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Israel Trail mit Herz

Christian Seebauer
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Das Heilige Land zu Fuß, allein und ohne Geld

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Israel Trail mit Herz — Inhalt

1000 Kilometer quer durch die Wüste

Das Heilige Land der Länge nach. Ohne Geld und nur mit dem Nötigsten ausgestattet, begibt sich Christian Seebauer nahe der libanesischen Grenze zu Fuß auf den Israel National Trail. Knapp sieben Wochen liegen bis nach Eilat im Süden vor ihm – mit Temperaturen bis zu 45 Grad, endlosen Weiten und atemberaubender Natur. Angewiesen auf die Hilfe fremder Menschen, erfährt er unterwegs Zuwendung und Freundschaft jenseits aller sprachlichen, kulturellen und religiösen Schranken. Getragen von Nächstenliebe, wirft er inneren Ballast ab und kann sich seinen Gefühlen stellen. Ein fesselnder Abenteuerbericht über den Aufbruch ins Unbekannte und eine Reise zu sich selbst.

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 02.04.2019
352 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40496-9
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Leseprobe zu „Israel Trail mit Herz“

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Dr. Charlotte Knobloch
Mein Traum vom Heiligen Land
Das erste Mal in Israel

Erste Woche
Meinrad ist ein deutscher Name
Orange-Blau-Weiß : Hier beginnt mein Weg
Stacheldraht und Nächstenliebe
So in die Synagoge?

Zweite Woche
Wandern wie vor 2000 Jahren
Hoch über dem See Genezareth
Selbstgespräche im Regen
1000 Stufen nach Nazareth
Shlomit bricht ihr Schweigen
Sie sprechen noch deutsch

Dritte Woche
Warum betet er nicht?
Verbrannte Erde und Hoffnung
Als Penner am Poleg Beach
Der Erste dieses Jahr
Are you Christian?
Jerusalem liegt nicht am Weg
Am [...]

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Dr. Charlotte Knobloch
Mein Traum vom Heiligen Land
Das erste Mal in Israel

Erste Woche
Meinrad ist ein deutscher Name
Orange-Blau-Weiß : Hier beginnt mein Weg
Stacheldraht und Nächstenliebe
So in die Synagoge?

Zweite Woche
Wandern wie vor 2000 Jahren
Hoch über dem See Genezareth
Selbstgespräche im Regen
1000 Stufen nach Nazareth
Shlomit bricht ihr Schweigen
Sie sprechen noch deutsch

Dritte Woche
Warum betet er nicht?
Verbrannte Erde und Hoffnung
Als Penner am Poleg Beach
Der Erste dieses Jahr
Are you Christian?
Jerusalem liegt nicht am Weg
Am Bänkchen von Lucy Rosenzweig

Vierte Woche
Durch die Toskana Israels
What goes down, must go up
Durch die Wälder des JNF-KKL
Ein Sternenhimmel allein für mich
Ich will endlich in die Wüste!
Die letzten Wälder am Weg

Fünfte Woche
Plötzlich Wüste
Lebensgefährlich schön!
Von Night Camp zu Night Camp
Zu Fuß über den Mars: der Makhtesh-Katan-Krater
Ein Canyon wie im Film
Mount Karbolet – die Angst-Etappe

Sechste Woche
Herzenswünsche am Wüstenboden
Am Fuße des Hod Akev
Könnte ich alles nur festhalten
So lieb, dass ich mich schäme
Die Area 51 wäre klein dagegen: der größte Erosionskrater der Welt
Ein Schalom zur rechten Zeit
Frauen haben das letzte Wort. Auch in der Wüste

Siebte Woche
Hallo. Es ist Tsur
Zu zweit durch die Unterwelt
Bei Vollmond kann man weiter gehen
Dem Ende entgegen
Jenseits meiner Kräfte
Angst anzukommen!
Was mir wichtig ist
Danksagung
Ausrüstungsliste
Shvil-Israel Pilgergesellschaft e.V.
Die Etappen der sieben Wochen
Internet-Links
Buchtipps
Anmerkungen

Vorwort von Dr. Charlotte Knobloch

Die erste Begegnung mit Christian Seebauer gehörte zu den besonderen, und ich erinnere mich noch sehr genau daran. Suchenden Menschen begegnet man immer wieder. Menschen, die sich wirklich auf die Suche machen wollen, die bereit sind, etwas hinter sich zu lassen und sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, sind nicht so oft anzutreffen. Aber hier kam ein Mann zu mir, der den Aufbruch wagen würde – das spürte ich sofort, auch wenn er noch viele Fragen und Zweifel hatte.

Christian Seebauer wollte zu Fuß durch das Heilige Land, auf der Suche nach sich selbst und dem Land, das für so viele Menschen verschiedener Religionen ein Ort der Sehnsucht, ein Traum bleibt. Ihn aber ließ die Idee einer Wanderung, des „Shvil Israel“, nicht los. Und nun hoffte er – auch gegen die scheinbar vernünftigen Einwände, die er von verschiedenen Seiten zu hören bekam und die sich nicht einfach von der Hand weisen ließen – auf Ermutigung.

Die konnte ich ihm von ganzem Herzen geben. Denn ich war sicher, dass er in Israel finden würde, wonach er suchte. Welches Land wäre ein besseres Ziel für einen solchen Aufbruch als Israel, das Verheißene, das Gelobte, das Heilige Land? Ist es nicht geradezu kennzeichnend für diesen schmalen Landstreifen zwischen Wüste und Mittelmeer, dass er Menschen aufnimmt, die aufgebrochen sind – im konkreten wie im übertragenen Sinn? Ist Israel mit seiner einzigartigen Natur- und Kulturlandschaft, seiner jahrtausendealten Geschichte, nicht seit jeher ein Land mit besonderer Anziehungskraft?

Sofort hatte ich die Bilder von meiner ersten eigenen Israelreise 1952 mit meinem Mann vor Augen: Wir haben uns damals spontan in dieses bezaubernde Land verliebt. Heute lebt dort ein Teil meiner engsten Familie, und ich erlebe regelmäßig das pulsierende Leben mit all seinen herrlichen Seiten – aber natürlich auch die Bedrohung, der diese einzige Demokratie im Nahen Osten seit ihrer Gründung ausgesetzt ist.

 

Dennoch: Israel ist kein Land, das einem Angst machen oder in dem man Angst haben muss – auch wenn die tägliche Berichterstattung denen, die es nicht kennen, einen anderen Eindruck vermittelt. Im Gegenteil: Die fröhliche Offenheit und umwerfende Gastfreundschaft der Israelis würden Christian Seebauer aufnehmen – ihn, den Nichtjuden aus Deutschland, den Suchenden, den Menschen. Da war ich mir sicher. Auf seiner Wanderung würde er ein ungewöhnlich vielgesichtiges und vielgestaltiges Land kennenlernen, Menschen aus aller Herren Länder, die ein außergewöhnlicher Gestaltungswille und Optimismus eint – und eine ansteckende Lebensfreude.

Nun freue ich mich mit Christian Seebauer, dass er seinen Traum wahr gemacht hat und zu seiner Wanderung aufgebrochen ist, zu Fuß, mit wachen Sinnen und offenem Herzen – und dass er so viele Schätze gefunden hat: Menschen, Geschichten, Orte, die es wert sind, erzählt zu werden. „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“, wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Christian Seebauer ist wirklich im Heiligen Land gewesen – möge sein Buch viele ermuntern, es ihm gleichzutun.

 

Dr. Charlotte Knobloch wurde 1932 in München geboren und ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2005 bis 2013 war sie Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses und von 2003 bis 2010 Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Mein Traum vom Heiligen Land

Hoch über dem „Small Crater“, wie sie im Heiligen Land ihren Krater Makhtesh Katan auch liebevoll nennen, habe ich meine innere Ruhe wiedergefunden. Ich liege allein auf einer verschlissenen Isomatte auf dem warmen Wüstenboden und blicke in einen tiefschwarzen Sternenhimmel. So intensiv wie hier habe ich das Firmament noch nie in meinem Leben gesehen. Mein Zelt habe ich längst verschenkt. So wie fast alles, was ich nicht tragen konnte. Doch mit jedem Gegenstand, von dem ich mich auf meinem langen Weg getrennt habe, bin ich dem Glück und mir selbst immer näher gekommen. Ich fühle wieder etwas. Langsam lasse ich den steinigen Sand durch meine Finger bröseln. Keine Geräusche. Keine Laute. Kein Licht. Hier ist nichts, außer Gott und mir. Habe ich gerade „Gott“ gesagt? Daran muss ich noch arbeiten. Trotzdem huscht mir heute ein kleines „Danke, lieber Gott. Danke, dass du da bist“ über die Lippen. Was morgen ist? Wer weiß? Mein Ziel, irgendwo anzukommen, habe ich längst aufgegeben. Ich lebe von der Hand in den Mund. Von Tag zu Tag. Dafür lebe ich wieder im Hier und Jetzt. Ein gutes Gefühl.

Seit über vier Wochen bin ich nun zu Fuß unterwegs auf dem Israel National Trail. Ein Weg, der mich vor allem zu mir selbst geführt hat. Und ein Weg, der alles Verbitterte in mir weggefegt hat. Was übrig geblieben ist, ist eine schutzlose Hülle. Und die Bereitschaft, echte Gefühle zuzulassen. Während mein richtiges Leben nicht gerade so verlaufen ist, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte, gibt mir dieser Weg vom ersten Meter an eine wunderbare Geborgenheit. Ruhe von alldem, was zuvor mein Gehirn zermartert hat. Genau so wie hier hätte ich mir vor Jahren meinen Jakobsweg gewünscht.

Heute werde ich noch so lange in den atemberaubend schönen Sternenhimmel blicken, bis mich der Schlaf übermannt. Und morgen werde ich mich im ersten Licht rekeln und darauf freuen, dass ich einfach weiterlaufen darf. Völlig frei. Ich werde darauf vertrauen, dass auch morgen ein guter Tag wird. Einer, an dem ich wieder jemanden treffe und etwas menschliche Nähe spüren darf. Und einer vielleicht, an dem ich ein Stück Brot bekomme. Einer, an dem ich vor Freude lachen oder weinen kann. Und einer, der mich noch einmal weiter über alles hinausführt, was ich mir jemals hatte vorstellen können.

Tausend Kilometer gehe ich hier einsam den auf Stein gemalten orange-blau-weißen Markierungen nach. Ich träume von Millionen Schritten und den vielen wunderbaren Menschen, die mir auf dem Fernweg bisher begegnet sind. Menschen, die vielfältiger nicht sein können. Juden, Muslime, Christen. Israelis, Araber, Beduinen. Jung und alt. Immer waren es Menschen, die mir ihr Herz weit geöffnet haben. Diesen Weg ganz allein und ohne Geld zu gehen war für mich ein lang gehegter Traum. Eigentlich stehe ich in meinem Leben auf der Sonnenseite. Wie sich das Leben aber anfühlt, wenn ich nichts außer meinem Charme und einem Lächeln zurückgeben kann, das wollte ich unbedingt am eigenen Leib erfahren.

Dass viele Gefühle oft ganz unverhofft wie ein Sturm über mich hinweggefegt sind, mich klein und demütig, aber auch offen und neugierig gemacht haben, empfinde ich als das größte Geschenk meiner Reise. Meiner Frau Conny, die mich wieder einmal verständnisvoll losgelassen hat, damit ich mich selbst finden darf, verdanke ich, dass ich heute hier bin. Nachdem auch meine beiden Töchter ihr Okay gegeben hatten, ging alles recht schnell.

Das erste Mal in Israel

Über Istanbul fliege ich mit der Billigairline nach Tel Aviv. Der Flieger nach Istanbul ist brechend voll, und wenn man über die Eigenheiten anderer Nationalitäten schmunzeln darf, dann jetzt. Alles ist so voll, dass ich bezweifle, dass der Airbus je von der Startbahn abheben wird. Für die meisten geht es „heim“ in die Türkei. Nach wenigen Stunden Aufenthalt in Istanbul wartet dann das Flugzeug nach Tel Aviv. Was sind das für Menschen, die da jetzt einsteigen? Gebannt und fasziniert versuche ich mir einen ersten schüchternen Überblick über das zu verschaffen, was mich womöglich im Heiligen Land erwartet.

Es sind ganz andere Typen als im Flieger nach Istanbul. Plötzlich sieht wieder alles recht vertraut aus, oder sagen wir besser: europäisch. Keine Bärte mehr oder allerhöchstens bei den jungen Reisenden recht coole Bärte. Bärte, die mehr zum Typus Windsurfer, Rucksacktourist oder eben „Chiller“ passen. Die Erwachsenen in meinem Alter sehen so aus wie bei uns. Entspannte, zeitgemäße Kleidung. Jeans und T-Shirt. Auch sind die Passagiere hier nicht mehr so laut. Zum ersten Mal höre ich Sprachfetzen auf Hebräisch. Es ist doch Hebräisch, oder? Kurzerhand frage ich einfach. Denn obwohl es fremde Menschen sind, fühlt sich alles doch recht vertraut an. Eigentlich hatte ich den jungen Typen mit den Rastalocken und der Bob-Marley-Bommelmütze vor mir gefragt. Doch die beiden etwa 18-jährigen Mädels vor ihm drehen sich zu mir um und antworten mit einem zauberhaften Lächeln: „Ja, das ist Hebräisch. Aber wir können es selbst nicht perfekt.“ Was folgt, ist ein herzliches Lachen.

Hier im Flieger gibt es keine Sippen wie auf dem Flug nach Istanbul, da spricht jeder mit jedem, und das in einem kunterbunten Sprachenmix. Ich höre immer wieder so etwas wie Hebräisch, dann wieder viel Englisch, aber auch Deutsch, Französisch, Russisch, alles eben. Das gefällt mir. Ich bin hundemüde und lehne mich entspannt zurück. Endlich fasse ich etwas Mut für meine Reise. Ich spüre, dass ich an diese Menschen herankommen kann, dass sie freundlich sind. Das lässt mich für die Zeit, in der wir über Zypern und das Mittelmeer fliegen, glücklich schlafen (erzählt mir Lisa, meine Sitznachbarin, später).

Kurz nach Mitternacht stehe ich bepackt mit einem viel zu schweren Rucksack vor einem grimmig blickenden Zollbeamten am Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv. Lisa war vor mir und ist schon durch die Kontrolle. Der Zöllner fragt mich nach meinem Reiseziel, und sein Blick wechselt dabei ständig zwischen dem Pass und meinem Gesicht hin und her. Ich bin jedoch zu müde, um nervös zu sein. „Israel National Trail“, sage ich ihm, und dann schallt mir ein erstauntes „Wow“ entgegen. Ich muss es gerade mit diesem Stichwort geschafft haben, ihn aus seiner gewohnten Abfertigungsroutine herauszureißen. Ganz langsam wiederholt er „Shvil Israel“, so nennen die Einheimischen ihren „Israel-Weg“. Seine undefinierbare Mimik wechselt spontan in einen aufmerksamen und begeisterten Zustand: „Fantastic!“ Sofort knallt er kraftvoll seinen Stempel wie einen Akt der ganz persönlichen Begrüßung in den Ausweis, beugt sich vor und sagt in akzentfreiem Deutsch: „Herzlich willkommen in Israel! Alles Gute am Shvil Israel!“

Keine zwanzig Minuten hat es gedauert vom Flugzeug bis zum Ausgang des Flughafens. Hier draußen atme ich erst einmal tief durch. Die Luft ist kühl und feucht, und es ist erstaunlich ruhig im Freien. Worauf habe ich mich da eingelassen? Die letzten Fluggäste, die mit mir gerade den Airport verlassen, werden alle irgendwie von Familien und Freunden abgeholt. Auch Lisa sehe ich noch, wie sie von Freunden umarmt wird und dann in einen wartenden Pick-up einsteigt. Jeder Ankommende scheint hier abgeholt zu werden und hat wohl eine feste Bleibe. Ich selbst muss mich auf einen Kontakt verlassen, den ich gestern Abend noch im Internet geknüpft habe. „Ido Ben“ heißt der – zumindest im Internet. Er ist Couchsurfer, also jemand, der Durchreisenden ein Bett zur Verfügung stellt. Und er hat mir gestern geschrieben, wenn er Zeit hat, wird er mich gegen Mitternacht am Flughafen „eventuell“ abholen. Mehr habe ich nicht in petto, und so kann ich nur hoffen und warten, auf einen gewissen Ido, den ich ebenso wenig kenne wie er mich.

Der Vorplatz des Flughafens leert sich vor meinen Augen, und das erste Mal überkommen mich Zweifel über mein Vorhaben. Klar, ein Teil meines Bekanntenkreises hat mich für verrückt erklärt. Aussagen wie „Das schaffst du niemals!“ habe ich immer wieder zu hören bekommen. Nur diesmal war es noch schlimmer. Da gab es auch die, die meiner Frau gegenüber sagten, ich sei absolut verantwortungslos. Zwei kleine Kinder und ausgerechnet Israel, wo es doch so unsicher sei – und so weiter und so fort. Mit jeder Minute fühle ich mich schlechter, und mir wird klar, dass ich nun so ziemlich der Letzte bin, bevor die Lichter ausgehen. Warum auch sollte irgendein Couchsurfer weit nach der vereinbarten Zeit einen fremden Reisenden noch von hier abholen?

Doch wie aus dem Nichts erscheint tatsächlich gegen halb eins ein klappriger blauer Mitsubishi, und ein junger Mann steigt aus. Das muss Ido sein! Ist er es wirklich? Habe ich tatsächlich so viel Glück? Der junge Mann mit Wollmütze ruft laut fragend über den Vorplatz: „Chris-ti-an?“ zu mir hinüber, und ich kann mein Glück kaum fassen. Meine erste Nacht scheint gerettet zu sein. Zumindest ist also hier meine Reise noch nicht zu Ende. Auch ich habe nun, wie all die anderen Passagiere, eine liebe Seele gefunden, die mich hier im fremden Heiligen Land ganz persönlich in Empfang nimmt.

„Ist doch selbstverständlich“, meint Ido fröhlich. Trotzdem kommt mir noch immer alles wie ein guter Traum vor. Dass es wirklich ist, fällt mir schwer zu glauben. Und genau darum wird es in den nächsten zwei Monaten gehen: Glauben!

Je länger wir nun mit dem Auto aus Tel Aviv in Richtung Süden – also der für mich falschen Richtung – hinausfahren, umso hilfloser fühle ich mich allerdings. Denn Ido lebt gar nicht in Tel Aviv, sondern 40 Autominuten außerhalb in der absoluten Pampa. Jede Minute Nachtfahrt bringt mich nun erst einmal fort von meinem geplanten Startpunkt im äußersten Norden Israels und stellt mich vor ein neues Problem. Wie soll ich hier vom Land wieder wegkommen? Gegen halb drei Uhr nachts erreichen Ido und ich einen kleinen Kibbuz im Nirgendwo. Ich habe noch nie einen Kibbuz gesehen. Er gleicht einem kleinen Dorf, ist jedoch eingezäunt, und hinein geht es durch ein großes gelbes Tor. Erst einmal bin ich sehr froh, dass ich hier eine Bleibe gefunden habe. Auch wenn die Bibel sagt: „Kein Fremder durfte draußen zur Nacht bleiben, sondern meine Tür tat ich dem Wanderer auf“ (Hiob 31,32), kommt mir mein Start schon sehr surreal vor.

Ido ist etwa 25 Jahre alt und lebt noch bei seinen Eltern. Sein Zimmer besteht im Wesentlichen aus zwei Matratzen am Boden, einem selbst zusammengeschraubten PC mit offenem Gehäuse und einer Stereoanlage aus vergangenen Zeiten. Ido ist Weltenbummler und selbst viel mit dem Rucksack unterwegs, zuletzt mehrere Monate in Kanada, erzählt er mir. Weil er Wandererfahrung hat, glaube ich ihm sofort, dass mein Rucksack viel zu schwer ist. Aber das soll mich heute nicht mehr interessieren. Ido besorgt uns im Elternhaus noch Brot, eine vegane Wurst, und dann macht er frischen Pfefferminztee. Und zwar wirklich frischen, nämlich mit dem, was im Vorgarten wächst. Kurz darauf überfällt mich die Müdigkeit, und es stört mich nicht im Geringsten, dass Ido ein Nachtmensch ist und noch mit irgendwem am Computer chattet.

Erste Woche Meinrad ist ein deutscher Name

Per Anhalter nach Kibbuz Dan

Am nächsten Morgen habe ich meine liebe Mühe und vor allem ein schlechtes Gewissen, Ido aufzuwecken. Ich will endlich los. Doch Ido schläft wie ein Murmeltier. Meine ersten verbalen Versuche („Hey, Ido!“) helfen rein gar nichts. Also warte ich erst einmal ein wenig. Hat Ido gestern nicht ausdrücklich gesagt: „Du kannst mich wecken, wenn du loswillst“? Hat er. Aber andererseits sind zwischen dem Pfefferminztee und dem Erwachen wohl gerade erst zwei, höchstens zweieinhalb Stunden vergangen. Aber ich kann doch jetzt nicht hier neben einem schlafenden Unbekannten vor mich hin warten, wo ich doch meine Reise beginnen möchte.

Noch einmal rufe ich ein wenig lauter: „Ido, Idooo“ und rüttle ihn dann ein wenig an der Schulter. Ido öffnet ein Auge, mustert mich und meint: „Good morning, Christian. How are you?“ Und schon dreht er sich um und schnarcht wieder tief und fest. Ich will los, schnell raus aus der Bude von Ido. Also nehme ich mein Zeug und gehe vor die Tür. Hier wird mir schnell klar, dass ich mit all dem schweren Gepäck keinen Meter weit kommen werde. Ich habe viel zu viel mitgenommen. Beherzt entleere ich auf der Terrasse von Idos Eltern meinen kompletten Rucksack und meine zwei Plastiktüten, die ich zu Hause mit allerlei Proviant gefüllt habe. Auf den bunten Steinplatten verteilt, sieht mein Gepäck aus, als wolle eine vierköpfige Familie vier Wochen Urlaub machen. Jedenfalls kommt es mir so vor. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass ich so nicht die geringste Chance habe. Ein wenig deprimiert blicke ich auf all meine Utensilien, als plötzlich Ido hinter mir steht und lautstark zu lachen anfängt. „Das alles willst du mitnehmen? Hast du einen Esel mit dabei?“ Ido fragt mich weiter, ob ich durch Island oder Alaska will. Ob ich Angst vor dem Erfrieren hätte. Wäre alles nicht so schlimm für mich, würde ich jetzt wohl auch loslachen. Ich fühle mich aber hilflos. Was soll ich tun?

„Komm, ich helfe dir“, sagt Ido, während er mir auf die Schulter klopft. Ido war schon viel unterwegs in der Welt. Immer zu Fuß. Immer mit seinem Rucksack. Immer mit ganz wenig Geld. Und immer mit dem Optimismus eines Menschen, den ich bisher als naiven Dümmling bezeichnet hätte.

„Du brauchst nichts!“, beginnt Ido seine Lebensweisheit. „Nichts, außer dem Glauben an Gott!“ Und weiter: „Das viele Geld, also ich meine das viele Gepäck, das zieht dich wie Blei nach unten. Du kannst entweder hier sitzen bleiben und es bewachen, oder du befreist dich von ihm. Nur dann kannst du den ersten Schritt nach vorn machen. Hier in Israel brauchst du vor allem Wasser“, meint Ido. „Wo bringst du dein Wasser unter?“ Ich zeige ihm ein paar stabile Plastikflaschen und sehe schon an seiner Mimik, dass er mich nicht mehr ganz ernst nimmt. Ido bringt mich zu einem kleinen Holzschuppen im hinteren Garten. Hier bewahrt er seine Wanderausrüstung auf. Ich sehe, dass Ido kein Geld besitzt und seine Ausrüstung spärlicher nicht sein könnte. Aber sie ist gut sortiert und wohl erprobt. Muss ich mir jetzt von diesem jungen Burschen helfen lassen? Im Augenblick habe ich wohl keine andere Option, als mich zu schämen und die Hilfe von Ido dankbar anzunehmen. Annehmen zu müssen, trifft es vielleicht besser. Ido zaubert ein Wassersystem für meinen Rucksack hervor, in das schon mal 3 Liter passen. Dann gehen wir zusammen jeden einzelnen Gegenstand durch, der am Boden vor uns ausgebreitet ist.

Zwei Paar lange Hosen und eine Regenhose findet Ido übertrieben. Lieber wäre mir gewesen, er hätte mich ausgelacht. Aber so ernst, wie Ido mich anblickt, interpretiere ich es eher als Mitleid. Ich trenne mich also von einer langen Hose und meiner schwarzen Regenhose. Meine Regenjacke lege ich auch gleich noch beiseite, als Ido anfängt zu lachen: „Ja, für Kanada ist das gut“, erwidert er schmunzelnd und erzählt mir gleich von seinem regenreichen Kanada-Trip, der drei Monate dauerte. Jetzt, nach seinem Lachen, geht es mir besser.

Ob er sich vorstellen könne, dass ich ohne Geld durch Israel komme, frage ich ihn und erwarte als Antwort einen weiteren Brüller oder wenigstens ein sachliches Nein. Sofort blickt Ido mich wieder ernst an und antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Yes, of course, klar geht das. Und natürlich geht das in Israel.“ Hier helfe jeder jedem gern. Ich frage gleich weiter, ob das für einen Deutschen auch gelte, und wieder sieht Ido mich ganz ernst an und erwidert mit einem klaren: „Ja, natürlich“ und ergänzt noch: „We love the Germans!“

Für mein Gepäck gibt es jetzt eine Radikalkur. Kurzum, alles ab der Primzahl „3“ muss hierbleiben. Denn „3“ ist mindestens „1“ zu viel. Das dritte T-Shirt, die dritte Unterhose, das dritte Paar Sportsocken und so weiter. In meiner Plastiktüte habe ich auch noch ein Buch zum Lesen dabei. Es ist eines über den Glauben. Meine Mutter hat es mir geschenkt. Am Flughafen von Istanbul habe ich es „überflogen“. Aber weiter kann ich es nicht mitnehmen, und ich hoffe, meine Mutter verzeiht mir das. Weg damit!

Und Lebensmittel, die lange reichen, mich aber nach wenigen Kilometern unter ihrem Gewicht erdrücken würden. Weg damit! Auch Sandalen als Reserveschuhe fallen der Tabula-rasa-Aktion zum Opfer. Für Ido scheint all das normal zu sein. „Du kannst es wieder abholen, wenn du möchtest.“

„Nein“, antworte ich und schüttle den Kopf.

Dann befüllt Ido erstmals meine Wasserflaschen und das Wassersystem, und ich schultere mein Gepäck. Obwohl ich nun einiges aussortiert habe, schlagen die 8 Liter Wasser voll zu Buche. Noch einmal nehme ich den Rucksack ab und stelle ihn bei Idos Eltern im Badezimmer auf die Waage. 26 Kilogramm. Immer noch viel zu viel. Dann sagt Ido herzlich, aber bestimmt zu mir: „Du musst jetzt los“ und begleitet mich noch hinaus aus dem Kibbuz bis zur ersten Straße.

Unterwegs ist er recht schweigsam. Erst als wir das Tor des Kibbuz durchschreiten, fängt er an zu reden. Er erzählt mir, dass es im Leben immer um die Arbeit gehe. Seine Eltern stehen früh um fünf auf, um den ganzen Tag zu arbeiten. Und so geht das jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. „So lange, bis am Ende nichts mehr von dir übrig geblieben ist und du dich fragst, warum du das alles tust. Und dann ist es zu spät, dir Gedanken über den Sinn des Lebens zu machen. In deinen Kindern steckst du dann nicht mehr drin. Und es schmerzt dich, wenn die es anders machen, und es schmerzt dich noch mehr, wenn du es nicht verstehst. Dann flüchtest du wieder in deine Arbeit und wirst verbittert, und es geht immer so weiter.“ Ido zieht sich seine Wollmütze, die er heute wieder aufhat, noch tiefer ins Gesicht. Dann wendet er sich zu mir und sagt, indem er jedes einzelne Wort betont: „Und Reisen durchbricht diesen Kreislauf!“

Fast unbemerkt haben wir nun eine kleine Nebenstraße erreicht, und Ido hält das erstbeste Auto für mich an. „Einfach den Arm herausstrecken. Aber nicht den Daumen heben.“ So richtig getrampt bin ich noch nie in meinem Leben.

Nun sitze ich einem Minibus mit älteren Menschen, der mich zur nächsten Kreuzung bringt. Zum Erzählen bleibt nicht viel Zeit, aber alle sind supernett und möchten mehr über mich erfahren. Dabei weiß ich eigentlich selbst so wenig über mich. Immerhin, für einen Small Talk reicht es. Nach zwei Stunden sitze ich schon im vierten Fahrzeug und habe bereits einiges über die Hilfsbereitschaft im Lande erfahren. Jeder nimmt dich hier mit. Und wenn es am Ende nur ein paar Kilometer sind und du danach wieder am Straßenrand deiner nächsten Mitfahrgelegenheit entgegensiehst. Was ich hier zu spüren bekomme, sind Optimismus, eine liebenswerte Neugierde und eine Art Selbstverständlichkeit, keinen im Regen, Pardon, in der Sonne stehen zu lassen. Und die zeigt mir mittlerweile recht unmissverständlich, dass ich mich im Mittelmeerraum befinde. Es ist heiß geworden am Straßenrand, und immer mehr kommt mir mein Vorhaben naiv und undurchführbar vor. Und das, obwohl es bislang immer wieder weitergegangen ist. Schon jetzt kommt mir meine kurze Reise wie eine Ewigkeit vor, und plötzlich kann ich mir meine lange Wanderung auf dem Israel National Trail nicht mehr richtig vorstellen. Immerhin liegen da gut 1000 Kilometer und über 20 000 Höhenmeter Gesamtanstieg1 vor mir. Zu Fuß und ohne Geld. Ganz nebenbei geht es dann auch noch durch die heiße Wüste. Und: Ich laufe den Trail in der falschen Richtung. Und: Hebräisch verstehe ich nicht. Untrainiert bin ich auch. Und überhaupt: Ich habe Angst. Und, und, und?

Tatsächlich hat nun schon seit einer geschlagenen halben Stunde kein Auto mehr angehalten, der Platz hier auf einer vereinsamten Kreuzung ist auch nicht gerade optimal. Bis auf ein paar Lkws war noch nicht viel los. Ich erinnere mich an Idos Worte: „Du musst viel trinken hier.“ Sofort wende ich mich dem für mich neuartigen Wassersystem im Rucksack zu. Und der fühlt sich unten sehr, sehr nass an. Kein gutes Zeichen. Natürlich werden meine Befürchtungen wahr, dass Idos altes Wassersystem schon vor der ersten Benutzung seinen Geist aufgegeben hat. Alles ist nass im Rucksack. Im Wasserbeutel selbst ist kaum noch Flüssigkeit vorhanden.

Genau jetzt, als sämtliche Einzelteile meines Gepäcks vor mir am Straßenrand ausgebreitet vor meinen Füßen liegen und ich gerade wirklich nicht an ein Weiterkommen denke, hält ein alter, weißer Pkw gut 100 Meter weiter an und hupt. Der Fahrer scheint mich zu meinen und winkt mich aus dem offenen Fenster zu sich heran. Hektisch stopfe ich alles, so gut es geht, in meinen Rucksack und nehme Schlafsack, Jacke und zwei Tüten unter meine Arme. Unterwegs fällt mir dann mein Waschbeutel heraus, und Zahnbürste, Zahnpasta sowie die Nagelschere verteilen sich auf dem Asphalt. Die runde Dose Hirschhorntalg für meine Füße rollt in absurden Schlangenlinien Richtung Fahrzeug und veranstaltet direkt unter dem Auspuff eine Art immer schneller werdenden Kreiseltanz. Der Fahrer sitzt immer noch geduldig in seinem Auto, und dann ruft er mir durch das geöffnete Beifahrerfenster etwas auf Hebräisch entgegen. Offensichtlich hat er mich nicht als Ausländer erkannt. Gut oder nicht gut, frage ich mich, und dann sage ich ihm auf Englisch, wohin ich will.

Angespannt sitze ich neben einem älteren Herrn, so um die 65. Der ist, im Gegensatz zu mir, die Ruhe selbst. Auch dass mein Rucksack nass ist, stört ihn nicht im Geringsten. Er spricht eine ganze Weile mit mir auf Englisch über den Israel National Trail, den er selbst leider nie gemacht habe, aber auf dem er nächste Woche mit einer Gruppe eine kleine Etappe wandern will. Schließlich möchte auch er einen Teil seines Heimatlandes mit eigenen Füßen durchwandern, auch wenn er eigentlich schon alles kenne, fügt er an. „Die jungen Leute, die machen das alle. Das ist eine gute Tradition, nach dem Militärdienst das Land ohne Waffe zu durchqueren und es von seiner schönsten Seite kennenzulernen. Du wirst hier auch Arabern und Beduinen begegnen. Und du wirst sehen: Sie helfen dir ganz genauso.“

Ob ich Wasser möchte, fragt er mich und unterbricht seinen Bericht kurz. „Gern“, antworte ich ihm, und er erzählt mir, obwohl er selbst ja noch nie da war: „Weißt du, auf dem Shvil Israel sind wir alle gleich. Da gibt es keine Religion. Aber da gibt es Gott. Und wenn du ihn findest, dann ist es ein guter Gott, der wenigstens unseren Kindern ein besseres Leben schenkt.“

Es vergehen ein paar Minuten ganz ohne Reden, und irgendwie schnürt es mir die Kehle zu. Dann fängt er wieder an, weiterzuerzählen: „Ich meine alle Kinder. Egal, woher sie kommen. Sie alle sollten diesen Weg gehen und sehen, dass sie in derselben Welt leben. Und ich denke, sie tun es. Es wird besser, mit unseren Kindern. – Hast du Kinder?“

„Ja, zwei Töchter“, sage ich.

Als ich ihn frage, wie er heißt, antwortet er: „Meinrad – das ist doch ein deutscher Name.“ Dann schweigt er ein paar lange Minuten. „Woher kommst du?“, und er ahnt es schon ...

„Aus Dachau“, sage ich und schweige nun auch. Doch Meinrad durchbricht Gott sei Dank schnell das beklemmende Schweigen und sagt fast väterlich zu mir: „Und nun gehst du den Israel Trail. Gut. Das finde ich toll. Es wird dir gefallen. Du wirst viel Kraft finden für deine Familie.“ Nach einer kurzen Pause und einigen weiteren Kilometern sieht mich Meinrad an und sagt auf Deutsch: „Vielleicht begegnest du Gott?“ Meinrad erzählt mir erst später, dass er aus Essen stammt und als kleines Kind hierherkam. Seine Eltern hat er beide im Holocaust verloren. „Aber das ist lange her“, schiebt er sofort nach, „und heute sind die jungen Leute aus Israel und Deutschland miteinander befreundet.“ Nach einer weiteren guten halben Stunde setzt mich Meinrad an einer vielbefahrenen Kreuzung ab, steigt aus und schreibt mir einen Zettel auf Hebräisch, „damit dir andere auch helfen können“. Meinrad umarmt mich und sagt: „Danke, es war schön, dass du mit mir mitgefahren bist. Ich wünsche dir viel Glück auf deiner Reise. Du wirst sehen, jeder wird dir hier gern helfen!“ Meinrad steigt ein und fährt ganz langsam los, nicht ohne noch einmal zu hupen und zu winken. Ich sehe ihn noch lange, bis er dann doch irgendwann im Flirren der heißen Luft in der Ferne entschwindet.

Und dann bricht es über mich herein. Ich fühle das Alleinsein, und ich spüre plötzlich, dass wieder Menschen an mich herankommen. Und das mit voller Wucht. Da war keine Spur von Hass bei Meinrad. Kein Geschichtsunterricht. Keine Schuldzuweisungen. Nur Güte und eine große Herzenswärme. Was er mich spüren ließ, war diese unglaubliche Nächstenliebe, die mich hier in Israel seit der ersten Minute zu behüten scheint. Alles ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, und dabei habe ich ja noch gar nicht viel erlebt.

Zwei weitere Autofahrer bringen mich ein weiteres Stück in Richtung Kibbuz Dan, dem nördlichen Ausgangspunkt des Israel Trails. Dann stehe ich am frühen Nachmittag eine ganze Weile in der brütenden Mittagshitze herum und bekomme Durst. Noch nie in meinem Leben habe ich versucht, Nahrung und Wasser umsonst zu bekommen. Zu erbetteln! Heute werde ich es versuchen. Zur Not habe ich ja noch etwas Wasser und Verpflegung in meinem Rucksack. Mit meinem Gepäck in der Hand betrete ich eine kleine Bar am Rand der Kreuzung. Sofort sehen mich alle an in der Erwartung, ich werde ihnen gleich meine Geschichte erzählen. Und das tue ich.

„Hallo, ich bin Christian aus Deutschland. Und ich mache den Israel Trail.“ Rasch füge ich noch mit ersten Zweifeln hinzu: „Äh, ohne Geld.“ Dabei rast mein Puls sofort so, als stünde ich vor einem gefährlichen prähistorischen Raubtier mit übergroßen Zähnen. Zur Flucht nach draußen fehlt mir der Antrieb. Die Stresshormone, die gerade meinen Körper durchfluten, lähmen mich. „Schockstarre“ beschreibt es irgendwie ganz gut. Dabei sieht mein Gegenüber absolut zuvorkommend und freundlich aus.

„Brauchst du Wasser?“, fragt die adrette Chefin hinter der Theke und lächelt mich sehr sympathisch an, während sie auf meine Antwort wartet. „Das wäre großartig“, sage ich und wiederhole sicherheitshalber noch einmal, dass ich ohne Geld unterwegs bin.

„Hab schon verstanden“, meint Sarah und bittet mich höflich, Platz zu nehmen. Sofort ist das Thema der Israel Trail, und Sarah sagt: „Wer den Shvil geht, muss lernen anzunehmen.“ Ich müsse mich nicht schämen, nach Wasser und Brot zu fragen. Es sei ihr eine Ehre, mir etwas zu geben. Noch lieber würde sie für ein paar Tage mitkommen und mich auf meiner Reise begleiten, damit mir nichts passiere. Auch Sarah fragt mich, ob ich Familie habe, und ich hole mein kleines schwarzes Tagebuch heraus, das mir meine Kinder ein wenig ausgeschmückt haben. Ich zeige Sarah das eingeklebte Foto von meiner Familie. Und dann wische ich mir zum ersten Mal ein paar Tränen aus den Augen.

Sarah ist genauso bewegt wie ich und setzt sich für einen Moment zu mir, obwohl andere Kunden an der Theke warten. Sarah gibt ihnen zu verstehen, dass sie gerade nicht kann, und sagt auf Hebräisch irgendwas wie „Rega, Rega“ und „Schwil ’Sra-äl“. Dabei legt sie ihre Arme um mich, steht dann aber doch auf und bedient die anderen. „Rega, Rega“ bedeutet wohl so viel wie „Warte, warte“ oder „Gleich, gleich“. Ich weiß es noch nicht, aber auch ganz ohne Lexikon erschließt sich mir die Bedeutung – ein Sinngehalt, der es gut mit mir meint. Ich bekomme ein großes Glas Wasser, und Sarah füllt mir meine Trinkflaschen auf. Dann zeige ich ihr den leckgeschlagenen Wasserbeutel von Ido und bringe Sarah damit richtig zum Lachen. Ich darf den Beutel hier entsorgen und bekomme dafür zwei volle Eineinhalbliter-Flaschen Sprudelwasser. Und nun werde ich noch mit richtig gutem, öligem Blätterteig-Gebäck verwöhnt und bekomme für meine Weiterreise sogar noch etwas davon abgepackt mit auf den Weg. Mehr noch als Essen und Trinken motiviert mich in diesem Moment, dass stockfremde Menschen nicht nur an mich selbst glauben, sondern auch felsenfest davon überzeugt sind, dass meine Reise hier in Israel, rein basierend auf Nächstenliebe, mit absoluter Sicherheit funktionieren wird. Schnell steckt mir Sarah noch die Visitenkarte der Bar zu und sagt: „Falls du irgendwann Hilfe benötigst oder dich jemand nicht versteht, dann ruf mich an.“ So gestärkt gehe ich die paar Meter zurück zur Hauptstraße und weiß nun: Heute werde ich noch im Kibbuz Dan ankommen!

Noch 200 Kilometer sollen es von hier aus sein bis zum Ausgangspunkt des Trails in der Nähe der libanesischen Grenze. Und wieder erfahre ich unverhofft Hilfe. Diesmal erneut von einem jungen Burschen, schwarz gekleidet mit Hut. Ganz so, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Ein ultraorthodoxer Jude wird das wohl sein. Natürlich habe ich noch nicht die geringste Ahnung, was das bedeutet, merke aber, dass er mich mag und dass er mir gern hilft. Das genügt fürs Erste. Jitzchak versucht gerade selbst zu trampen. Allerdings in die andere Richtung. Er steht nun auf meiner Seite und zeigt mir, wie das geht. Er scheint mit seinem dreimaligen Tippen in die Luft tatsächlich so etwas wie einen Zauberspruch ausgestoßen zu haben, denn bereits das erste Auto macht eine heftige Vollbremsung. Dann rennt Jitzchak vor und erklärt dem Fahrer – so verstehe ich es zumindest –, dass er mich mitnehmen muss.

Weiter geht es also ein Stück weit dem unbekannten Ziel entgegen. Als ich danach wieder auf der Straße stehe und hier schlichtweg gar nichts mehr los ist, hält ein Bus voll mit Soldaten und Soldatinnen vor mir und fordert mich quasi zum Einsteigen auf. Was soll ich tun? Ich muss Kibbuz Dan ja ohne Geld erreichen. Sofort nimmt mir einer der jugendlichen Soldaten mein Gepäck freundlich ab und verstaut es im Bus. Nun ist mein Rucksack im Bus, und ich stehe im Freien. Der Busfahrer winkt nervös zum Einsteigen, und schon geht die Reise weiter in Richtung Kibbuz Dan.

Auf Englisch versuche ich, den Busfahrer zu bitten, mich wieder aussteigen zu lassen, denn ich habe kein Geld bei mir. Doch wie es so sein soll, ist dieser Busfahrer wohl der einzige Mensch in Israel, der kein Englisch versteht oder einfach kein Englisch verstehen will. Freundlich, aber bestimmt gestikuliert er mit einem hebräischen Redeschwall, dass ich mich doch bitte endlich hinsetzen soll, wobei mir Jodi, eine junge Soldatin, von hinten zuruft: „Setz dich hin. Ist alles okay, entspann dich!“ Jodi, die eigentlich Judith heißt, setzt sich neben mich und öffnet eine Navigationsapp auf ihrem Handy. Wie in einem alten James-Bond-Film – als das noch alles kindische Science-Fiction war – zeigt ein blinkender roter Punkt, wie sich der Bus gerade auf der Straße in Richtung Kirjat Schmona bewegt. Mit ein paar flinken Fingergesten hat Jodi auch Kibbuz Dan auf ihr Display geholt, und ich kann sehen, dass wir uns auf mein Ziel zubewegen.

Jodi hat ihr halb automatisches Maschinengewehr zwischen sich und mich gestellt. Es ist in der Kurve nun so verrutscht, dass der Lauf direkt in mein Gesicht zielt. Jodi lacht entspannt. „Sorry. Scharf, aber gesichert“, und richtet den Lauf wieder nach oben aus. Wenigstens hätte so nur der Bus ein Loch im Blech und nicht ich. Irgendwie habe ich trotzdem keinerlei Angst und fange an, mich hier richtig sicher und wohl zu fühlen. Jodi erzählt mir einiges über den Militärdienst in Israel, der drei Jahre dauert. Ich selbst war bei der Bundeswehr, aber drei Jahre für jeden finde ich schon ziemlich lang.

Jodi möchte nach Berlin reisen, wenn diese Zeit vorüber ist. Sie fragt mich, warum es in Deutschland überhaupt Militär gebe, wenn es doch ringsherum keinerlei Feinde gibt. Eine gute Frage. Aber ich habe definitiv keine Antwort darauf. Sofort fragt Jodi weiter, ob es stimme, dass wir in Europa keine Grenzzäune zwischen den Ländern haben. Ich erzähle ihr, dass ich von Deutschland nach Italien in den Urlaub fahren kann, ohne irgendwo eine Grenze zu sehen. Und Jodi überrascht mich mit der Aussage: „Das werden wir hier auch eines Tages haben.“ Was soll ich darauf noch antworten? Sind das Kindheitsträume von ihr? Meint sie es ernst? Es scheint so. Steht es mir überhaupt zu, sie in dieser Meinung zu bestärken? Schließlich weiß ich nicht wirklich viel über den Nahen Osten. Und mein Weg, der Israel Trail, soll ja auch kein politischer Weg werden.

Christian  Seebauer

Über Christian Seebauer

Biografie

Christian Seebauer, Jahrgang 1967, studierte Elektrotechnik mit dem Abschluss Diplom-Ingenieur und wurde dann Verwaltungsdirektor einer großen deutschen Bankengruppe. Nach einem Burnout wanderte er den Küstenweg, die Urvariante des Jakobswegs, und 2014 wanderte er von Nord nach Süd auf dem Israel...

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