Aufbruch der Störche Aufbruch der Störche - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein historischer Frauenroman im Schatten des Ersten WeltkriegsAufbruch der Störche — Inhalt
Aufbruch der Störche | Einfühlsames Roman-Porträt einer willensstarken Frau
Corinna Vossius erzählt sensibel und bewegend von einem Frauenschicksal im Ersten Weltkrieg.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Die willensstarke Erika träumt nicht vom Heiraten, sondern von einem Beruf und kämpft gegen die Konventionen der Zeit.
Erika wächst auf einem Gutshof bei Danzig auf und träumt von einem eigenen Beruf, obwohl ihre Mutter sie am liebsten schnell unter die Haube bringen würde. Als sie sich mit Axel verlobt, sind die Familien beruhigt. Dabei haben die beiden zunächst nur einen heimlichen Pakt geschlossen, um Zeit zu gewinnen. So kann Axel in Ruhe Medizin studieren, und Erika darf nach Dresden an die Kunstgewerbeschule. Doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, zerschlagen sich alle Pläne. Und während Axel sich an der Front seiner Gefühle für Erika immer sicherer wird, verliebt diese sich in einen anderen Mann …
Wer Katharina Fuchs' „Zwei Handvoll Leben“ und Carmen Korns „Töchter einer neuen Zeit“ mochte, wird Corinna Vossius wunderschönen Freundschaftsroman lieben.
Corinna Vossius ließ sich für ihren Roman von ihrer Großmutter inspirieren:
„Als ich noch ein Kind war, lebten wir mit meiner Großmutter Erika im gleichen Haus. Sie erzählte mir aus ihrer Kindheit und von der Zeit während des Ersten Weltkriegs, als sie in einem Lazarett arbeitete. Manchmal las sie mir auch aus ihren Erinnerungen vor. Es waren glückliche Jahre für sie, nach denen sie sich ein Leben lang zurücksehnte. Meine Großmutter ist bereits seit einem halben Jahrhundert tot, aber in vielerlei Hinsicht haben wir dieses Buch gemeinsam geschrieben.“
Das perfekte Geschenk für die beste Freundin, einfühlsame Unterhaltung, ein spannender historischer Roman.
Corinna Vossius, Jahrgang 1963, ist ausgebildete Physiotherapeutin und Ärztin. Seit 1999 lebt sie mit ihrer Familie in Norwegen und arbeitet dort als Ärztin. In Norwegen hat sie auch mit dem Schreiben begonnen. Dies ist ihr fünfter Roman.
Leseprobe zu „Aufbruch der Störche“
1
Josephsdorf 1905
Das ist meine schönste Erinnerung: der Aufbruch der Störche in meinem letzten Josephsdorfer Sommer, August 1905. Vor ihrem Abflug versammelten die Störche sich in diesem Jahr auf unserem Scheunendach. Damals besaß das Gebäude noch ein Reetdach, eines der letzten, und auf dem saßen an die fünfzig Störche. Als alle eingetroffen waren, wurde das Signal zum Probeflug gegeben. Der Reihe nach flog jeder eine Schleife und kehrte an seinen Platz zurück. Wer es nicht abwarten konnte und außer der Reihe flog, wurde mit hörbarer Entrüstung [...]
1
Josephsdorf 1905
Das ist meine schönste Erinnerung: der Aufbruch der Störche in meinem letzten Josephsdorfer Sommer, August 1905. Vor ihrem Abflug versammelten die Störche sich in diesem Jahr auf unserem Scheunendach. Damals besaß das Gebäude noch ein Reetdach, eines der letzten, und auf dem saßen an die fünfzig Störche. Als alle eingetroffen waren, wurde das Signal zum Probeflug gegeben. Der Reihe nach flog jeder eine Schleife und kehrte an seinen Platz zurück. Wer es nicht abwarten konnte und außer der Reihe flog, wurde mit hörbarer Entrüstung zurückgeklappert. Eine kurze, laute Besprechung machte den Abschluss, alle flogen zu ihren Nestern zurück. Zwei Tage später waren sie fort. Nach Süden geflogen.
Im Oktober brachen auch wir auf, mein Vater, meine Mutter und ich. Drei kümmerliche Plehns. Der Rest. Garzinski brachte uns mit der Kutsche zum Bahnhof. Ein letztes Mal die von Linden gesäumte Auffahrt entlang, dann vorbei an den hohen Pappeln, die um diese Zeit bereits kahl waren, die kleine Schonung ließen wir rechts und die große Schonung links liegen. Beim Vorwerk Dembie bogen wir auf die Chaussee. Meine Eltern blickten sich kein einziges Mal um, doch ich verdrehte mir den Hals nach dem kleinen Hof, bis er hinter ein paar Kiefern verschwand.
„Du kommst doch wieder, Erika“, sagte Garzinski.
Aber was wusste unser alter Kutscher schon von Abschied.
2
Josephsdorf, Mai 1907
Zu Herberts Hochzeit kam ich tatsächlich zurück. Leider nur zu Besuch und nur für ein paar Tage.
Nachdem mein Vater das Gut abgegeben hatte, waren meine Eltern mit mir nach Wernigerode im Harz gezogen. „Wenn schon umziehen, dann richtig“, hatte er gesagt, „und in Wernigerode habe ich immerhin meine Schwester.“ Allerdings – wenn man Tante Rose kannte, war das ein schwacher Grund für einen Umzug.
Der neue Gutsherr auf Josephsdorf wurde mein großer Bruder Herbert. Eine Gutsherrin hatte es die ersten beiden Jahre nicht gegeben, doch jetzt heiratete Herbert ja endlich. Seine Braut war eine Magda Vossius aus Gießen. Man konnte nur hoffen, dass diese Magda warm würde mit ihrer neuen Heimat. Buchstäblich, denn Josephsdorf lag im Weichselland, hundertfünfzig Kilometer südlich von Danzig. Bei uns fegten von Dezember bis März Schnee und Eis über die leeren Felder, und wenn dann endlich der Frühling kam – „viel zu spät dieses Jahr“, pflegte meine Mutter zu sagen, „Wie kann ein Frühling nur so spät kommen?“ –, versanken die Wege im aufgeweichten Lehm.
Doch Herbert heiratete im Mai, und als wir aus dem Zug stiegen, schien die Sonne von einem vergissmeinnichtblauen Himmel.
„Der Herr und die gnädige Frau!“, rief Garzinski froh, als er uns von der Bahn abholte, und half meiner Mutter in den Kutschwagen. Bei mir sagte er nichts, denn das vertrauliche Erika passte nicht mehr für eine Fünfzehnjährige, aber gnädiges Fräulein für ein Kind, dem er das Reiten beigebracht hatte, noch bevor es richtig sprechen konnte, das brachte Garzinski dann doch nicht über die Lippen. Stumm sah er mir zu, wie ich versuchte, auf den Bock zu klettern, aber mit dem ungewohnt langen Rock nicht zurechtkam, auf den Mutter für die Reise bestanden hatte. Schließlich half er mit einem Schubs gegen mein Hinterteil nach, ehe er grinsend neben mir aufstieg und die Zügel nahm.
Das Land hier bestand hauptsächlich aus Korn- und Rübenfeldern und wenig Wald. Es war flach, schon von kleinsten Erhebungen aus konnte man weit sehen, und es wehte fast immer ein frischer Wind. Als mein Vater Josephsdorf kaufte, ließ er jeden Grabenrand und die kleinen Wiesenstücke am Ufer der zahllosen im Feld verstreuten Teiche mit Bäumen bepflanzen, die einen guten Windschutz abgaben. Von der Chaussee aus erkannte man das Gut schon von Weitem an dem vielen Grün. Jetzt im Mai schlugen die Birken aus und leuchteten in der schrägen Nachmittagssonne giftgrün. Garzinski bog in den Dembier Weg ein. Wir holperten an der großen Schonung vorbei. Dahinter lag unser Badesee, zu dem wir im Sommer mit dem Ponywagen fuhren. Und auf einer Kuppe am Westrand der Schonung stand der Bismarckturm, auf dem mein Vater jedes Jahr am Sedantag ein Feuer entzündete, um an unseren glorreichen Sieg von 1870/71 zu erinnern.
Damals entzündet hatte.
Alles ist damals, wenn man nur auf Besuch kommt.
„Lebt Schimmelchen noch?“, fragte ich den Kutscher.
Garzinski schüttelte traurig den Kopf. „Vorletzten Winter gestorben. Sie war doch schon so alt.“
„Ach!“ Dass es die eigensinnige kleine Stute nicht mehr gab, konnte ich mir kaum vorstellen. „Und Max?“, fragte ich ängstlich.
„Dein Pony gibt es noch, keine Sorge. Der wird sich freuen, dich zu sehen. Die erste Zeit, als du weg warst, hat er richtig getrauert. Immer gewartet, ob du nicht kommst. Ich hatte meine liebe Not mit ihm.“
Zweifelnd schaute ich an meinem langen Rock hinunter. Garzinski folgte meinem Blick und schnalzte mitleidig mit der Zunge. „Reiten kannst du so nicht. Du würdest ja ganz schmutzig. Aber wenn du den Max vor den Federwagen spannst, kannst du mit ihm ausfahren. Sogar Gäste kannst du dann mitnehmen.“
Ich zog ein Gesicht. Fahren war nicht das Gleiche wie Reiten, und schon gar nicht, wenn man Besuch dabeihatte, der wahrscheinlich dummes Zeug redete. Garzinski hob die Hand, als wollte er mir begütigend aufs Knie klopfen, und ließ es im letzten Moment doch sein. „Ein richtiges Fräulein bist du geworden. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt, so erwachsen.“
„Nächstes Frühjahr wird sie konfirmiert!“, rief Vater von hinten.
In diesem Augenblick bogen wir in die Lindenallee ein, die das letzte Stück Wegs säumte, und dann waren wir da.
Herbert erwartete uns vor der Haustür. Er war zwölf Jahre älter als ich, also siebenundzwanzig, ein stattlicher Mann mit breiten Schultern, und einen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart hatte er sich auch wachsen lassen. Herbert konnte nichts aus der Ruhe bringen. Nicht, wenn die polnischen Landarbeiter ihm frech kamen, und auch nicht, wenn ein Sommergewitter kurz vor der Ernte das Korn zerdrückte. Bei dem großen Feuer im Winter 1902 sorgte mein Bruder dafür, dass sämtliche Tiere gerettet wurden. Eigenhändig hatte er die letzten Pferde, die in ihrer Panik nicht wussten, wohin, aus dem brennenden Stall geholt. Doch die bevorstehende Hochzeit machte ihn offenbar nervös, denn er zwirbelte unbeholfen seinen albernen Bart, während Garzinski Mutter aus der Kutsche half und dann, etwas verlegen, auch Vater, der seit Neuestem einen Stock brauchte. Herbert drückte uns steif die Hand, ehe er sich auf das Gepäck stürzte – nur um es einen Moment später wieder abzustellen, denn in der Tür waren in diesem Augenblick Herr und Frau Professor Vossius erschienen, zusammen mit ihrer Tochter Magda, meiner zukünftigen Schwägerin. Man stellte vor: Dr. Vossius, Professor der Augenheilkunde, mit Gemahlin – Herr und Frau Plehn. Wie schön, sich endlich kennenzulernen.
Die Trauung fand zwei Tage später statt. Es war deutlich zu merken, dass sich die Brautmutter etwas Großartigeres gewünscht hätte als eine Hochzeit in unserer schlichten kleinen Dorfkirche. Auch die halbe Stunde Fahrt dorthin hielt sie offensichtlich für eine Zumutung. Geschlossene Kutschen gab es bei uns auf dem Land nicht, die waren für die Pferde zu schwer zu ziehen, vor allem, wenn der Wind von der Seite kam. Die zukünftige Schwiegermutter hielt mit verbissener Miene ihren Hut fest, der so riesig war, dass man ihn als Storchennest auf die nächste Scheune hätte setzen können. Dabei sollte sie doch wissen, wie es bei uns zuging, oder? Sie war eine geborene von Fournier, und Gut Jagowshöhe, der Stammsitz der von Fourniers, lag gar nicht weit entfernt. Andererseits war es natürlich ein Unterschied, ob man eine von Fournier war oder nur ein einfacher Plehn. Mein Vater früher und nun mein Bruder ritten jeden Tag hinaus auf die Felder, um die Arbeit zu überwachen und nach dem Rechten zu sehen. Auf Rittergut Jagowshöhe hatte man für so etwas wahrscheinlich einen Verwalter, da brauchte man sich nicht selbst aus dem Haus zu bewegen, wenn das Wetter mal nicht so war.
Frau Professor Vossius, geborene von Fournier, ließ uns ihre schlechte Laune merken, als wir nach der Kirche zu Tisch saßen. Missbilligend wanderte ihr Blick über das Geschirr mit dem schmalen Goldrand, und sie fingerte an dem Silberbesteck herum, das zwar alles Augsburger Faden war, aber nicht jedes Stück trug das gleiche Monogramm. Warum, in Gottes Namen, ließ man die geerbten Stücke nicht umgravieren, schien sie zu denken. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, tauchte sie den Löffel schnell in die Suppe. Da es bei uns im Mai noch kaum frisches Gemüse gab, hatte Herbert extra Spargel aus Berlin kommen lassen. Ein unerhörter Luxus. Doch wie uns die Frau Professor freundlicherweise informierte, gab es in Gießen jede Menge Spargel, bereits seit mehreren Wochen, man wurde ihn fast schon leid.
Herbert saß mit seiner Braut am oberen Ende des Tisches und wirkte fremd und ungewohnt in seinem schwarzen Anzug. Vielleicht fragte er sich auch, worauf er sich da eingelassen hatte. Verstehen konnte ich ihn. Diese Magda sah aus wie ein verwöhntes Treibhauspflänzchen, blass und dünn. Nicht wie jemand, dem es auf dem Land gefallen würde.
Bevor meine Mutter damals aus Bad Ems an der Lahn nach Westpreußen zog, war sie drei Wochen „zur Probe“ auf Josephsdorf gewesen. Meine Großmutter hatte es so verlangt, damit das Mädchen wusste, wozu es Ja sagte. Allerdings kam sie im Sommer, wenn es bei uns so wunderschön ist und der Winter so weit weg, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie eisig es dann wird und wie abgeschieden. Die Leute aus der Stadt sahen anfangs immer nur, dass bei uns alles groß und viel war – große Höfe, viele Pferde, viele Arbeiter, der große Tisch, an dem fast zu jeder Mahlzeit Gäste saßen, denn die Wege waren weit im Weichselland, und öffentliche Gasthöfe gab es kaum. Erst später merkten sie, dass das Leben auf so einem Gut mitnichten großartig war, sondern sich Tag und Nacht nach den Bedürfnissen der Landwirtschaft richtete. Viel Arbeit war es vor allem und viel Verantwortung für all die Menschen, die hier lebten.
Magda war bestimmt immer mal bei ihren Großeltern auf Jagowshöhe zu Besuch gewesen, aber sie machte nicht den Eindruck, als könne sie auch zupacken. Wusste sie, wie viel die Mutter jeden Tag zu tun gehabt hatte, bevor wir fortzogen? Wahrscheinlich nicht. Wie gern hätte ich an ihrer Stelle den Josephsdorfer Haushalt übernommen. Bleiben dürfen, wo man hingehörte, anstatt nach Wernigerode in den Harz zurückzumüssen, wo man vor lauter Fichten den Himmel nicht sah.
Kalbfleisch und Treptower Rübchen in weißer Soße waren gegessen und abgetragen. Nach der Rede des Brautvaters (Unser liebes Kind … vertrauensvolles Miteinander … Fahrt ins Ungewisse auf einem Schiff namens Zeit … ein Hoch auf das Brautpaar und den Kaiser) kam Lena mit dem Nachtisch herein: rote Grütze aus eingemachten Kirschen mit einem Berg frisch geschlagener Sahne dazu.
„Oh, rote Grütze“, kommentierte die Frau Professor. „Was für eine aparte Idee für ein Hochzeitsdessert. Die gelingt immer, da kann man nichts falsch machen, selbst wenn die Köchin mal einen schlechten Tag hat.“ Sie lachte, als hätte sie einen Witz gemacht, und wies die Schüssel dann zurück. „Danke. Ich bin ganz satt.“
Mutter brannten die Wangen. Sie kam selbst aus einem Arzthaushalt. Ganz bestimmt war sie kein dummes Landei. Und sie hatte den Kaiser gesehen, als ihm am 13. Juli 1870 die Emser Depesche überreicht wurde. Den russischen Zaren sowieso, wenn er im Sommer in Bad Ems logierte, denn ihr Elternhaus lag direkt gegenüber seinem Hotel.
„Ihr Kinder könnt aufstehen und in den Garten gehen“, sagte sie ärgerlich und zeigte auf mich und die beiden jüngsten Vossius, Axel und Alfred, kaum dass wir Zeit gehabt hatten, unseren Nachtisch auszulöffeln.
Axel und ich wurden beide rot. Einerseits war es natürlich schön, endlich von Tisch gehen zu können, ich wusste schon nicht mehr, wie ich noch sitzen sollte, aber andererseits mochte man auch nicht mehr als Kind bezeichnet werden, schon gar nicht vor fremden Leuten. Außerdem hatte ich gehofft, ich könnte heimlich in den Stall, wenn ich den Rock hoch genug hob und ihn nicht durch das Stroh schleifte, aber jetzt hatte ich diesen … diesen Jüngling dabei, der offenbar versuchte, sich aus seinem ersten Flaum einen Schnurrbart wachsen zu lassen, und seinen kleinen Bruder noch dazu. Die beiden hatten wahrscheinlich weder für neugeborene Kälbchen noch für meine Freundschaft mit dem Kutscher viel Sinn.
Missmutig ging ich in den Garten, gefolgt von meinen frischgebackenen Schwippschwagern, ebenfalls missmutig. Für den festlichen Anlass hatte der Gärtner alle Wege frisch geharkt, und zwischen den Büschen blühten Veilchen und Sternblumen in Mengen. Doch wie so oft sah das Wetter durch die Fenster schöner aus, als es wirklich war. Es wehte ein kalter Ostwind, und die Sonne verschwand immer wieder hinter eilig ziehenden Wolken. Zum ersten Mal heute war ich froh über meinen hohen Kragen, der, gestärkt und mit Spitzen gesäumt, zwar kratzte, aber wenigstens den Hals warm hielt, denn um noch einmal ins Haus zu gehen und einen Mantel zu holen, war ich zu faul. Außerdem, bemerkte ich mit Genugtuung, fror Axel noch mehr als ich.
Diese Vossius hatten übrigens einen A-Fimmel. Der Vater hieß Adolf und die drei Söhne Anton, Axel und Alfred. Nur Magda hieß Magda, mit M für Mädchen.
Die beiden jüngsten As standen mit mir im Garten herum und kickten gegen Kieselsteine. Was sollten ein Neun- und ein Sechzehnjähriger auch in einem fremden Gemüsegarten anfangen? Früher hatte ich hier mein eigenes Beet gehabt. Jetzt zog der Gärtner Radieschen darin, von denen man die ersten bereits ernten konnte. Kowalsky machte seine Arbeit bestimmt sehr ordentlich, trotzdem wirkte der gesamte Garten etwas verloren und zufällig, so als fehlten ihm die Sorgfalt und Zuwendung, die meine Mutter ihm früher angedeihen ließ, bis sie nach Werners Tod alles Interesse daran verlor. Vier Jahre war das her. Werner wäre heute einundzwanzig gewesen, genau in der Mitte zwischen Herbert und mir.
In der Zwischenzeit hatten die zwei As den Teich entdeckt, zu dem hin der Garten abfiel, und Alfred stocherte mit einem Stecken im flachen Uferwasser herum, um einen der vielen Frösche aufzuspießen, die es dort gab. Seine Schuhe und der untere Rand der Hose waren schon nass.
„Lass das lieber. Du weißt, wie böse Maman wird, wenn du die guten Kleider verdirbst“, warnte Axel.
„Nein!“ Verbissen hieb Alfred in das Schilf, dass das schlammige Wasser aufspritzte und uns alle besprenkelte. „Ich will so einen Frosch haben. Dann kann die Köchin mir cuisses de grenouilles machen. Obwohl die sicher keine Ahnung hat, wie man Froschschenkel brät“, sagte er mit einem boshaften Seitenblick auf mich. „Ihr fresst die Frösche sicher roh.“
„Wenn du dreckig wirst, bekomme ich genauso Ärger, weil ich nicht gut genug auf dich aufgepasst habe. Also lass es!“, befahl Axel.
„Du hast mir gar nichts zu sagen.“ Noch ein Schlag ins Wasser. Mehr Spritzer. Doch dabei verlor Alfred das Gleichgewicht und stand plötzlich mit dem einen Fuß im Uferschlamm, der sich sofort um seinen Schuh festsaugte. „Merde!“ Er zog an einem Fuß und wäre fast ganz hineingefallen. „Los, hilf mir, Axel! Ich komme nicht raus.“
„Warum sollte ich?“
„Nun mach schon! Hilf mir!“
„Hättest halt auf mich hören sollen.“
„Axel!“ Es klang weinerlich. „Ich sag Maman, dass du rauchst!“
„Na und? Ich bin alt genug zum Rauchen.“
„Oh, nun sei nicht so, Axel. Bitte! Sonst sag ich ihr … sag ich ihr …, dass du die Greta geküsst hast.“ Das kam etwas unsicher, als wüsste Alfred, dass er damit sehr weit ging. „Ich hab’s genau gesehen“, fügte er trotzig hinzu.
Axel sah aus, als wollte er seinen kleinen Bruder vollends in den Teich stoßen. Doch dann drehte er sich einfach nur um und spazierte langsam davon, während er bedächtig den Flaum auf seiner Oberlippe streichelte.
„Axel! Bleib hier! Axel! … He, Erika, wo gehst du hin? Du kannst doch nicht auch noch davonlaufen!“
Aber ich hatte nur nach einem dickeren Stock gesucht, den ich Alfred jetzt hinhielt, um ihn mit einem Ruck daran ans Ufer zu ziehen, während ich mich selbst an einem Haselbusch festhielt. Als er endlich auf dem Trockenen war, sahen Schuh und Hose erbärmlich aus. Wir versuchten, beides mit einem Grasbüschel abzuwischen, aber das verschmierte den Dreck nur, nun auch auf mein Kleid, vorher weiß mit hellblauen Blümchen, jetzt weiß mit braunen Streifen auf dem Rock. Vom Haus her kamen Stimmen. Die Tischgesellschaft hatte sich erhoben und wollte nun ebenfalls im Garten spazieren gehen.
„Wo sind denn Alfred und Erika?“, hörte ich meine Mutter.
„Och, die sind wahrscheinlich noch unten am Teich. Dort drüben.“ Das war Axel. Der wollte sicher, dass die versammelten Gäste seinen Bruder im Matsch fanden, allen voran die Frau Mama.
„Dann gehen wir doch am besten alle hinunter.“
Ich sah mich um. Hinter dem Komposthaufen konnte man durch das Holundergebüsch kriechen. Dort lag ein alter Eichenstamm über dem Graben, und dort gab es auch eine Lücke im Zaun, durch die man aufs freie Feld kam. Früher wäre ich dorthin geflüchtet, um Schimpf und Schande, die Mutter auf mich herabregnen lassen würde, noch etwas hinauszuschieben. Doch letztendlich war ein schmutziges Kleid besser als eines, das dazu noch zerrissen war. Sowieso war es zu spät. Mutter und die Frau Professor bogen bereits um die Ecke.
„Wer ist eigentlich Greta“, flüsterte ich Alfred zu, der betreten neben mir stand und auf die Nemesis in Gestalt von Maman wartete.
„Das geht dich gar nichts an.“
3
Josephsdorf, Sommer 1910
Zwischen Herberts Hochzeit und unserem nächsten Besuch in Josephsdorf vergingen drei Jahre. Und diesmal kamen nur noch Mutter und ich, denn mein Vater war im vorletzten Winter gestorben. Mutters einziger Trost war, dass sie kurz darauf Großmutter wurde. Magda bekam endlich ihr erstes Kind, ein kleines Mädchen.
Im ersten Jahr nach Vaters Tod hatte Mutter keine Energie zum Reisen gehabt. Auch jetzt trug sie immer noch Schwarz und hüllte sich in ihre Witwenschaft wie in einen Mantel. Doch nach Ostern wurde sie allmählich unruhig, und kurz vor Pfingsten begann sie, die Koffer zu packen. „Es wird Zeit, dass ich mein Enkelkind kennenlerne“, erklärte sie. „Und außerdem muss ich mit Herbert über dich sprechen, Erika.“
Richtig. Für Mutter war ich in den letzten drei Jahren von einem Schulmädchen zu le problème herangewachsen. Ich war achtzehn Jahre alt, konnte weder singen noch Klavier spielen, und ich ging immer noch mit den großen Schritten, die ich mir auf den weiten Feldern um Josephsdorf angewöhnt hatte. Mir gegenüber war Mutter schon immer kritisch gewesen. In ihren Augen war ich zu dumm – jedenfalls viel dümmer als meine beiden älteren Brüder –, zu ungeschickt, zu undankbar, und mein Haar war eine einzige Katastrophe, kraus und dünn, nie wurde eine anständige Frisur daraus. Früher hatte mein Vater wie ein Puffer zwischen uns gewirkt, schon allein, weil es in den letzten Jahren Mutters vorderster Ehrgeiz gewesen war, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Doch ohne Vater prallten wir ungebremst aufeinander, erst recht, als ich kurz nach seinem Tod mit der Schule fertig wurde. Mehr als zehn Klassen gab es für Mädchen nicht. Mit siebzehn hatte eine junge Frau alles gelernt, was sie brauchte: ein bisschen Rechnen, ein bisschen Französisch, ein bisschen Geschichte, ein bisschen Literatur, ein bisschen Naturkunde – von allem immer nur ein bisschen, wie kleine Appetithäppchen, und ehe der Hauptgang kam, schickte man uns vom Tisch. Viel Glück für die Zukunft.
Zukunft bedeutete Heirat, und zwar so bald wie möglich, zumindest wenn es nach Mutter ging, denn alt genug war ich, und hübscher würde ich auch nicht mehr werden. Und wenn mir das Heiraten nicht gelänge, würde ich eben bei ihr bleiben müssen. Was in Mutters Augen gar nicht mal das Schlechteste war. „Wie gut, eine Tochter zu haben“, sagte sie einmal zu einer Bekannten. „Jungen gehen ihren eigenen Weg. Mädchen haben keinen Willen und kein Schicksal. Sie bleiben bei den Eltern und pflegen sie im Alter.“ Tante Vera lebte schließlich auch noch bei Großmama, und die beiden kamen hervorragend miteinander zurecht.
Ich hingegen wollte mich weder vom erstbesten Kandidaten heiraten lassen, und noch weniger konnte ich mir ein Leben zusammen mit Mutter vorstellen. Mit ihrem ständigen Bekrittele erinnerte sie mich zunehmend an den Dackel von Tante Rose, der unversehens nach unseren Knöcheln schnappte, wenn man zu dicht an ihm vorbeiging. Nur war Tante Roses Dackel alt und fast blind, Mutter hingegen Mitte fünfzig und bei bester Gesundheit. Sie hatte noch viele gute Jahre vor sich. Meine Jahre.
Doch Mutter blieb unerbittlich. Ihre eigene Ehe mit all dem Glück und all der Bitterkeit, die sie mit sich gebracht hatte, war durchlebt. Jetzt war es an mir, einen passenden Mann zu finden, und Mutters Aufgabe war es, mir dabei zu helfen. Zumindest versuchen würde sie es, das war sie mir schuldig, obwohl le matériel, mit dem sie zu arbeiten hatte, mehr als schwierig war. Damit meinte sie einerseits mich und andererseits Wernigerode.
Der Ort wuchs zwar in einem atemberaubenden Tempo, immer mehr Industrie siedelte sich an, Menschen zogen her, überall wurde gebaut, doch das waren einfache Arbeiter oder neureiche, windige Unternehmer. Niemand mit dem nötigen Hintergrund. Wenn man einen Heiratskandidaten suchte, war Wernigerode nicht besser als ein Dorf. Zudem waren wir im Trauerjahr. Bälle waren ausgeschlossen, Abendgesellschaften auch. Höchstens zum Kaffeekränzchen durften wir uns einladen lassen, aber das waren Veranstaltungen, wo man vielleicht seine zukünftige Schwiegermutter kennenlernte, jedoch nicht den dazugehörigen Sohn.
„Wenn du wenigstens mal lächeln würdest“, beschwerte sich meine Mutter.
„Ich würde sogar lachen, wenn es etwas zu lachen gäbe.“
„Eine Dame lacht nicht, sie lächelt. Aber du bist so ernst, dass es peinlich ist, dich mitzunehmen.“
„Mir wäre es auch lieber, wenn ich nicht mitkommen müsste.“
„Und was willst du tun, wenn du nur zu Hause sitzt?“
„Lesen.“
„Lesen ist kein Lebensinhalt, sondern bestenfalls eine Beschäftigung. Es sei denn, du wolltest Lehrerin werden.“ Meine Mutter kräuselte verächtlich die Lippen.
„Und warum nicht?“
„Warum nicht? Das erklärt sich doch wohl von selbst. Willst du etwa Gouvernante werden? Ein besseres Kindermädchen? Und wenn man dich nicht mehr braucht, setzt man dich einfach vor die Tür, und du kannst dir eine neue Familie suchen, die dich haben will?“
„Nicht gerade Erzieherin“, gab ich zu. „Aber an einer Schule würde ich gerne unterrichten.“
Selbst das stimmte nicht ganz. Vor allem würde ich gerne das Seminar besuchen, das mich zur Lehrerin ausbildete. Noch einmal zwei Jahre lang lernen, mit etwas Glück sogar mehr.
„Lehrerin an der Schule! Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst. Ein lebenslanges Fräulein! Es verzichtet doch keine Frau freiwillig darauf, einmal Mutter zu werden, nur um dann anderer Leuts Kinder zu erziehen. Jedenfalls niemand mit deinen Möglichkeiten für eine standesgemäße Partie. Du lächelst vielleicht nicht, aber lächerlich bist du auf jeden Fall!“
„Ich bin gar nicht lächerlich, nur weil ich denke!“
„Du merkst es nicht einmal selbst.“
Bis zum Frühjahr waren Mutters Nerven von den ständigen Streitereien so angegriffen, dass sie dem Harz eine Zeit lang den Rücken kehren musste, und Pfingsten war der perfekte Zeitpunkt für eine Reise ins Weichselland, wenn die ganze lange Sommerherrlichkeit noch vor einem lag. Außerdem war der Heiratsmarkt in Wernigerode vorläufig abgegrast, ohne dass einer der Herren oder eine potenzielle Schwiegermutter Interesse gezeigt hätte. In Josephsdorf war man zwar auf dem platten Land, aber Besuche machte man auch hier, bei Familie und Freunden, gerade in der schönen Jahreszeit, wenn die Wege gut fahrbar waren. Ehen zwischen Cousins ersten Grades waren verpönt, aber weitläufigere Verwandtschaft war absolut kein Hinderungsgrund, erklärte Mutter, ganz im Gegenteil. Da erlebte man wenigstens keine Überraschungen, und vielleicht ergab sich dabei auch wieder einmal die Gelegenheit, ein von vor den Namen zu setzen.
In diesem Sommer waren wir überall: Kopitkowo, Bielsk, Ostrowitt, Rolau, Kosielic, Moroschin. Überall wimmelte es von Feriengästen. Auf viele Gütern stand den Gästen ein eigenes Stockwerk zur Verfügung, doch im Sommer waren oft genug sämtliche Zimmer belegt, denn dann kam Besuch sogar aus Berlin, um die frische Luft und das frische Obst zu genießen. Lange konnten wir nie bleiben, ohne zur Last zu fallen. Doch wenn es nach Mutter ging, hatten wir auch gar nicht so viel Zeit. Sobald sie feststellte, dass die meisten Gäste wieder einmal nur weiblich waren und dass die Söhne des Hauses in diesen Ferien leider andere Pläne hatten, wäre sie am liebsten sofort wieder gefahren. Nur die Höflichkeit gebot, dass man ein paar Tage blieb und mit den anderen Damen auf der Veranda saß, wo alle zusammen Erdbeeren zupften, Kirschen entsteinten oder Erbsen palten, denn in den Sommermonaten musste eingemacht werden, was man im Winter essen wollte. Mich schleppte Mutter mit sich wie einen lästigen Koffer. Nie konnte ich es ihr recht machen. Entweder war ich zu steif oder ich lachte zu viel, oder ich war vom Federballspielen rot und verschwitzt, oder ich sehnte mich zu offensichtlich zurück nach Josephsdorf, wo ich endlich einmal nicht vorgeführt würde, sondern einfach nur Erika sein durfte.
„Hornberg, Koldun, Brodden“, zählte Mutter auf. „Wir haben noch so viel zu tun.“
Am Ende rettete mich Herbert. So viel älter als ich, war er schon immer mein großer Beschützer gewesen. Wenn ich früher etwas angestellt hatte, seufzte er nur: „Ach, was ist das nun wieder! – Na, verschwinde schon, ich werd es in Ordnung bringen.“ Nie kam mir als Kind der Gedanke, ihm könnte das misslingen, nie hörte ich mehr davon.
Auch jetzt bemerkte Herbert meine wachsende Verzweiflung. Nach dem Essen nahm er Mutter beiseite. „Darf ich dich um etwas bitten?“, fragte er, als Magda sich zurückgezogen hatte, um zu Mittag zu ruhen. „Aber es muss mit Diskretion geschehen.“
Mutter nickte eifrig. Selbstverständlich! Für Herbert würde sie alles tun.
„Unsere Magda … Sie hat sich nach der Geburt noch immer nicht richtig erholt. Dabei ist die kleine Clarisse schon bald ein Jahr. Aber das Leben hier bei uns …“ Herbert holte tief Luft. „Sie tut sich schwer“, erklärte er rundheraus. „Immer gibt es mehr zu tun, als ein Tag fassen kann, sagt sie. Und jetzt ist die Frau Mama auf Gut Jagowshöhe eingetroffen und wartet nur darauf, hierherzukommen. Du weißt ja …“
Ja, Mutter wusste: Die Frau Professor war ein schwieriger Gast. Das Weichselland war nun einmal nicht Gießen und eine Landwirtschaft wie Josephsdorf nicht mit einem Professorenhaushalt zu vergleichen, der wie ein gut geöltes Uhrwerk ablief. Gerade im Hochsommer ging die Ernte allem vor. Heu, Korn, Hafer, Kirschen, Bohnen, Kohl. Selbst wenn Besuch da war, kam das Essen nicht immer rechtzeitig auf den Tisch oder man wurde unterbrochen. In den Augen von Frau Professor Vossius zu bestehen war bestimmt nicht einfach, erst recht nicht, wenn man wie Magda von zarter Konstitution war, körperlich wie seelisch. Das Landleben hielt für sie mehr Schrecken als Freuden bereit, das war Mutter schon aufgefallen. Begütigend legte sie Herbert die Hand auf den Arm.
„Lass die Schwiegermama ruhig kommen. Ich werde Magda hier und da ein wenig unter die Arme greifen, ohne dass es jemand merkt. Es gibt wohl keine, die sich in der Josephsdorfer Wirtschaft besser auskennt als ich. Und ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich ein paar Wochen lang nicht reisen muss. Jetzt im Juli ist es auch viel zu heiß dazu, und in fremden Betten schläft es sich doch nie so gut wie zu Hause. Außerdem …“ Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Außerdem waren wir bislang sans résultat. Complètement sans résultat.“ Mutter seufzte. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Sie gibt sich nicht einmal Mühe.“
Jetzt war es an Herbert, Mutter die Hand zu tätscheln. „Lass ihr Zeit. Wenn ich etwas gelernt habe als Gutsherr, dann, dass du die Kreatur nicht zwingen kannst. Weder Tier noch Mensch.“
„Aber sie ist so ganz anders als ich in ihrem Alter. Ich begreife es nicht.“
Herbert lachte. „Ja, jede von euch ist auf ihre Weise einmalig. Aber jeweils zwei von eurer Sorte wäre doch auch ein bisschen viel, oder?“
Einige Tage darauf reiste die Frau Professor an. Mit dabei Axel und Alfred. Anton, der Älteste, studierte inzwischen in Heidelberg, und der Herr Professor war noch in Gießen, wo er wahrscheinlich die ungewohnte Ruhe genoss. Maman kam mit wehenden Röcken und vereinnahmte sofort den gesamten Gästebereich. Eigentlich brauchten sie und die beiden Buben nur zwei der vier Zimmer, die den ersten Stock im Südflügel ausmachten, aber schon nach ein paar Tagen räumte Tante Betty das Feld und kehrte verfrüht nach Magdeburg zurück.
„Ich glaube, ihr habt mehr als genug zu tun“, vertraute sie Mutter an. „Wenn ich darf, komme ich lieber im August noch einmal und genieße den Altweibersommer. Der ist hier immer besonders schön.“
Seufzend gab Mutter ihr recht, und dann schrieb sie an Großmama und Tante Vera nach Graudenz, ob sie nicht auch erst im August kommen wollten, da derzeit das beste Zimmer, das eigentlich immer für die beiden bereitgehalten wurde, ausnahmsweise besetzt war mit „hohem Besuch“. Es war die einzige, winzige Spitze, die Mutter sich erlaubte. Ansonsten hob sie nicht einmal die Augenbraue, wenn Frau Professor Vossius sich bei Tisch zu allen möglichen Themen ausließ, von der Kindererziehung über das Anleiten der Dienstboten bis hin zum Gartenbau. Sie, die nie auch nur einen einzigen Finger in unseren lehmigen westpreußischen Boden gesteckt hatte, klärte Mutter über die beste Methode auf, Salat zu ziehen.
„So früh wie möglich!“, dozierte sie, während sie Wiesenchampignons auf die Gabel spießte. „Salat muss man so früh wie möglich ziehen, dann schießt er auch nicht. Am besten gleich im März. Ja, ich habe auch schon im Februar Erfolg gehabt und zu Ostern die ersten Köpfe geerntet.“
„Danke für den guten Ratschlag“, sagte Mutter, ohne eine Miene zu verziehen. „Das wusste ich gar nicht.“
„Aber Maman“, bemerkte Magda verlegen. „Im März liegt hier noch Schnee.“
Alfred kicherte und fing sich eine Ohrfeige ein.
Während der zweieinhalb Wochen, die der Besuch dauerte, hielt sich Mutter so viel wie möglich in den Wirtschaftsräumen auf, besprach mit der Köchin die Mahlzeiten, zählte Wäsche, brachte Ordnung in die Vorratsräume oder plante mit dem Gärtner, was man im nächsten Jahr anbauen sollte. Magda oblag die Unterhaltung der Frau Mama, und mir hatte man die zwei Jungs aufgehalst, „um ihnen die Gegend zu zeigen“, war Mutters Befehl.
Ein bisschen erstaunt stellte ich fest, dass die beiden genauso älter geworden waren wie ich selbst. Alfred war zwölf, schlaksig und immer hungrig. Axel war neunzehn und voller Würde, denn zu Ostern hatte er die Matura abgelegt, und im Herbst würde er seinen Militärdienst als Einjähriger antreten.
„Selbstverständlich bei den Dragonern“, wie er mir mitteilte.
Er hatte noch immer die Angewohnheit, sich über die Oberlippe zu streichen, nur dass dort inzwischen vielleicht nicht gerade ein Schnurrbart, aber doch ein richtiges blondes Bärtchen wuchs. Sein Bruder kickte ihm einen Klumpen Dreck in die Kniekehle und bekam dafür eine Kopfnuss. Dann kehrte Axel sofort wieder zu seiner Würde zurück. „Und nach dem Militär werde ich wie mein Vater Medizin studieren.“
In mir stieg eine heiße Welle des Neids auf. Dieser Schnösel mit Möchtegernbart und Brötchenfrisur – so hieß das bei uns, wenn der Scheitel genau in der Mitte war – konnte alles studieren, wozu er Lust hatte, Medizin, Jura, Geschichte, während ich im besten Fall die zukünftige Ehefrau von einem Arzt, Juristen und Historiker würde. Zwar gab es mittlerweile Universitäten, die auch Frauen aufnahmen, aber dafür brauchte man die Reifeprüfung, und wo hätte ich die hernehmen sollen? Um ein Mädchenlyzeum zu besuchen, hätte ich in Berlin oder Leipzig wohnen müssen. Wie sollte das wohl gehen? Ganz zu schweigen von der Erlaubnis zur Immatrikulation hinterher. Mutter wusste wahrscheinlich nicht einmal, wovon ich überhaupt sprach.
Axel strich sich wieder über die Oberlippe. „Ich würde gerne ausreiten. Mir ein bisschen Bewegung verschaffen. Ist das hier möglich?“
Ich musste zugeben, dass Axel gar nicht schlecht ritt und Alfred vielleicht noch besser als sein Bruder. Immer wieder trieben wir die Pferde zum Galopp über die ersten Stoppelfelder, auf denen der Winterweizen gerade abgeerntet war. Meistens blieb ich Sieger, aber ein paarmal überholte mich Alfred knapp.
„Jetzt langt es. Lasst uns umdrehen“, schlug ich nach einiger Zeit vor, doch Axel wollte sich weder von mir noch von seinem kleinen Bruder lumpen lassen. Er forderte uns noch einmal heraus und dann noch mal und noch mal, um wenigstens einmal zu gewinnen. Bis wir nach Hause kamen, waren die Tiere völlig verschwitzt und hatten Schaum vor dem Maul.
So lange ich mich erinnern konnte, war dies das einzige Mal, dass Garzinski wirklich böse mit mir wurde. Zwar war er ein strenger Reitlehrer für uns Kinder gewesen, der Zimperlichkeit nicht gelten ließ, aber gewöhnlich konnten wir in seinen Augen nichts falsch machen. Doch gerade jetzt im Sommer wurden alle Pferde für die Ernte gebraucht, Tag für Tag mussten sie Gespanndienste leisten, da durfte man sie nicht auch noch zum reinen Vergnügen anstrengen, nur weil man jung und dumm war. Sein Ärger galt vielleicht auch gar nicht mir, sondern den jungen Gästen, für die ein Pferd nur ein Gebrauchsgegenstand war und der Kutscher ein einfacher Dienstbote. Als wir mit den nassen Pferden zurückkamen, drückte ihm Axel die Zügel in die Hand und sagte von oben herab: „Der Gaul muss sich noch abschreiten und dann abgerieben werden.“
Wie auch immer – wir bekamen Reitverbot. Von nun an wurde gelaufen. In der Julihitze musste ich mit den beiden As spazieren gehen, die lustlos hinter mir herstapften und die meiste Zeit stritten. Gewöhnlich liefen wir den Dembier Weg entlang, eine halbe Stunde bis zum Badesee. Für mich war das langweilig, denn Badebekleidung besaß ich nicht, und gemeinsam mit den jungen Männern war Baden sowieso ausgeschlossen. Ich durfte nur die Handtücher tragen und dann mit nackten Füßen im seichten Wasser waten, den Rock keinesfalls höher als bis zu den Knien geschürzt, während die beiden ausgiebig schwammen und sich gegenseitig tunkten. Doch Mutter wollte keine Klagen hören.
„Als Gastgeberin hat man eben Verpflichtungen“, sagte sie nur.
„Aber Magda ist die Gastgeberin. Ich bin doch auch nur Besuch“, versuchte ich zu widersprechen.
„Du benimmst dich wieder einmal, als wärst du noch ein kleines Kind. Mach die Augen auf, Erika, und sieh, mit wem du es zu tun hast.“
Im Gegensatz zu mir fand Mutter den mittleren A nämlich sehr einnehmend. „Ein angehender Mediziner, denk dir. Mein Vater war auch Arzt. Was für ein schöner Beruf.“ In ihren Augen leuchtete diese gewisse Gier, die ich inzwischen schon kannte. Zwar war Axel noch zu jung und ohne eigenes Auskommen, selbstverständlich, aber immerhin un prospect. Inzwischen griff sie nach jedem Strohhalm. „Verdirb es nicht gleich wieder. Ein bisschen Freundlichkeit kostet schließlich nichts.“
Bestimmt hatten Alfred und Axel sich die Ferien auch anders vorgestellt, als mit ihrer Schwägerin endlose Spaziergänge zu machen und abends auf der Veranda Mücken totzuschlagen. Doch wenn ich das richtig deutete, hatten sie von ihrer Frau Mama ähnlich strenge Ermahnungen bekommen wie ich von meiner. Immerhin wurde das Reitverbot nach einer Woche aufgehoben, und wir konnten wieder durch die weitere Umgebung streifen, solange wir uns an Garzinskis Anweisungen hielten: keinesfalls noch einmal Wettreiten, am besten gar kein Galopp. Alfred musste sein Pferd natürlich trotzdem springen lassen und fiel dabei so unglücklich, dass er sich die Hand verstauchte. Es geschah ihm nur recht, fand ich, dass er die folgenden Tage zu Hause bei Maman und Magda bleiben musste, während ich mit Mittel-A alleine aufbrach.
Ohne seinen kleinen Bruder, mit dem er sich die ganze Zeit kabbelte, war Axel sehr viel netter, stellte ich fest. Der Sommer in diesem Jahr war trocken und heiß, und wir ritten deshalb am liebsten in den Wald, wo es kühl und schattig war und wo uns niemand sah. Nicht, dass wir etwas Verbotenes taten, wir redeten nur, in allem Anstand, aber es tat so gut, einmal den wachsamen Blicken unserer Mütter zu entkommen. Axel lachte viel, besonders, wenn ich ihm von meinen Nöten mit Mutter erzählte, den Teegesellschaften und den erfolglosen Besuchen auf den umliegenden Gütern.
„Ich kann nicht verstehen, warum die Herren im Harz und in Gesamtwestpreußen nicht Schlange vor eurer Türe stehen“, sagte er. „Wer würde sich eine so einmalige Frau wie dich denn entgehen lassen?“
Und ich musste plötzlich daran denken, dass er vor drei Jahren eine gewisse Greta geküsst hatte. Wie mochte es wohl sein, von Axel geküsst zu werden? Ob so ein Schnurrbart dabei kratzte?
Als ich ein Kind war, lebten wir bei meiner Großmutter im Haus. Meine Großmutter hatte eine Wohnung im ersten Stock, wo wir Kinder sie jederzeit besuchen durften, außer in der Mittagsruhe, die damals von eins bis drei dauerte und selbstverständlich eingehalten wurde.
Sie hatte immer Plätzchen für uns im Schrank, und sie spielte Brettspiele mit mir oder las mir vor. Sie erzählte mir auch aus ihrem Leben, aber ich verstand die Geschichten damals kaum, ich war ja gerade erst in die Schule gekommen. Warum schenkte meine Großmutter einem Soldaten Brot? Und warum aß er die ganze Nacht lang? Und was tat sie überhaupt in einem Krankenhaus?
Aber es war deutlich, dass meine Großmutter sich sehr gern an diese Zeit erinnerte. Sie saß in ihrem Sessel und lächelte, während sie aus einem Krieg erzählte, von dem ich nichts wusste, denn der einzige Krieg, den ich kannte, war damals zwanzig Jahre her und der Grund, warum es immer noch Ruinen und verwilderte Grundstücke in Darmstadt gab. Dann zogen wir aus Darmstadt weg und sahen meine Großmutter nur noch ein-, zweimal im Jahr. Und dann starb sie, alt und verwirrt.
Erst als Erwachsene habe ich ihre Erinnerungen gelesen. Über die Jahre hinweg hatte sie über dieses und jenes geschrieben, ihre Kindheit in Josephsdorf, über ihre Zeit auf der Verpflegungsstelle, über ihre Ausbildung im Carolahaus, die Zeit in Arnsdorf, über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und über sein Ende, und darüber, wie sie sich in den Matrosen Paul verliebte, eine Liebe, aus der nie mehr wurde. Nur mein Großvater Axel taucht in ihren Erinnerungen nicht auf. Sie erwähnt einmal, dass sie kurz vor Kriegsende mit ihrem gerade angetrauten Mann in Zoppot war. Doch mein Großvater bekommt nicht einmal einen Namen, kein Gesicht, ein Mann ohne Eigenschaften.
Da er schon in den Dreißigerjahren starb, mein Vater ein schlechter Erzähler war und ich meine Tanten nie gefragt habe, weiß ich so gut wie nichts über ihn. Dieses Buch basiert auf den Erinnerungen meiner Großmutter. Die Lücken habe ich gefüllt und einen Großvater erfunden, so wie er hätte sein können. Vieles ist historisch belegt, den Rest habe ich mir ausgedacht.
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