Die Schule, die wir liebten Die Schule, die wir liebten - eBook-Ausgabe
Roman
— Berührender Roman über die ungewöhnlichste Schule der WeltDie Schule, die wir liebten — Inhalt
Als einst Bahnarbeiter mit ihren Familien quer durch Mexiko zogen, um Schienen zu legen und Bahnhöfe zu bauen, rollten mit ihnen auch fahrbare Klassenzimmer durch die Landschaft: die sogenannten Eisenbahnschulen. An der Grenze zum Nirgendwo, zwischen Obstfeldern und alten Waggons, entdeckt der elfjährige Ikal mit seinen Freunden das Leben, inspiriert von ihrem Lehrer: Don Ernesto hat sein Schicksal mit dem dieser jungen Menschen verknüpft und ist bereit, leidenschaftlich für seine Schützlinge zu kämpfen. Doch Jahrzehnte später soll die Eisenbahnschule geschlossen werden …
Leseprobe zu „Die Schule, die wir liebten“
1
Hugo Valenzuelas verkrampfte Hände warteten auf einen Befehl.
Nur auf einen, einfach und direkt: „Schließungsbeschluss.“
Doch sein Gehirn war nicht in der Lage, ihn zu erteilen.
„Das soll wohl ein Scherz sein!“, hatte er seine Sekretärin angefahren, als sie ihm die grüne Akte übergeben hatte.
„›Öffentliche Schule Artikel 123. Schließungsbeschluss. In Prüfung‹“, las sie etwas nervös vor.
„Es freut mich, festzustellen, dass Sie flüssig lesen können.“ Er verzog den Mund zu einem falschen Lächeln. »Seit wann fallen derartige Dinge in den Zuständigkeitsbereich [...]
1
Hugo Valenzuelas verkrampfte Hände warteten auf einen Befehl.
Nur auf einen, einfach und direkt: „Schließungsbeschluss.“
Doch sein Gehirn war nicht in der Lage, ihn zu erteilen.
„Das soll wohl ein Scherz sein!“, hatte er seine Sekretärin angefahren, als sie ihm die grüne Akte übergeben hatte.
„›Öffentliche Schule Artikel 123. Schließungsbeschluss. In Prüfung‹“, las sie etwas nervös vor.
„Es freut mich, festzustellen, dass Sie flüssig lesen können.“ Er verzog den Mund zu einem falschen Lächeln. „Seit wann fallen derartige Dinge in den Zuständigkeitsbereich eines Chefinspektors der Generaldirektion Bildung und Kultur? Sie arbeiten hier doch nicht erst seit gestern!“
Carolina, die in der Tat nicht erst seit gestern in der Generaldirektion arbeitete, sondern kurz vor ihrer Pensionierung stand, verfluchte ihr Schicksal.
Hugo war ein äußerst strenger und fordernder Chef, ein Workaholic, der sie sogar schon an Sonntagen zu Überstunden gezwungen hatte, jedoch immer respektvoll und höflich mit ihr umgegangen war. Er war hoch qualifiziert, und in der obersten Chefetage hieß es, dass er hart arbeite und eine vielversprechende Zukunft vor ihm liegen würde. Auch sie hatte ihn, obwohl er viel jünger war als sie, immer respektiert und sogar ein bisschen bewundert.
Drohte nun, dass er seine guten Eigenschaften vergaß?
„Die Sekretärin des Generaldirektors hat mir die Akte gegeben. Er möchte, dass unsere Abteilung sich um diese Angelegenheit kümmert“, sagte sie unsicher und fuhr auf den fragenden Blick ihres Chefs hin fort: „Angeblich handelt es sich um einen außergewöhnlichen Fall. Es geht um eine Schule mit nur dreißig Schülerinnen und Schülern. Eigentlich müsste der Lehrer in Pension gehen, aber er weigert sich, um die Schließung der Schule zu verhindern. Nun meint der Generaldirektor, dass es an der Zeit ist, eine endgültige Entscheidung zu treffen.“
Der Chefinspektor winkte ab.
„Na, dann geben Sie die Akte an Martínez oder Pascual. Die kümmern sich üblicherweise um solche Fälle. Muss ich Ihnen das wirklich erklären? Die beiden sollen sich damit befassen und können mich ja worüber auch immer informieren, bevor die endgültige Entscheidung getroffen wird.“
Damit betrachtete Hugo das Gespräch als beendet. Er widmete sich wieder seinen Unterlagen und wartete darauf, dass seine Sekretärin den Raum verließ.
„Martínez ist heute Morgen wegen einer Bauchfellentzündung notoperiert worden, und Pascual hat Urlaub und befindet sich in den Vereinigten Staaten, wenn ich Sie daran erinnern darf. Seine Tochter heiratet und …“, erklärte Carolina, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Hugo schnaubte.
Es sah ganz danach aus, als wäre ihm kurz vor seinem lang ersehnten Frühjahrsurlaub etwas in den Schoß gefallen, das er nicht abgeben konnte. Und das bei all den unbearbeiteten Akten, die sich schon jetzt auf meinem Schreibtisch stapeln!, stöhnte er innerlich.
Er dachte an sein Surfbrett und an die Flugtickets, die ihn bald ins Wellenparadies bringen würden. Er würde in dieser Angelegenheit rasch, praktisch in Überschallgeschwindigkeit, eine Entscheidung treffen. Öffentliche Schule Artikel 123. Was für ein lächerlicher Name! Allein dafür sollte man diese Schule dichtmachen, dachte er grimmig, während er die Akte zu sich heranzog.
Drei Stunden später war sein Büro das einzige in der Generaldirektion, in dem noch Licht brannte.
Vor dem großen Fenster stehend, betrachtete Hugo Valenzuela sein Spiegelbild. Gedankenverloren bemerkte er nicht den Vollmond, der von hoch oben am Himmel vertrauensvoll zu ihm hinabschaute.
Zwanzig Stockwerke unter Hugo schob sich derweil eine Lawine von Autos über die Avenida Central. Das laute Hupen und das Quietschen der Bremsen erinnerten ihn daran, dass Freitag war und die Leute Kopf und Kragen riskierten, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Diesen Drang verspürte er nicht. In den achtzehn Jahren seines Berufslebens hatte er es noch nie eilig gehabt, zurück in seine Wohnung zu kommen, in der lediglich seine Hightech-Musikanlage und seine Bibliothek auf ihn warteten. Um beides beneideten ihn viele seiner Freunde.
Hinter ihm auf dem Mahagoni-Schreibtisch lag wie ein Patient im OP die ausgeweidete Akte der Artikel-123-Schule. Ihr waren Grafiken zur Bevölkerungsentwicklung, Rentabilitätsstudien, einige vom Schuldirektor und den Menschen aus den umliegenden Dörfern unterzeichnete Briefe sowie diverse wilde Zeichnungen augenscheinlich sehr junger Kunstschaffender entnommen worden. Sogar ein paar Schulaufsätze lagen dort, wo sonst Hugos Laptop stand, von denen einige wirklich bewegend waren.
Offenbar dachte niemand außer der Generaldirektion daran, sich mit der Schließung der Schule abzufinden.
Doch keine dieser Unterlagen konnte den Chefinspektor beeindrucken, der es gewohnt war, ungerührt unliebsame Entscheidungen zu treffen. Allein ein wie zufällig hinzugefügtes Foto hatte ihn aufgewühlt, beschäftigte
ihn.
Es war an den Ecken bereits vergilbt und geknickt, doch in der Mitte war deutlich ein alter Eisenbahnwaggon zu erkennen, auf den jemand Malinalli Tenepatl gepinselt hatte. Darunter war in ungeübter Schrift Öffentliche Schule Artikel 123 zu lesen. Aus dem offenen Waggon lächelten ein Erwachsener und eine kleine Gruppe Rotzlümmel unterschiedlichen Alters mit leuchtenden Augen in die Kamera, so als hätten sie die Bedeutung, die dieser Moment in vielen Jahren haben würde, vorausgeahnt. Als hätten sie gewusst, dass sie alle gemeinsam irgendwann die in einem Büro getroffene Entscheidung, die Schule zu schließen, aufhalten könnten, überlegte Hugo überrascht.
Den Gesichtern der Kinder war anzusehen, dass sie ihr Leben bei Sonnenschein, Regen und Wind unter freiem Himmel verbrachten. Einige waren barfuß, andere trugen Kleidung, die durch den häufigen Gebrauch fadenscheinig geworden war, manche versteckten ihre wahrscheinlich frühzeitig gealterten Hände, die Haut rissig von zu viel harter Arbeit, hinter ihren Rücken. Ein hässlicher, zerzauster Hund, der dem Fotografen den Rücken zuwandte, dirigierte den stummen Chor.
Auf die Rückseite des Fotos hatte jemand Campos Verdes, 1971 geschrieben.
Hugo Valenzuela war seit jeher kein großer Zweifler und Haderer. Doch es war eine Sache, Zahlen zu analysieren, und eine andere, in die hoffnungsvollen Gesichter seiner möglichen Opfer zu blicken.
Er verließ sein Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich weiß, dass Sie von mir möglichst schnell eine Entscheidung erwarten, aber …, eröffnete er ein Gespräch mit einem unsichtbaren Vorgesetzten.
„Entscheidung“, murmelte er kopfschüttelnd. Das Einzige, was von ihm erwartet wurde, war, dass er, der unerbittlichste aller Beamten in der Generaldirektion, in einem fundierten, eindeutigen Bericht die Schließung dieser Schule rechtfertigen würde.
Zur selben Zeit, aber Hunderte Kilometer entfernt, sammelte ein alter Lehrer an einem verlassenen Bahnhof die Hefte ein, die seine Schüler auf ihren Bänken liegen gelassen hatten. Zärtlich strich er mit den Fingern über jedes einzelne von ihnen, als handelte es sich um wertvolle Artefakte.
Der schimmernde Mond, dessen silbriger Schein durch die Gitterstäbe des kleinen Waggonfensters fiel, beleuchtete seine vorsichtigen Schritte. Doch genau wie Hugo Valenzuela schenkte auch Don Ernesto in der friedvollen, sanften Dunkelheit, die nur von dem Orangenblütenduft seiner Kindheit und dem Lachen der Kinder eines ganzen Lebens erfüllt war, dem Mond keine Beachtung.
2
„Ob er tot ist?“, fragte Chico.
Tuerto und Valeria zuckten mit den Schultern.
„Was glaubst du, Ikal?“, ließ Chico nicht locker.
Der volle Klang seiner Stimme verunsicherte mich mehr als der leblose Körper, der am Rand des Weges lag.
Chico war der Älteste von uns.
Er war vierzehn und hatte starke Arme, die die Arbeit auf dem Feld gewohnt waren. Er rauchte und trank hin und wieder Alkohol. Das und sein aufbrausender Charakter hatten ihn ohne jede Diskussion zum Chef unserer Gruppe gemacht.
Ich hingegen war ohne jede Diskussion das Küken. Mit meinen elf Jahren, meinen dürren Beinen und meiner Kinderstimme, die alles andere als männlich klang. Ich hatte noch nie geraucht und war sicher, dass ich, sollte ich es je tun, daran sterben würde. Nicht am Nikotin oder am Teer, sondern durch den Besen meiner Mutter oder den Gürtel meines Vaters. Das machte mich zu einer Art Maskottchen der Gruppe oder auch nur zum Floh des Maskottchens.
Warum also wollte Chico meine Meinung wissen?
Plötzlich waren drei Augenpaare auf mich gerichtet.
War das ein Test?
Ich spürte, dass etwas auf dem Spiel stand, wenn ich auch nicht wusste, was. Aber es musste etwas Wichtiges sein.
Ich durfte sie nicht enttäuschen. Ich durfte mich selbst nicht enttäuschen.
Also biss ich die Zähne zusammen und trat auf den Mann zu.
Ich begutachtete ihn wie einen meiner Würmer, die ich in einem Karton aufbewahrte. Er war genauso grau wie sie. Seine Augen waren offen, sein Blick auf irgendeinen entfernten Planeten gerichtet.
Chico und Tuerto hatten ihn angespuckt, ihn beschimpft. Und er hatte sich nicht gerührt. Entweder schlief er ausgesprochen tief, oder er war tatsächlich tot, bei all dem, was wir mit ihm angestellt hatten.
Neben ihm lag ein Stock.
Ich hob ihn auf und berührte damit vorsichtig den leblosen Körper.
Er rührte sich nicht, was mir Mut machte, mit mehr Kraft zuzustoßen.
Und dann passierte es.
Aus dem Gestrüpp am Wegrand sprang ein kleiner wütend bellender Hund.
Langsam, aber entschieden näherte er sich.
Chico, Valeria und Tuerto rannten los.
Der Hund und ich starrten uns über den Toten hinweg an.
Ich war nicht imstande, mich zu bewegen. Meine Beine gehorchten mir nicht.
Da waren wir: ich, ein elfjähriger Junge, der sich an einen Stock klammerte, und ein schmutziger, aufgebrachter Straßenköter, und wir beide wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Den drei Freunden hinterherrennen? Mich angreifen? Den Stock wegwerfen? Weiter bellen? Schreien? Wieder im Gestrüpp verschwinden?
Die Zeit stand still.
Plötzlich tat der Hund etwas, das ich nicht erwartet hatte, etwas eigentlich Bedeutungsloses, das unsere Schicksale jedoch für immer miteinander verband.
Er senkte den Kopf.
Er blickte auf den nach Alkohol stinkenden Körper in der mit Erbrochenem beschmutzten Kleidung, der nur noch einen Schuh anhatte.
Dann stieß er ein derart schmerzerfülltes Jaulen aus, dass mir Tränen in die Augen schossen.
Der Stock glitt mir aus den Händen.
Sogar ich, der Floh des Maskottchens, konnte diesen tiefen Schmerz nachfühlen.
Der Hund leckte seinem Herrchen über das Gesicht.
Ohne dass er sich dagegen wehrte, sank ich neben ihm auf die Knie. Für einen Moment schaute er mich an, und auch wenn es mir nachher keiner geglaubt hat, bin ich mir sicher, dass er mir traurig zugelächelt hat, als er sah, wie ich mit ihm weinte.
So verblieben wir, einer neben dem anderen, und betrachteten den Toten in dem Bewusstsein, dass dieser Moment und dieser Weg die Grenze zwischen einem Vorher und einem Nachher markierten.
Nichts würde je wieder so sein, wie es gewesen war.
Er war ohne seinen Vagabunden und sein bisheriges Leben auf der Straße zurückgeblieben. Und ich, der einzige Sohn eines Eisenbahnarbeiters, hatte meinen ersten Toten gesehen und war wegen einer bestandenen Mutprobe in eine Bande aufgenommen worden.
Doch vor allen anderen wichtigen Dingen, die an jenem Tag und an den folgenden Tagen geschahen, hatten ich, Ikal, und er, der später auf den Namen Quetzal hören würde, den besten Freund gefunden, den wir jemals haben würden.
Wir hatten uns gefunden.
3
„Er kann bei uns in der Schule bleiben“, meinte Don Ernesto.
Mein Vater sah ihn ungläubig an.
Die Lösung konnte doch nicht so einfach sein.
Wir diskutierten schon eine Stunde, was für meinen Vater, den schweigsamen Indio, eine Ewigkeit war.
„Und keine Sorge, Tomás, ich werde für ihn kein Schulgeld nehmen“, sagte mein Lehrer lächelnd. „Der Hund kann an der Tür des Waggons schlafen und Diebe verjagen. Und wenn es kalt wird“, fügte Don Ernesto mit einem Blick auf mich hinzu, „lass ich ihn rein und er kann sich unter eines der Pulte legen. Am Unterricht kann er nicht teilnehmen. Ich weiß, dass er intelligenter und lernwilliger ist als jeder meiner Schüler, aber ich glaube nicht, dass die Schulaufsicht besonders begeistert darüber wäre …“
Meine Mutter lächelte dankbar. Sie hatte schon vor einer Weile den Reis auf den Tisch gestellt, der wegen des angeregten Gesprächs nun kalt und klumpig auf den Tellern lag. Ich sah, dass mein Vater nickte, was bedeutete, dass er mit der Abmachung einverstanden war. Wir konnten essen.
„Aber hör mir gut zu, junger Mann, du bist dafür verantwortlich, dass er genug zu fressen bekommt und dass er sauber ist und keine Flöhe anschleppt“, wandte Don Ernesto sich an mich, während er dem Hund ein Zeichen machte, ihm zu folgen. „Quetzal gehört jetzt zur Malinalli-Tenepatl-Schule, und du weißt ja, dass ich sehr streng bin, was das Einhalten der Regeln betrifft.“
Quetzal wedelte mit dem Schwanz und sah fragend zwischen mir und Don Ernesto hin und her. Ich nickte, und, ohne zu zögern, folgte er meinem Lehrer.
Mein Hund war sehr schlau: Er erkannte allein am Geruch, ob er einem Menschen vertrauen konnte oder nicht.
Don Ernesto roch das ganze Jahr über nach Orangenblüten, weil er, wie er sagte, in einem Haus mit einem Garten voller Orangenbäume aufgewachsen war. Ich habe Orangen schon immer geliebt, aber das ist nicht der Grund, warum ich meinen Lehrer so gern mochte.
Ich glaube, es lag daran, dass er immer Zeit für uns hatte.
Unsere Väter arbeiteten sehr viel, sodass sie nur selten Zeit für uns hatten. Mein Vater und der von Tuerto verlegten Eisenbahngleise. Und in Chicos Familie waren alle Männer Saisonarbeiter, von seinem kleinen Bruder bis zu seinem Großvater. Sie ernteten Äpfel, Baumwolle oder was es sonst noch gab. Die Landeigentümer wechselten, die Arbeit blieb gleich. Aber mein Freund hatte mir versichert, dass ihm am Ende der Saison auch die Grundbesitzer alle gleich vorkamen: dick, mit roten Gesichtern und Cowboystiefeln mit Metallspitze. Das wusste er, weil er schon mal welche anprobiert hatte.
Auch Valerias Familie lebte von der Landarbeit, nur dass die Felder, die sie bewirtschafteten, ihnen selbst gehörten. Das war ein großer Unterschied. „Du schuftest ja auch für etwas, was euch gehört“, hielt Chico ihr jedes Mal vor, wenn sie begeistert erklärte, wie gern sie Mais säte oder ihrer Großmutter half, die Früchte für den Verkauf auf dem Markt zu ernten.
Jedenfalls war das der Grund, warum wir uns, wenn wir ein Problem hatten oder nicht weiterwussten, als Erstes an Don Ernesto wandten. Wie an dem Tag, an dem Chico, Tuerto, Valeria und ich den Toten gefunden hatten. Damals war er es, der zu dem Wegrand ging und die Polizei und den Gerichtsmediziner benachrichtigte. Er war es auch, der uns erklärte, dass der Mann ein Vagabund gewesen war, wir uns aber keine Sorgen machen müssten, weil der Priester ihn auf jeden Fall beerdigen würde. Unser Lehrer betete mit uns für den Toten und half uns dann mit sanfter Unterstützung, die Angelegenheit zu vergessen. Aber vor allem anderen war er es, der mir erlaubte, Quetzal zu behalten, weil er begriffen hatte, dass das Schicksal eine Verbindung zwischen unseren beiden Herzen geknüpft hatte.
Don Ernesto war der einzige Erwachsene, den ich kannte, der in der Lage war, solche Dinge zu spüren.
Genauso, wie er an jenem Abend gespürt hatte, dass ich keine ruhige Nacht mehr verbringen würde, wenn Quetzal nicht an einem sicheren Ort schlafen konnte.
Lächelnd sah ich meinem Lehrer und meinem Hund nach, bis die beiden zwischen den Schatten der herbstlichen Bäume in der Dunkelheit verschwanden.
Ich seufzte im Einklang mit meinem kleinen, besonderen Universum: eine Reihe alter Eisenbahnwaggons, die in den unterschiedlichsten Farben angestrichen waren und in denen mehr als hundert Bahnarbeiter mit ihren Familien lebten. Wir waren Nomaden: Unser Leben spielte sich an ständig wechselnden Orten des Landes ab, immer da, wo Gleise repariert, Bahnhöfe gebaut oder Hochspannungsleitungen gespannt wurden. In unserer fahrbaren Stadt legten wir unzählige Kilometer zurück. Ingenieure, Elektriker, Schmiede, Lokomotivführer und Hilfsarbeiter reisten im Dienst der Eisenbahn von einem Ort zum nächsten.
Wenn wie in jenem Jahr das Glück auf unserer Seite war, blieben wir für mehrere Monate an einem Gleisabschnitt. Was die Frauen nutzten, um ihr Heim umzugestalten: Sie strichen die Wände neu, hängten Gardinen auf oder pflanzten Blumen vor der Tür. Wir Kinder erkundeten die Straßen des nächstgelegenen Dorfes, knüpften Freundschaften und suchten uns einen Platz zum Fußballspielen. Einige der jungen Bahnarbeiter, erklärte mein Vater einmal lachend, seien wie Seeleute: Wenn sich unser Zug nach einigen Monaten wieder in Bewegung setzte, ließen sie an jedem Bahnhof eine Liebste zurück.
Ein Schauder lief mir über den Rücken.
Würde ich Quetzal zurücklassen müssen, wenn wir weiterzogen? „Ich schwöre, dass ich mit ihm zusammen weglaufe, wenn man uns zwingt, uns zu trennen“, versprach ich einer Sternschnuppe, die in diesem Moment wie eine plötzliche und tiefe Gewissheit meine Nacht erhellte.
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