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Im Griff

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Im Griff — Inhalt

„Unglaublich fesselnd! Der Roman ist definitiv nicht tot, Gott sei Dank.“ Nederlands Dagblad

Zwei Männer sitzen in einem Zug, Vincent und Paul, introvertiert, verträumt der eine, nach Nähe suchend; zynisch, scheinbar ein Siegertyp der andere. Sie fahren einem Wiedersehen entgegen, einer Wiederbegegnung mit Lotte und Martin, mit denen sie zwanzig Jahre zuvor einen dramatischen Kletterurlaub auf den Lofoten verbrachten. Ein Ereignis dort, nördlich des Polarkreises hat ihr Leben für immer geprägt. Doch die Sicht auf die Vergangenheit ändert sich nun, in Erwartung des Treffens, unerwartet für jeden einzelnen von ihnen. „Im Griff“ handelt von Freundschaft, von Liebe, von Zusammenhalt und Vergänglichkeit. Von der Frage, ob man das Leben führt, das man sich vorgestellt hat. Ob die Entscheidungen, die man getroffen hat, auch wirklich die eigenen waren. Ein Roman im Rhythmus einer Zugreise, meisterhaft komponiert, eine Erzählung, die man mit angehaltenem Atem liest.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 12.03.2013
Übersetzt von: Christiane Kuby
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7566-6
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Leseprobe zu „Im Griff“

1
Da war er ja. Paul van Woerden stand mit offener
Brieftasche an der Theke, blickte zufällig an der Verkäuferin
vorbei und sah ihn draußen vorbeigehen. Ja, das war er,
Irrtum ausgeschlossen: Vincent Voogd, der behendeste
aller Bergsteiger, auch nach zwanzig Jahren auf Anhieb
wiederzuerkennen. Dieselbe mürrische Miene, dieselben
ausgefransten Koteletten. Er trug ein modisches Fischgratsakko,
zog einen kleinen Rollkoffer wie ein widerspenstiges
Hündchen hinter sich her und hielt eine Zeitung
in Augenhöhe. Er war so sehr in seine Lektüre
vertieft, dass er jemanden [...]

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1
Da war er ja. Paul van Woerden stand mit offener
Brieftasche an der Theke, blickte zufällig an der Verkäuferin
vorbei und sah ihn draußen vorbeigehen. Ja, das war er,
Irrtum ausgeschlossen: Vincent Voogd, der behendeste
aller Bergsteiger, auch nach zwanzig Jahren auf Anhieb
wiederzuerkennen. Dieselbe mürrische Miene, dieselben
ausgefransten Koteletten. Er trug ein modisches Fischgratsakko,
zog einen kleinen Rollkoffer wie ein widerspenstiges
Hündchen hinter sich her und hielt eine Zeitung
in Augenhöhe. Er war so sehr in seine Lektüre
vertieft, dass er jemanden anrempelte, der sich, wie hätte
es anders sein können, bei ihm entschuldigte – anstatt
andersherum.
Die Verkäuferin wickelte Silberpapier um Pauls Anschaffung,
schnürte noch ein glänzendes Band darum.
Paul bedankte sich mit einem Lächeln, das sie aber nur
mit einem kirschroten Strich ihres Mundes quittierte. Er
nahm seinen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter
und betrat die Bahnhofshalle.
Er konnte Vincent nicht gleich entdecken; in Bruxelles-
Midi herrschte auf einmal doppelt so viel Betrieb wie
noch vor ein paar Minuten. Alles war in Bewegung, ein
Dutzend Sprachen schwirrten durch den Raum, eine
Horde Schüler umlagerte einen Stand mit verführerisch
duftenden Waffeln. Etwas weiter, in der niedrigen Halle,
in die er gleich hineinmusste, bildete sich bereits eine
Schlange vor dem Abfertigungsschalter – dort stand Vincent
aber noch nicht. Paul ging zu einer freien Stelle
neben einem Kiosk und stellte den Rucksack ab. Das
eigelb-eiweißfarbene Eurostar-Logo leuchtete dezent, an
der Längsseite des unterirdischen Bahnhofs glitzerten
Delikatessenläden, eine Wein- und Spirituosenhandlung,
eine Kaffeebar, eine Parfümerie und verschiedene andere
kleine Läden, und er hatte ganz kurz die Vision einer verzauberten
Grotte voller erwartungsfroher Gesichter – alle
Reisenden ließen ihr Hab und Gut zurück und machten
sich bereit für die Fahrt ins Innere der Erde.
Achtung, Taschendiebe, schallte es durch die Halle.
Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt, s’il vous
plaît. Paul trommelte mit den Fingern auf dem Geschenk
herum. Tief sog er die Luft ein (herrlich, diese Waffeln!),
reckte sich, um über die Köpfe hinwegzusehen, und wurde
sich mit einemmal seiner Hochstimmung bewusst, eines
Glücksgefühls, das in ihm aufstieg. Er musste über sich
selbst lachen – so wenig veränderte man sich im Grunde
also! Ein flüchtiger Blick, ein Widerhaken der Erinnerung,
und schon war er wieder in Vincents Bann. Aber sie
alle hatten sich damals von Vincent betören lassen – von
seinem Schneid und der eigentümlichen Leichtigkeit, mit
der er alles relativierte, inklusive sich selbst; denn Vincent
wusste sehr genau, dass er ein schamloser Ehrgeizling war,
der gern demonstrierte, wer am geschicktesten kletterte,
am besten Karten las und am schnellsten ein Zelt aufbaute.
Einmal, an einem stahlglatten Stausee im Wallis,
vertrödelten sie eine halbe Stunde, weil Martin einen
Kiesel neun Mal über das Wasser hatte hüpfen lassen und
Vincent erst weiter wollte, wenn er selbst es zehn Mal geschafft hätte; er merkte gar nicht, dass die ganze Gruppe
sich ein wenig lustig über ihn machte. Hinterher fragte
man sich, warum keiner sich geärgert hatte – aber dazu
musste man Vincent kennen, musste seine entwaffnende
Jovialität erlebt haben.
Paul wurde es warm, er zog die Regenjacke aus, legte
sie über den Rucksack. Und, dachte er mit einer Mischung
aus Selbstironie und Verlegenheit, und sah sich
wieder am See stehen (neunzehn oder zwanzig war er,
spindeldürr, Nase und Nacken verbrannt und das Haar
sonnengebleicht) – wie sehnlich hatte er sich gewünscht,
auch so zu sein, Vincents gusseiserne Mentalität zu besitzen,
die Fähigkeit, alles Zaudern wie eine Schlangenhaut
abzustreifen und durch funkelnden Übermut zu ersetzen.
Ach, wie idiotisch kam er sich vor, wenn er daran
dachte, wie er als Student gewesen war! Obwohl er jetzt
erkannte, dass es dazugehörte, zu diesem Alter, das sich
in den eigenen Schwanz biss – dieser krampfhafte Wille,
jedes persönliche Manko zu vertuschen und zu überspielen!
Das jedoch, dachte er, während er sich erneut
umschaute und alle Sprachen durcheinander hörte und
das Aroma der Waffeln einatmete, das änderte sich dann
doch mit den Jahren – man nahm sich nicht mehr alles
so zu Herzen, und es berührte einen weniger, was andere
von einem dachten. Und war es im Nachhinein nicht ein
Wunder, dass man mit so wenig Ahnung keinen größeren
Scherbenhaufen angerichtet hatte? Aber da war Vincent
wieder – da kam er angeschlendert, tippte lässig mit der
Zeitung gegen sein Bein und studierte mit zurückgelegtem
Kopf und kritisch vorgeschobener Unterlippe völlig
belanglose Abfahrtszeiten der Regionalzüge auf einer
Anzeigetafel unter der Hallendecke.
Paul nahm seine Sachen und ging auf ihn zu. „Nun!“,
sagte er – was merkwürdig war, denn so begrüßte er nie
jemanden, obendrein war es ihm lauter herausgerutscht
als beabsichtigt. Und aus heiterem Himmel durchzuckte
ihn die Erinnerung, wie sie sich kennengelernt hatten
und dass Vincent ihn als Erstes gefragt hatte, ob „diese
Kerbe da“ in seinem Kinn erblich sei. Paul klemmte sich
das Päckchen unter den Arm und streckte die Hand aus.
Vincent schien erstaunt, schüttelte sie etwas kraftlos. Jetzt,
da er vor ihm stand (sie waren genau gleich groß), sah
Paul erst richtig, wie sehr Vincent sich gleich geblieben
war. Ja, fast derselbe geblieben, dachte er. Und wie jetzt
alles wieder hochkam – der erste Eindruck der Schroffheit
und Verschlossenheit und später das unwillkürliche
Gefühl, privilegiert zu sein (es war fast schon Dankbarkeit),
wenn Vincent einen wie selbstverständlich in irgendetwas
mit einbezog. Er hatte ein paar Falten um die
Augen herum, seine Züge waren vielleicht etwas markanter
geworden – aber seine Haut hatte eine kerngesunde
Farbe; eine leichte Röte lag auf seinen Wangen. Keine
Spur von grauen Haaren oder auch nur der Ansatz einer
Glatze. Ja, erstaunlich – wie kerzengerade er da wieder
stand, welch reine Willenskraft er ausstrahlte.
„Du wusstest doch, dass ich komme?“, fragte Paul betont
munter.
„Ich wusste nichts“, sagte Vincent. „Na ja – dachte
eher, du nimmst den Flieger.“ Sein Blick fiel auf Pauls
Geschenk.
„Kaffee!“, sagte Paul. „Extraklasse, hat man mir versichert.
Mir ist nichts anderes eingefallen, aber das passt
doch ganz gut, wo Martin sein Versprechen so gern einlöst.“
Vincent nickte, mit dem Anflug eines Grinsens. Denn
natürlich hatte er nicht vergessen, wie Martin jeden Morgen
als Erster den Reißverschluss seines Zeltes öffnete
und mit dienstlichem Eifer alle weckte, den Tag plante
und einen so starken Kaffee kochte, dass sich einem der
Magen zusammenzog.
„Hast du etwas?“
Vincent nickte. Eine Flasche japanischen Whiskey, japanisch
eingepackt. „Und das will was heißen. Scheint
eine richtige Kunst zu sein – obwohl Japaner früher oder
später alles zu Kunst erklären, einschließlich sich selbst.“
Um seinen eigenartig breiten Mund lag noch immer dieser
gewisse Zug, der ihm einen Hauch von Unberechenbarkeit
und Abenteuer verlieh. Zugleich aber hatte sein
Blick etwas Müdes; klar, er war früh aufgestanden, um den
Zug nach Brüssel zu erreichen. Paul kam in den Sinn, dass
Vincent nun schon fünf Jahre an einem meteorologischen
Institut in Tokio arbeitete, er aber immer noch nicht recht
wusste, was er dort eigentlich machte. Der Kontakt war
eine Zeitlang eingeschlafen, erst seit einigen Monaten
mailten sie wieder regelmäßig. In seiner letzten Nachricht
hatte Vincent beiläufig geschrieben, er werde zu Martin
fahren – er wolle seine Eltern in Zeeland besuchen und
sei dann „ohnehin in der Gegend“. Und er hatte sogar den
Zug erwähnt, den er nehmen würde. War das etwa kein
deutlicher Wink gewesen, gemeinsam zu fahren? Das gab
den Ausschlag – denn er hatte gezögert; er war zwar schon
neugierig zu erfahren, wie es den anderen ergangen war,
doch Martins Einladung hatte ihn eigentlich überrascht.
„Nun!“, rutschte es ihm wieder heraus. Er zeigte zum
Abfertigungsschalter und zum Zoll und sagte förmlich:
„Falls Monsieur keine Einwände haben?“
Sie stellten sich hinten an. Der Besuch bei seinen Eltern,
sagte Vincent, als Paul sich danach erkundigte, habe
ein paar Tage zu lange gedauert. Er habe sich hauptsächlich
mit seiner Mutter unterhalten, weil sein Vater taub
werde, und sie habe immer nur wissen wollen, wann er
denn endlich eine Japanerin heirate. Sie hatte nämlich
gelesen, neunzig Prozent der Europäer dort täten das,
unverheiratet zu bleiben sei für sie das schlimmste Unglück,
das einem Menschen widerfahren könne. Paul
lachte, doch es fiel ihm schwer zuzuhören; Vincent war
auf einmal zu lebendig, um sich gleichzeitig tief im Labyrinth
seiner Erinnerungen zu befinden. Es lag an seiner
Stimme, an seiner Art zu reden, freundlich herablassend
und zersetzend, als könne all das, was er über andere sagte,
auch auf einen selbst zutreffen – es kam Paul alles so
unheimlich bekannt vor; wenn einer von ihnen damals
diesen Ton anschlug, wusste man sofort, er ahmte Vincent
nach, und für einen Augenblick, als würde er aus
dem Schlaf hochschrecken, hatte er diesen Vincent auch
tatsächlich vor sich – mitten in seiner Studentenbude, in
der ausgestreckten Hand ein grasgrünes Buch mit dem
Titel Der richtige Umgang mit Kindern, und hörte ihn trocken
sagen: „Glaub mir, bei Mädchen läuft es genauso.“
Und dann seine unverwechselbare Art, sich zu bewegen:
ein wenig steif und hampelig, als wären seine Arme und
Beine im Weg – umso mehr imponierte er als Bergsteiger,
denn er kletterte wie ein Gecko. Er habe (Vincent sprach
über die Schulter, während er mit gespreizten Armen die
Leibesvisitation über sich ergehen ließ) über einen Kollegen
eine neue Wohnung angeboten bekommen, ländlicher,
trotzdem immer noch in der Stadt. Aber, sagte er,
im Grunde könne man sich keine Vorstellung von Tokio
machen, wenn man nicht dort gewesen sei. Der Kontakt
zu Kollegen sei nach wie vor eine bizarre Sache, es sei
ihm nicht gelungen, die lächerliche Hierarchie zu durchbrechen,
und er müsse ehrlicherweise zugeben, dass all
seine Bekannten dort Expats seien. Paul nahm seine Armbanduhr
vom Band, schüttelte das Handgelenk, nachdem
er sie wieder umgetan hatte.
„Ach nee“, sagte Vincent, „ist das immer noch die Uhr
mit dem Sprung?“
Paul nickte mit einem gewissen Stolz. Und auch diese
Art Bemerkung schlug eine vertraute Saite in ihm an, und
jetzt – daran hatte er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gedacht
– fiel ihm wieder ein, dass Vincent die Gewohnheit
hatte, mit der Hand Fliegen aus der Luft zu greifen und
sie so heftig auf eine Tischplatte oder einen flachen Stein
zu werfen, dass sie tot liegen blieben.
Sie gingen am Zug entlang. Paul zählte die Wagen,
hörte Schritte auf dem Pflaster, regelmäßig wie das Ticken
einer Uhr. Wir fahren, wir fahren in die Welt. Er
nahm alles in sich auf – die Menschen, die mit weit aufgesperrten
Augen ihr Ticket studierten oder vergnügt die
Arme ausstreckten und sich das Gepäck hinaufreichen
ließen oder an einer letzten Zigarette saugten. Was für
eine euphorische, elektrisierte Atmosphäre! Was für ein
Tempo, was für eine Energie – und genau das war die
Essenz der großen Bahnhöfe Europas; wie hell erleuchtete
Bienenkörbe aus Stein, so sah er sie vor sich, so verteilten
sie sich in einem Netz stählerner Adern über die
Kontinente; hier entsprang ein Herzschlag, der Leben um
die Welt pumpte. „Man braucht sich übrigens nicht an die
Reservierung zu halten“, fiel ihm ein. „Martin hat es mir
noch gemailt. Ein Trick der Bahn – alle Fahrgäste in die
vordersten vier Wagen, und das Personal kann es ruhig
angehen lassen.“
Vincent schien ihn nicht zu hören; er steckte eine
Hand in die Hosentasche, zog sie wieder heraus und
öffnete sie. Auf seinem Handteller lag ein tropfenförmiger
hellgrauer Kieselstein. Ohne hinzuschauen, rollte
er ihn ein paarmal zwischen den Fingern hin und her
und steckte ihn wieder ein. Im gleichen Moment, eine
Glücksknospe öffnete sich in seiner Brust, durchzuckte
Paul die Erinnerung an andere Male, alle anderen Male,
als sie an einem sonnenüberfluteten Morgen wie diesem,
am Anfang von ein paar herrlichen Wochen, ihr Gepäck
an den Wagen eines wartenden Zuges entlanggeschleppt
hatten.
So also war es, einander wiederzusehen! Launisch,
fragmentarisch wie der Blick in einen zersprungenen
Spiegel – mit scharfen Kanten und blinden Flecken. Und
war Vincent immer so zerstreut gewesen, oder war das
früher wegen seiner Unerschütterlichkeit weniger aufgefallen?
Jetzt hielt es Paul davon ab – ihn auszufragen
und es sich in ihrer alten verschwörerischen Ironie bequem
zu machen. Aber auch Vincent stellte keine Fragen.
Und was, wenn sie sich nichts mehr zu sagen hätten
und jedes Gespräch mit einer alten Anekdote ankurbeln
müssten? – Dann musste es eben so sein. Ja, es musste sein;
denn dieser Tag würde so oder so ein Erfolg.
„Was hast du da übrigens gerade gelesen?“, fragte er.
„Was?“
„Ich hab dich vorhin gesehen – was stand denn Aufregendes
in der Zeitung, dass du fast jemanden umgerannt
hättest?“
Vincent hielt jäh inne. Er sah Paul an, mit nicht ganz
geschlossenem Mund. „Diese Halunken“, und zu Paul:
„Pass du auf !“ Er stellte seinen Koffer ab und lief mit großen
Schritten zum Zoll zurück.
„Lass doch“, rief Paul ihm nach. „Wir haben nur noch
ein paar Minuten. Du kannst nicht einfach den nächsten
nehmen!“
Doch er rief ohne Nachdruck, eher amüsiert. Überraschend
war es nicht, das war Vincent, wie er leibte und
lebte. Das war Vincents Kern oder seine Vorstellung vom
Leben – denn er war fest davon überzeugt, die Dinge
ließen sich beschwören: ob es nun um eine Umsteigezeit
von vier Minuten ging, von der eine internationale Reise
abhing, oder um einen Felsvorsprung, auf den man sich
mit den Zehenspitzen stellte und der das ganze Gewicht
samt Ausrüstung tragen musste. Paul spürte, dass er wenig
geschlafen hatte; ein Gähnen blähte sich wie ein Ballon
in seinem Gaumen auf, er erstickte es in der Faust. Sein
Kopf fühlte sich schwerelos an. Er rieb sich über die glattrasierte
Wange und dachte an Sommer und Gebirge. Was
für ein Geschenk, was für ein Rätsel, wie man ständig alles
parat hatte – sich aber nur selten danach umsah, höchstens
flüchtig, wie man sich ein Foto anschaute, das man
einmal von einem Panorama gemacht hatte; und dass die
Erinnerung unter raschelnden Schichten neuer Ereignisse
voller Menschen und Urlaubsreisen, voller Bücher und
Silvesterfeiern und Umstürze in der Welt begraben wurde
und dass sich jetzt, durch die einfache Tatsache, dass
er Martins Einladung angenommen hatte und in einen
Zug gestiegen war, eine Brise erhob, die die aufgehäufte
Zeit fortblies und ihm zeigte, dass es darunter frisch und
lebendig war wie vor zwanzig Jahren.
Und mitten in einer aus den Lautsprechern schallenden Durchsage in einem lächerlichen Niederländisch kehrte auch die Gespanntheit zurück, die er heute Morgen
plötzlich unter der Dusche verspürt hatte – denn er
hatte etwas vor mit diesem Tag. Noch sieben, acht dahineilende
Stunden, und er würde Lotte nach vierzehn
Jahren wiedersehen. War es wirklich vierzehn Jahre her,
die Hochzeit und das Fest in dem verwinkelten, schlossähnlichen
Haus ihrer Eltern, zu dem alle Bergsteiger gekommen
waren? Am Telefon hatte sie kühl und scharf
geklungen, und genau wie früher hatte sie spöttisch auf
seine Aufgedrehtheit reagiert – er erinnerte sich, dass sie
dann immer etwas mit ihrem Gesicht machte, etwas, was
er noch nie bei jemand anderem gesehen hatte. Sie zog
die Stirn kraus, war es das? Nein – dieses Bild stand ihm
deutlich vor Augen, Lotte vor einer Hütte in den Bergen,
mit einem Becher Tee, den sie mit beiden Händen umklammerte,
sie blies hinein, bis er lauwarm geworden war.
(Sie hatte auffallend lange, aber nicht besonders elegante
Hände.) Er konnte sich ihr Gesicht leicht vergegenwärtigen,
ihr glattes dunkelblondes Haar; ihr offenes Lachen,
bei dem sie ihre ebenmäßigen Zähne zeigte – nein, es
war etwas anderes, vielleicht war er der Einzige, dem es
aufgefallen war. Oder nicht; Martin natürlich auch. Jedenfalls
hatte er sich einmal, als er sie von weitem sah,
überlegt, dass man diese Eigenheit an ihr entweder besonders
mochte oder sie aus demselben Grund sofort unsympathisch
fand. Ihr Kinn – das war es. Sie zog das Kinn
mit einem herrischen Ruck schief, zu sich hin, und kaute
dann auf der Innenseite der Wange herum. Er sah es wieder
vor sich – und nun erschien auch die weniger schöne
Falte über ihrer Nase. Doch damit hatte man sie noch
nicht eingefangen, immer blieb etwas an Lotte, was sich
selbst mit dem feinsten Sinnesorgan nicht erfassen ließ –
etwas hinter einem Satz, den sie nicht zu Ende sprach,
eine unwillige Locke, die sie sich aus dem Gesicht blies.
Da kam Vincent, die zurückeroberte Zeitung zum
Knüppel zusammengerollt.

Stephan Enter

Über Stephan Enter

Biografie

Stephan Enter, geboren 1968, gilt als eine der wichtigsten Stimmen der neuen niederländischen Literatur. Nach „Spiel“ ist „Im Griff“ sein zweiter Roman auf Deutsch, mit dem ihm in den Niederlanden der große Durchbruch gelang und der von der Kritik als „herausragend“ (De Pers), als »literarischer...

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