Niemandsland - eBook-Ausgabe
Roman
Niemandsland — Inhalt
Aryan und Kabir sind versteckt in Lieferwagen und Güterzügen oder zu Fuß unterwegs. Sie leiden unter Hunger, Erschöpfung und bitterer Kälte. Sie werden um den Lohn ihrer Arbeit betrogen, von brutalen Schleppern hintergangen und von allen anderen ignoriert. Mit Ausnahme der Polizei. Nicht immer gelingt es Aryan, den kleinen Kabir zu beschützen. Und doch: Ihre Reise birgt auch große Momente des Abenteuers, des Staunens, der ergreifenden Zärtlichkeit zwischen den Brüdern und selten - ganz selten - auch der unerwarteten Großherzigkeit eines Fremden. Caroline Brothers erzählt die Geschichte zweier Jungen, die stellvertretend für Millionen von Kindern inmitten der Flüchtlingsströme dieser Welt stehen. Niemandsland ist ein Roman ohne jede Rührseligkeit - und rührt den Leser gerade deshalb. Denn Aryans und Kabirs Europa ist auch das unsere.
Leseprobe zu „Niemandsland“
In unsichtbaren Geschwadern treffen sie nachts ein, zerrupft
und mit schmerzenden Brustmuskeln und Sehnen vom unablässigen
Streben gegen die Küstenwinde. Eine übernatürliche
Kraft wirbelt sie genau an die richtige Stelle. Die kleinen
Tunnel in der Felswand sind vom Vorjahr noch da, noch immer
markieren verblichene weiße Guanofahnen die Eingänge
im bröckelnden Lehm. Dort, wo die Spinifexwurzeln die Decke
nicht zusammenhalten konnten, stürzen einige der Höhlen
ein. Aber sie sind noch da, trotz Wind, Feuchtigkeit und
Erosion – die Schutzräume, in denen sie selber [...]
In unsichtbaren Geschwadern treffen sie nachts ein, zerrupft
und mit schmerzenden Brustmuskeln und Sehnen vom unablässigen
Streben gegen die Küstenwinde. Eine übernatürliche
Kraft wirbelt sie genau an die richtige Stelle. Die kleinen
Tunnel in der Felswand sind vom Vorjahr noch da, noch immer
markieren verblichene weiße Guanofahnen die Eingänge
im bröckelnden Lehm. Dort, wo die Spinifexwurzeln die Decke
nicht zusammenhalten konnten, stürzen einige der Höhlen
ein. Aber sie sind noch da, trotz Wind, Feuchtigkeit und
Erosion – die Schutzräume, in denen sie selber geschlüpft waren
und wo auch ihre Nachkommen kauern würden vor dem
einen lang gedehnten Fall von der Klippe, wenn sich alles
Leben in die Winde wirft, die kreischend übers Meer fahren
und auf die bodennahen Strömungen prallen, wenn jeder
Glaube, jede Erwägung, jeder Gedanke verdrängt wird durch
den einen, furchterregendsten aller Instinkte: den ersten blinden
Absprung in die Luft.
Es war kein Geheimnis, und doch war es eines der Geheimnisse
der Natur, einfach weil der Mensch sie jahrtausendelang
nicht ergründet hatte; die lange Pilgerreise südwärts über
abakusartige Inselketten, den weiten blauen Spiegel der See,
die rauen Küsten der Kontinente, die sich gleich einer Landkarte
unter ihnen entrollen, und irgendwann eine Art von Ankunft:
Sie torkeln auf dürren Beinchen, schlagen ein, zwei Mal
mit den zerfetzten Flügeln und falten sie wie blasse Regenschirme
zusammen. Auf einer Insel an der südlichsten Spitze
der Welt erlangen sie mit Anmut ihre Würde wieder. Dann die
verlumpte Musterung derjenigen, die die Strecke geschafft haben,
während die anderen irgendwo entlang der Schnellstraßen
der Meere, der Winde und des Himmels abhandengekommen
sind. Die Paarung, das Legen, das Schlüpfen, das Fischen, das
Füttern. Und schließlich, mit der uralten Sonne schräg auf ihrer
Achse, die lange Reise nach Norden, bei der die Nachkommen
demselben Navigationsinstinkt ausgesetzt werden, der sie,
ihre Eltern und deren Eltern zu dieser langen Staffel des Überlebens
verdammt hatte, die nur eines vorsah: unter der Anziehungskraft
der Sonne jene endlosen Seemeilen zu bezwingen.
Sie sind zwei Wochen zu spät angekommen, und der
Fluss führt Hochwasser.
Der Schnee auf dem fernen Balkan ist früh geschmolzen,
und er hat die Bäche anschwellen lassen,
die den breiten Grenzfluss mit seiner jährlichen Ernte
aus Schlick speisen. Das ansteigende Wasser schmiegt
sich gegen die Baumstämme, stiehlt sich in die Reisfelder,
die das Niemandsland bedecken und die Wiesen in
schillernde Kopien des Himmels verwandeln. Nicht einmal
tagsüber gibt es Vögel, nirgends regt sich Leben.
Aryan streicht sich das tropfnasse Haar aus den Augen.
Hinter der Brücke kann er soeben die nackten
Bäume ausmachen, in der Ferne das steil ansteigende
Ufer, das zur Autobahn in Europa führt.
„Hier lang“, sagt der Junge mit dem verkrüppelten
Arm.
Die Männer, fünfzehn an der Zahl, bilden eine Reihe
und stolpern durch den Morast. Sie halten sich an die
kleinen Schwellen zwischen den Feldern, springen von
einer Gras- und Erdinsel zur nächsten. Aryan spürt, wie
das Wasser in seine Turnschuhe sickert, in die Socken,
die sich unter den Fußsohlen anfangen zu wellen. Mit
jedem Schritt schmatzen und rutschen seine Schuhe;
er zuckt zusammen bei dem Geräusch, das die Anspannung
in seinem Kopf hundertfach verstärkt, als sei es
meilenweit über diese trübe Landschaft hinweg zu hören.
Vor ihm verflucht sein Freund mit leiser Stimme
die Blasen an seinen Füßen; Kabir geht zwischen ihnen,
macht mit den stämmigen Beinchen große Schritte, fügt
einen zusätzlichen Hüpfschritt ein, um nicht zurückzufallen.
Die tief hängenden Wolken, die nur ein schmales
Band zwischen Erde und Himmel übrig gelassen haben,
bedeuten, dass zumindest heute Nacht kein Mond droht.
Ein Mal bleiben sie abrupt stehen. Sie können die
Taschenlampen der Grenzwachen sehen, blinkend und
zuckend wie Glühwürmchen entlang der schmalen
Brücke. Aryan hofft, dass die Soldaten heute Abend
ein Auge zudrücken werden; die Überquerung wird in
einem Hinterhalt enden, wenn sich die Leute des Jungen
von beiden Seiten schmieren lassen wollen.
Die Mundpropaganda – das gesammelte Wissen, das
dieselbe beschwerliche Route nimmt wie die Flüchtlinge
– hat ihn vor den türkischen Gefängnissen gewarnt,
wo diejenigen, die im Grenzgebiet verhaftet werden, ihr
Dasein fristen. Er hockt im Nieselregen und Schlamm
und betet, dass es kein Fehler war, diesem missgestalteten
Jungen zu vertrauen.
Aber es sind nicht die Lichter auf der Brücke, die ihren
Führer dazu veranlasst haben, so plötzlich stehen zu
bleiben und auf die Knie zu fallen. Das Geräusch ist an
sein Ohr gedrungen, lange bevor Aryan den langsam
fahrenden grauen Schatten auf der soeben überquerten
Straße erkennt: ein Armeefahrzeug ohne Licht, das zu
den Militärgebäuden am Brückenkopf unterwegs ist.
Sie warten, zusammengekauert und doch auf freiem
Feld, sie wagen kaum zu atmen. Aryan spürt, wie ihm
das Wasser vom nassen Saum seiner Jeans bis über die
Knie kriecht; dort, wo der Stoff an seinen Beinen klebt,
gibt er nicht nach, und der Wind, der dagegenbläst, verwandelt
seine Haut in Eis. Seine Zähne klappern laut
wie eine Nähmaschine in seinem Schädel. Die Wärme
sickert aus seinen Muskeln, die Müdigkeit wiegt auf ihm
wie ein Alptraum.
Endlich steht der Junge auf. Das Fahrzeug auf seiner
einsamen Mission ist verschwunden; die Soldaten im stickig
warmen Innern haben die in der Dunkelheit kauernden,
zerlumpten Geschöpfe nicht gesehen oder nicht
sehen wollen. Die Gruppe faltet ihre schmerzenden
Glieder auseinander, nimmt ihren Marsch wieder auf,
lässt den finsteren Rumpf des Brückenkopfs weit hinter
sich.
Es scheint, als wären sie stundenlang gelaufen. Aryan
heftet den Blick auf die Baumlinie jenseits der Wiese,
und als sie darauf zukommen, bemerkt er den hohen
Wasserpegel. Er kann den Fluss nicht hören, aber er
riecht ihn, noch bevor sie ihn erreicht haben, Schlamm
und Verwesung, der kalte Atem des Wassers, der die
feuchte Nachtluft überlagert. Er krempelt seine nassen
Hosenbeine hoch.
Im trüben Licht schleicht der Junge davon und
taucht plötzlich wieder auf, flink wie ein Fischreiher,
und schiebt mit einem langen Stab ein aufblasbares Boot
vor sich her. Daraus fördert er einen Haufen schlaffes
Gummi und einen Blasebalg zutage, den die Männer abwechselnd
bedienen.
Hier ist der Evros zwar breiter, doch die Strömung ist
noch immer stark. Aryan hat noch nie einen so furchterregenden
Fluss gesehen – die Wasserwege seiner Heimat,
die im Sommer verdorrten und im Frühling zu
reißenden Strömen wurden, sind nichts dagegen. Er versucht
die Entfernung abzuschätzen, er fragt sich, ob sie
sich nicht flussaufwärts eine schmalere Stelle suchen
sollten.
Auf einmal erschrickt er. Da ist etwas. Auch Kabir
sieht es. Eine Leiche treibt auf sie zu, sie dreht sich langsam
im schwarzen Wasser, die steifen Arme zum Himmel
gereckt; die Enge in seinem Brustkorb bleibt, auch
nachdem sie sich in einen Baumstamm verwandelt hat,
der flussaufwärts vom Regen fortgeschwemmt wurde.
Er versucht, ihn nicht für ein Omen zu halten oder zu
denken, dass noch mehr davon kommen könnten, um
ihr wackliges Gefährt zum Kentern zu bringen.
„Das ist nur ein komischer alter Baumstamm, Kabir“,
sagt er.
Sein Bruder packt seine Hand. Sein Gesicht ist eine
bleiche Scheibe im Dämmerlicht.
Jetzt sind sie zumindest außer Sichtweite der Brücke.
Hoch oben auf der anderen Uferböschung beben
die Bäume im Licht der Scheinwerfer, wenn die Sattelschlepper
die Kurve nehmen. Aryan fragt sich, ob auf
der anderen Seite schon ihr LKW wartet.
„Hier verlasse ich euch“, sagt der Junge. Er trägt ein
türkisches Amulett gegen den bösen Blick an einer Lederschnur
um den Hals, und er vermeidet es, sie direkt
anzusehen. Mit seiner gesunden Hand zündet er sich
geschickt eine Zigarette an, und die brennende Spitze
sengt ein Loch in die frostige Luft.
„Ihr müsst zu dem großen Baum da – seht ihr den? –,
kurz vor der Flussbiegung“, sagt der Junge in stockendem
Englisch. Aryan schätzt, dass sie ungefähr gleich
alt sein müssten. Er folgt dem Finger des Jungen; im
schwindenden Licht kann er soeben das Skelett einer
Eiche ausmachen.
„Wenn ihr da seid, müsst ihr Löcher in das Boot
schneiden, so.“ Mit seinem Taschenmesser führt er
schlitzende Bewegungen in der Luft aus. „Ihr müsst es
umdrehen und versenken. Dann können sie euch nicht
zurückschicken, wenn sie euch finden. Danach klettert
ihr die Böschung hoch bis zur Straße. Wenn ihr an die
Mauer kommt, haltet euch geduckt. Wartet so lange, bis
ihr hört, wie der LKW anhält. Ihr dürft nicht sprechen.
Kommt erst raus, wenn euch der Fahrer Bescheid gibt.“
Einhändig macht der Junge das Seil los, mit dem das
zweite Boot an das erste angebunden ist, und bedeutet
ihnen einzusteigen.
„Wie lange wird es dauern, bis der LKW vorbeikommt?
“, fragt jemand.
Der Junge zuckt mit den Schultern. „Wartet einfach,
bis er kommt.“ Sein Gesicht ist hager in der Dunkelheit,
die sich wie Asche auf ihrer aller Haut legt. „Ich
gehe jetzt. Denkt dran, wenn sie euch kriegen, habt ihr
mich nie gesehen. Wenn sie euch zurückschicken, bringen
wir euch wieder rüber.“
Er dreht sich um und geht davon, seine schmale
halbmondförmige Gestalt verschwimmt rasch mit der
Baumlinie und hinterlässt nur einen schwachen Duft
von Tabakrauch, der Arabesken über dem Morast zeichnet.
Sie stoßen sich ab und gleiten über die seichten Stellen,
die in der Brise zittern und kleine Wellen schlagen.
Über der Welt liegt Stille. Aryan sieht Kabirs Profil
in der Dunkelheit, sein unbändiges Haar ist vom Regen
plattgedrückt. Gegenüber sitzt sein Freund Hamid,
die Knie an die Brust gezogen, schweigend. Keiner von
ihnen spricht, denn sie wissen, dass das offene Wasser
sie verraten kann. Sie sind schon zu weit gekommen,
um eine Flussüberquerung aufs Spiel setzen zu wollen,
die genauso gefährlich ist wie ihre separaten Odysseen
durch die Wüsten und über die Bergpässe von Afghanistan,
Kurdistan und Iran.
Als der Fluss tiefer wird, spüren sie, wie die Strömung
zunimmt, wie der Stab in den samtigen Schlick
sinkt. Einer der kräftigeren Männer bedient ihn mit beiden
Händen; das Boot schaukelt jedes Mal, wenn er ihn
einsticht und aus dem Wasser zieht. Aryan bezweifelt,
dass auch nur einer von ihnen schwimmen kann. Ohne
Wehmut blickt er zurück auf das Land, das sie hinter
sich lassen, er sieht, wie das zweite Boot vom Ufer abstößt.
Die Strömung hebt sie und trägt sie jetzt zügig fort.
Unter seinen Füßen spürt Aryan ihre Kraft wie etwas
Gewaltiges und Lebendiges, das sich unter dem Boden
des Schlauchboots hochdrückt. Schon jetzt läuft es voll
Wasser, und Luft entweicht. Bald zieht der Mann den
Stab hoch; er kann den Grund nicht mehr erreichen
und steht hilflos da, während sie ruderlos flussabwärts
treiben. Der Landungsplatz gleitet vorüber, sie drohen
über ihr Ziel hinauszuschießen. Mit angsterfülltem Blick
verfolgen die Männer, wie der Bootsmann versucht, sein
Gleichgewicht zu wahren, wie er um Halt ringt, wie
die Strömung nach seinem Stab schnappt. Endlich trifft
er auf Widerstand, und mit einem einzigen mächtigen
Stoß schiebt er sie in Richtung der flachen Stellen. Die
Böschung wirft einen schwarzen Schatten übers Wasser,
als sie auf einem steinigen Strandabschnitt auf Grund
laufen, ein gutes Stück weiter als der Baum, auf den der
Junge gedeutet hatte.
Das andere Boot müht sich, legt weiter oberhalb an.
Klatschend springen die Männer in oberschenkeltiefe
Strudel, fluchen, rutschen aus und greifen nach überhängenden
Ästen, um das Boot an Land zu ziehen.
Aryan sieht, wie der letzte Mann das Boot hochhebt
und mit dem Messer aufschlitzt. Doch es ist glitschig,
voller Wasser und gleitet ihm aus den Händen wie ein
Aal, und die Strömung trägt es davon.
„Ich fänd’s großartig, wenn die Wachen gerade beim
Angeln wären und plötzlich die Riesenqualle da am
Haken hätten“, sagt Hamid.
Auch sie stechen auf ihr Schlauchboot ein. Das
Gummi zischt, die Luft entweicht; es sackt zu einer schlaffen
schwarzen Haut zusammen. Sie schaffen es immer
noch nicht, das Boot zu versenken, also schicken sie es
dem anderen hinterher, hinaus in den reißenden Strom.
Sie kämpfen sich durchs Unterholz, bahnen sich einen
Weg ein paar Meter flussaufwärts und beginnen
durch die feuchte Nacht zu klettern. Aryans Haare kleben
an seiner Stirn. Farnkraut zerkratzt ihm die Hände,
und das Wasser rinnt ihm in den Nacken. Tiefhängende
Zweige reißen Löcher in seinen Anorak, verheddern
sich in der Kleidung des Mannes vor ihm und peitschen
ihm ins Gesicht. Er hört Kabir schnaufen, er versucht
langsamer zu gehen und sich dem Tempo seines Bruders
anzupassen, damit ihn die Angst nicht zu schnell hinauftreibt.
Einmal stolpert Hamid und flucht. Hinter ihnen
knurrt jemand, er soll leise sein.
Es gibt keinen Weg, doch Aryan versucht, seine Nerven
zu beruhigen, indem er an all diejenigen denkt, die
vor ihnen hier entlanggegangen sind, er stellt sich vor,
ihre Fußabdrücke im Lehm zu erkennen.
Oben auf der Autobahn brausen die LKWs vorbei
und schleudern Splitt in die Luft. Schattenhafte Zweige
greifen nach den wandernden Lichtkegeln. Er betet, dass
an diesem Abend keine Grenzpolizisten die Straße patrouillieren.
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