“, sagte er lachend. „Man will direkt Lametta dranhängen. Echt niedlich.“

Er bückte sich, um ein paar verirrte Nadeln von seiner Hose zu wischen, und ich streckte reflexartig eine Hand aus, um – swisch, swisch – ebenfalls über seinen Schenkel zu streichen. Er trat einen Schritt zurück, schüttelte seine Hosenbeine ein wenig aus, lachte verlegen. Männer können so unbeholfen sein, wenn es um Sex geht. Das fand ich später heraus. Aber damals kam mir das, was ich getan hatte, nicht sexuell vor. Das will ich ganz klar sagen. Es fühlte sich wie Striegeln an. Oder als würde man einen Hund zu sich locken, als würde man zusehen, wie sich sein Nackenfell sträubt und wieder glättet, und dann hätte man ein Haustier.

Ich fuhr mir nach Lily-Holburn-Art mit der Zunge über die Lippen, rehmäßig, ganz und gar unschuldig. Ich sagte: „Mr Grierson, könnten Sie mich vielleicht nach Hause fahren?“

Bevor wir an der Whitewood High losfuhren, ging Mr Grierson noch einmal nach drinnen, um ein feuchtes Papierhandtuch zu holen, das er um die Nelkenstängel wickelte. Dann legte er mir den Strauß behutsam in die Arme, als wäre er so eine Art Blumenbaby. Auf der vierzig Kilometer weiten Fahrt von Whitewood zum Haus meiner ­Eltern sahen wir, wie ein Sturm monströse Eiskrusten von Ästen fegte – was zum zeitlupenartigen Gefühl einer sich nähernden Katastrophe beitrug. Mr Griersons Gebläse funktionierte nicht besonders gut, und ich wischte mit dem schmutzigen Saum meines Ärmels über die Windschutzscheibe.

„Müssen wir hier abbiegen?“, fragte er, als er die Still Lake Road entlangfuhr. Mit den Schneidezähnen zog er kleine Hautfetzen von seinen Lippen ab. Sogar im Halbdunkel konnte ich den Riss in seiner Lippe erkennen, der leicht blutig schimmerte, ohne wirklich zu bluten. Aus irgend­einem Grund freute mich das. Es fühlte sich an, als hätte ich ihm das angetan – mit meinem Wolfsreferat, mit meinen Kiefernnadeln.

Die Abzweigung zu unserer Straße war wie immer nicht geräumt. Mr Grierson hielt an der Kreuzung an, und wir beugten uns beide vor, um durch die Windschutzscheibe den steilen, düsteren Hügel hinaufzuspähen. Als ich zu ihm hinüberschielte, sah sein Hals so breit und weich aus wie ein entblößter Bauch, also reckte ich mich und küsste ihn dorthin. Schnell, schnell.

Er zuckte zusammen.

„Hier entlang also?“, sagte er, zog den Reißverschluss seines Mantels hoch und versteckte seinen Hals wieder im Kragen. Oben auf dem Hügel kauerte die erleuchtete Hütte meiner Eltern, und ich merkte, dass er seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte, weil es das Erste war, was es zu sehen gab. „Ähm, da war früher diese Sekte drin, oder? Über die habe ich viel Merkwürdiges gehört. Sind das Nachbarn von euch?“

Natürlich machte er nur Small Talk – aber ich umklammerte trotzdem meine Nelken. Ich fühlte, wie ich gespalten wurde wie Kleinholz. „Die bleiben für sich.“

„Ja?“ Er war mit den Gedanken woanders.

Graupeln knallten auf die Windschutzscheibe, aber ich konnte sie nicht sehen, weil das Glas schon wieder beschlug.

„Bringen wir dich nach Hause“, sagte er, zog am Schaltknüppel und drehte am Lenkrad, und ich merkte, dass er die Verantwortung für mich abgeben wollte.

„Von hier aus kann ich laufen“, sagte ich zu ihm.

Ich glaubte, wenn ich die Tür heftig genug zuschlug, würde mir Mr Grierson vielleicht hinterherkommen. So ist das, wenn man vierzehn ist. Ich glaubte, wenn ich die Straße verließ und ein paar Schritte in den Schnee hineinrannte, würde er mir vielleicht folgen – um sein Gewissen zu be­ruhigen, um dafür zu sorgen, dass ich gut nach Hause käme, um seine kreidigen Geschichtslehrerhände unter meine ­Jacke zu schieben oder was auch immer. Ich hielt auf den See zu, statt den Hügel hinaufzusteigen. In dem piksenden Schneeregen rannte ich auf das Eis hinaus, aber als ich mich umdrehte, drehte sein Auto mit eingeschaltetem Fernlicht, machte zwischen den Bäumen eine sorgfältige Kehrtwende.

Der Grierson-Skandal ereignete sich, ein paar Monate nachdem ich im darauffolgenden Herbst auf die Highschool gekommen war. Ich hatte einen Teilzeitjob als Kellnerin im Diner der Stadt und hörte das Gerede, als ich jemandem Kaffee einschenkte. Man hatte ihm an seiner ehemaligen Schule Pädophilie und Sexualstraftaten vorgeworfen, und er flog auch prompt von unserer – in einer ehemaligen Wohnung von ihm in Kalifornien war ein Stapel schmutziger Fotos sichergestellt worden. An diesem Tag nahm ich nach der Arbeit mein Trinkgeld, ging damit in die Bar die Straße hinunter und zog meine erste ganze Schachtel Zigaretten aus dem Automaten im Vorraum. Von den Zigaretten, die ich zu Hause geklaut hatte, wusste ich, dass man beim Anstecken nicht zu stark inhalieren durfte. Aber als ich mich zwischen die nassen Büsche hinter dem Parkplatz duckte, fingen meine Augen an zu tränen, und ich musste husten, während mein Herz in hässlicher Raserei trommelte. Mehr als alles andere fühlte ich mich getäuscht. Es kam mir vor, als hätte ich eine Saat in Mr Griersons Wesen erkannt, und er hätte mich nach Strich und Faden belogen, als er einfach über das hinweggegangen war, was ich im Auto getan hatte, als hätte er sich für einen besseren Menschen ausgegeben, als er in Wirklichkeit war. Für einen ganz normalen Lehrer. Ich dachte daran, wie Mr Grierson seinen breiten, warmen Hals in seinem Mantelkragen eingeschlossen hatte. Ich dachte an seinen ranzigen Geruch, als ich ihm näher gekommen war, so als hätte er seine Klamotten durchgeschwitzt und sie in der Winterluft trocknen lassen. An all das dachte ich, und was ich letztlich für ihn empfand, war ein unan­genehmes Aufwallen von Mitleid. Es erschien mir unfair, dass Menschen nicht etwas anderes sein konnten, auch wenn sie sich wirklich anstrengten, wenn sie es immer und immer wieder behaupteten.

Mit sechs oder sieben hatte mich meine Mutter in meiner Unterwäsche in den Badezuber gesetzt. Es war ein Vormittag mitten im Sommer. Ein Lichtstrahl landete auf ihrem Gesicht. Aus einem Messbecher ließ sie Wasser auf mein Gesicht tropfen. „Ich wünschte, ich würde an diesen Scheiß glauben“, sagte sie zu mir.

„Was soll denn angeblich passieren?“ Ich fröstelte.

„Gute Frage“, sagte sie. „Du bist ein frischer Topf Reis, Baby. Ich fange mit dir noch mal bei null an.“

An dem Abend, als Mr Grierson mich abgesetzt hatte, wollte ich nicht nach Hause gehen. Ich stellte mir vor – freudig erregt, mit einer Halskette voller Haken in der Kehle, die ich beim Schlucken spürte –, wie ich durch das spröde Eis des Sees brach und einfach unterging. Meine Eltern würden sich lange Zeit keine Sorgen machen, vielleicht bis zum Morgen nicht. Meine Mutter nickte Abend für Abend beim Nähen von Quilts für Gefängnisinsassen ein. Mein Vater verbrachte seine Abende damit, auf dem verwaisten, zum Verkauf stehenden Grundstück am gegenüberliegenden Ufer des Sees Holz zu sammeln. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich meine Eltern waren oder einfach nur die Leute, die zurückgeblieben waren, als die anderen wieder in den Twin Cities auf die Uni oder ins Büro gingen. Sie waren eher wie Stiefgeschwister als wie Eltern, auch wenn sie mich immer gut behandelten – was auf gewisse Weise das Schlimmste war. Schlimmer, als mit Cent-Stücken Müsli zu kaufen, schlimmer, als abgetragene Klamotten von den Nachbarn annehmen zu müssen, schlimmer, als rote Socke oder Freak genannt zu werden. Als ich zehn war, hängte mein Vater eine Schaukel an eine riesige Pappel; meine Mutter schnitt mir Kletten aus den Haaren. Aber an dem Abend, als Mr Grierson mich abgesetzt hatte, dachte ich, während ich darauf wartete, dass mein Körper durch das Eis brach, trotzdem immer wieder voller Bosheit: Da geht der Reis dahin, Mom. Da geht der ganze Topf dahin.

Nachdem ich mich am Community College eingeschrieben und es wieder abgebrochen hatte, nachdem ich in der Stadt ein paar Aushilfsjobs gemacht hatte, stieß ich im Internet auf eine landesweite Datenbank, in die man den Namen eines beliebigen Sexualstraftäters eingeben und seinen aktuellen Standort abrufen konnte. Auf Karten aller Bundesstaaten kann man anhand einer kleinen roten Linie ver­folgen, wie sich jemand von Stadt zu Stadt bewegt, von Arkansas nach Montana, wie er nach der nächsten miesen Wohnung sucht, wie er ins Gefängnis kommt und wieder entlassen wird. Man kann sehen, wie sie bei dem Versuch erwischt werden, einen anderen Namen anzunehmen, und wie dann jedes Mal ein Windstoß wütender Kommentare durch das Netz fegt. Man kann die Entrüstung sehen. Man kann sehen, wie sie es wieder versuchen. Man kann ihnen in den Süden Floridas folgen, ins Sumpfgebiet, wo sie zwischen den Mangroven ein verstecktes kleines Antiquitätengeschäft aufmachen und irgendwelches Zeug, irgendwelchen Müll verkaufen. Rostige Laternen und ausgestopfte Enten, falsche Haizähne, billige Goldohrringe verhökern. Man kann alles sehen, was sie verkaufen, weil die Leute ihre Einträge aktualisieren, mit allen Einzelheiten. Es machen so viele mit. Ständig wird irgendetwas aktualisiert. „Sollte ich einem verurteilten Sexualstraftäter eine Landkarte abkaufen?“, schreiben die Leute, und die Frage scheint ethisch uneindeutig zu sein. „Habe ich nicht das verfassungsmäßige Recht, ihm zu sagen, dass ich ihn hier nicht haben will, dass er seine Postkarten zum halben Preis woanders verkaufen soll?“ Die Leute ­schreiben: „Habe ich nicht das Recht, ihm das in sein Scheißgesicht zu sagen?“ Die Leute schreiben: „Was glaubt der denn, wer er ist?“

Emily  Fridlund

Über Emily Fridlund

Biografie

Emily Fridlund wuchs in Minnesota auf und lebt derzeit in der Finger Lakes Region des Staates New York. Ihre Prosa erschien in zahlreichen Zeitschriften; eine Sammlung ihrer Kurzgeschichten wird im Jahr 2017 in den USA erscheinen. Ihr erster Roman "Eine Geschichte der Wölfe" war in den USA nicht nur...

Pressestimmen
Brigitte

„Emily Fridlund schreibt so schroff und schön über die Düsternis in uns, dass man die Bilder nicht aus dem Kopf bekommt.“

Berliner Zeitung

„Fridlunds Schreiben ist ein Öffnen der Augen durch Sprache, ein Umherschauen und Wahrnehmen, hier ist nichts performativ, sondern könnte immer auch anders sein. Stephan Johann Kleiner hat das atmosphärisch getreu und sprachmächtig übersetzt.“

Stern

„Langsamkeit, die sich lohnt.“

Augsburger Allgemeine

„Starkes Debüt.“

Hamburger Morgenpost

„Madeline gewinnt schließlich für ihre Arbeit einen Preis. Den hat auch dieses Buch verdient. Mindestens. Denn Emily Fridlund ist ein Romandebüt gelungen, dessen poetische Sprache bezaubert – und dessen Handlung nachhaltig verstört.“

Flow

„Emily Fridlunds Geschichte nimmt einen von Anfang an gefangen, und weil alle Figuren sehr ambivalent agieren, fühlt man sich ihnen nah und fremd zugleich. Tolles Buch.“

WDR 4

„Eine außergewöhnlich schöne Sprache zeichnet diesen Roman aus, was sicher auch an der deutschen Übersetzung liegt. Hier gibt es keine abgegriffenen Bilder und Klischees. Ein feines, ruhiges, manchmal etwas unheimliches Buch.“

Dresdner Morgenpost

„Mit lyrischer Prosa seziert Emily Fridlund komplex das Wesen des Bösen.“

Hamburger Abendblatt

„Der vorzügliche Debütroman der amerikanischen Autorin Emily Fridlund ist ein Bildungsroman, lebhaft und spannend geschrieben.“

Wilhelmshavener Zeitung

„Es gibt - glücklicherweise - immer wieder diese Romane, nach denen erst einmal durchgeatmet werden muss.“

lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

„Großartig erzählt.“

Westfalenpost

„Erneut ist hier das Debüt einer sehr talentierten jungen Autorin aus dem ländlichen Amerika zu bewundern.“

piqd.de

„Ich habe selten ein Debüt von solcher Ideenfülle und Sprachgewalt gelesen.“

zeichenundzeiten.com

„Dass Fridlund in Minnesota geboren und aufgewachsen ist und noch immer in jenem nördlichen Bundesstaat nahe Kanada lebt, ist ihrem überaus lesenswerten weil zudem vielschichtigen Erstling deutlich anzumerken, beschreibt sie nicht nur in einer wundervollen wortgewandten Prosa die dortige herbe, indes eindrucksvolle Natur. Ihr gelingt es ebenfalls, die besondere Atmosphäre dieser Landschaft und die Herausforderungen an das dortige Leben zu beschreiben; geradezu die bilderreichen Winterszenen sind voller Poesie und Sprachkraft.“

schaedelspalter.de

„Ein ruhiges Buch, für all diejenigen, die gut erzählte Geschichten und einfühlsame Worte lieben.“

letteraturablog.wordpress.com

„Fridlund hat einen Roman der großen Fragen geschrieben. (…) Es ist ein ungeheuer kraftvoller und atmosphärisch dichter Roman in einer einfachen und doch starken Sprache (…).“

Kölner Stadt-Anzeiger

„Die Ich-Erzählerin fügt wie in einem Puzzle Detail an Detail, springt dabei durch die Zeiten –und es entsteht eine überaus komplexe Geschichte, die sich zwischen Thriller und Coming-of-Age-Roman bewegt.“

schreiblust-leselust.de

„Emily Fridlund ist ein beeindruckendes Romandebüt gelungen.“

madeofstil.com

„Eine Geschichte der Wölfe ist eine gelungene Mischung aus Coming-Of-Age-Story mit mysteriösen Spannungsmomenten.“

litlagletta.wordpress.com

„Für mich ein absolut großartiges, aber auch sehr bedrückendes und bewegendes Buch.“

fastforward-magazine.de

„Mit der Schwere, die hier über allem liegt, muss man bereit sein sich auseinander zu setzen. Dann hat man mit ›Eine Geschichte der Wölfe‹ ein trauriges aber kraftvolles, sehr individuelles Leseerlebnis.“

culturmag.de

„›Eine Geschichte der Wölfe‹ ist ein interessantes, mutiges und unheimliches Buch, die Stimme Fridlunds einzigartig und rätselhaft.“

Bielefelder

„Ein grandioses Debüt über Verantwortung und Erwachsenwerden.“

schnitzel-und-schminke.de

„Was soll man da noch sagen? Zunächst: schönstes Cover des Jahres! Und dann: spannend, klug, verwirrend. Ich denke immer noch drüber nach.“

Büchereien Wien

„Emily Fridlund, selbst in den Wäldern Minnesotas aufgewachsen, schreibt in wunderschöner Sprache, durch die Übersetzung von Stephan Johann Kleiner gewinnt Buch zusätzlich.“

Salon

„Poetisch, mit feinen Sprachbildern erzählt.“

tanzschrift.at

„In ihrem ersten, überaus beeindruckenden, auch spannenden und in schöner Sprache, mit originellen Bildern erzählten Roman wirft Fridlund ein Bündel von Fragen auf, Fragen, die das Leben täglich stellt. Jede muss sie für sich selbst beantworten.“

Kommentare zum Buch
Gefühlsbetonter Roman
Michael Lausberg am 27.05.2018

  Der Roman spielt im ländlichen Minnesota, einem Bundesstaat im Nordwesten der USA und erzählt die Lebensgeschichte von Linda, die mit ihren Eltern sowie 4 Hunden in ärmlichen Verhältnissen unter widrigen Bedingungen an einer Hütte an einem der vielen Seen der Gegend. Sie sind die letzten Überbleibsel einer Kommune von Hippies, die anderen sind längst fortgezogen. Lindas Lebensgeschichte wird immer wieder in Zeitsprüngen durcheinander erzählt, mal geht es in die Vergangenheit in die frühe Kindheit zurück, andererseits wird auch die Perspektive der erwachsenen Linda über 30 gewählt. Linda selbst hat keine wirklichen Freunde, die Schulkameraden hänseln sie. Auch das Verhältnis zu ihren Eltern bleibt distanziert, nur mit den Hunden kommt sie gut zurecht, was aber auf Dauer keine menschliche Nähe ersetzt. Diese trostlose Situation ändert sich, als in eine andere Hütte am See eine junge Familie einzieht: Patra, ihr meistens abwesender Mann und der 4-jährige Sohn Paul. Diese Zeit ist die aufregendste in Lindas Leben, daher wird die Geschichte aus Sicht der Zeit der ersten Begegnungen erzählt. Linda sucht die Nähe zu den beiden und freundet sich mit ihnen an. Um mehr Zeit dort zu verbringen, kümmert sie sich als Babysitterin um den kleinen Paul. Mit der Zeit wird ihr die Familie wichtiger als ihre eigene und fühlt zum ersten Mal in ihrem Leben Nähe und enge menschliche Beziehungen. Dies ändert sich schlagartig, als der bis dorthin wenig in Erscheinung tretende Vater Joe im Sommer plötzlich auftaucht. Sie verliert ihren Job als Babysitterin und auch merkwürdigerweise die Zuneigung von Patra. Sie möchte jedoch ihre neu erworbene Zuneigung nicht aufgeben und sucht weiterhin intensiven Kontakt mit der Familie. Dabei erlebt sie die Schattenseiten der bislang so heilen Welt innerhalb der Familie hautnah mit.   Dies ist ein gefühlsbetonter Roman und schildert die Erlebnisse und die menschlichen Beziehungen der Hauptprotagonistin Linda, die auf der Suche nach Anerkennung und tieferen Bindungen ist. Ihre Begegnung mit Patras Familie verändert ihr Leben, sorgt aber auch für Abhängigkeit und negativen Erfahrungen. Die Identifikation mit Linda gelingt sehr schnell, die ihre seelische Isolation durchbrechen möchte, jeder Mensch braucht Anerkennung von anderen, auch sie. Ein lesenswerter Roman.

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