Eine feste Route haben sie nicht, und das Geld dafür wollen sie unterwegs als Gelegenheitsarbeiter und Verkäufer selbst gestalteten Schmucks verdienen. Ein kühner Trip mit hochgesteckten Zielen, bei dem die Uhr tickt.
Und während sie am Lissaboner Flughafen trampen, im Stadtpark von Tokio zelten oder als blinde Passagiere 36 Stunden im Zug nach Russland unterwegs sind, erleben sie hautnah, was es bedeutet, keinen einzigen Cent in der Tasche zu haben. Dabei lernen sie, dass eine Niederlage auch immer zur Chance werden kann.
„Bei einer Weltumrundung kommt man nicht zurück, man kommt an.“
„Kein Grund für gute Laune. Angestrengt versuche ich, sie dennoch festzuhalten.“
„Schon komisch, wenn ich unsere Tramperfahrungen auf einen Nenner bringen will, dann müsste der lauten: Je schrottiger und vollgepackter ein Auto ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass darin Platz für uns zwei gemacht wird. … Vielleicht lässt sich dieses Bild auf die Herzen der Menschen übertragen: Je mehr sie strapaziert wurden, desto mehr sind sie in der Lage zu lieben.“
„Zwischendurch haben wir beide immer wieder Angst, dass wir uns überschätzen.“
„Wo bleibt die Anstrengung, wo bleibt das Abenteuer?“
„Halte durch, Weltenbummler. Du wolltest es nicht anders.“
„Ich will Abenteuer, Risiko, Wunder und – das kommt dazu: Ich will zurück nach Hause.“
„Irgendwie habe ich ein gutes Gefühl. Am Ende hatten wir in den entscheidenden Momenten immer Glück.“
Per Anhalter nach Amerika
26. Mai, Tag 21, Lissabon, Portugal, Kontostand: € 688,34
Hansen
Es quietscht, brummt, saust, rauscht, tuckert, heult und hupt. Ich habe die Autobahn im Rücken, die Einflugschneise haarscharf überm Scheitel und die Landebahn direkt vor meinen Augen, links und rechts Ab- und Auffahrt einer Schnellstraße, die ins Zentrum von Lissabon führt.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich so selig an einem so unruhigen Ort schlafen kann. Aber zusammen erzeugen all diese grässlichen Geräusche einen wohligen Einheitsbrei, der vom Gehirn nach kurzer Zeit einfach ausgeblendet wird. Was übrig bleibt ist: Stille. Absolute Stille.
Vielleicht bin ich auch einfach schon verrückt geworden, was nicht ganz auszuschließen ist, wenn man bedenkt, dass mein Zwillingsbruder Paul und ich gerade in einem auf einer Verkehrsinsel am Lissabonner Flughafen aufgestellten Zelt aufgewacht sind und gleich herauskriechen werden, um bereits den zweiten Tag in Folge das Unmögliche zu versuchen: nach Kanada zu trampen – mit dem Flugzeug, versteht sich.
Nachdem bisher keiner der hier vorbeifahrenden Piloten uns einen Klappsitz in seiner Maschine angeboten hat, hatte Paul gestern die glorreiche Idee, es zusätzlich zum ausgestreckten Daumen und Pappschild mit einer E-Mail zu versuchen:
Verehrter Präsident der SATA-Fluggesellschaft,
Ich schreibe Ihnen, um Sie höflichst um Unterstützung für ein einzigartiges und höchst ungewöhnliches Projekt zu bitten: Mein Zwillingsbruder und ich wagen ein Experiment. Wie schon Phileas Fogg aus dem Buch „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne versuchen wir in ebendieser Zeit den Erdball zu umrunden. Im Unterschied zu Phileas Fogg, der 20 000 Pfund für sein Vorhaben hatte, haben wir unser Zuhause in Berlin ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche verlassen. Bisher haben wir es per Anhalter bis nach Lissabon geschafft, und nun möchten wir auf dem Luftweg unser Glück versuchen und vom Airport Lissabon in die USA oder nach Kanada trampen. Wäre Ihr Unternehmen daran interessiert, unser Projekt zu unterstützen? Sie können mich jederzeit unter meiner Handynummer erreichen.
Herzliche Grüße
Paul Hoepner
„Und, hat er dich schon angerufen?“, witzele ich, während mein Bruder mich aus seinem vom Schlaf zerknautschten Gesicht durch zwei schmale Schlitze anschaut, dann die Äuglein aufreißt und wie wild unter dem Schlafsack nach seinem Handy kramt. Der hat noch nicht mal die Ironie in meiner Stimme bemerkt. Wahrscheinlich hat uns die Sonne schon das Hirn verbrannt, und trotzdem: Heimlich hoffe auch ich, dass uns SATA über Nacht eine E-Mail mit zwei Tickets im Anhang zugeschickt hat. First Class natürlich.
„Nichts“, sagt Paul, nachdem er auch den Spam-Ordner gecheckt hat. Ich seufze. Also kein Wunder. Kein Wunder bedeutet, dort weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben. Zelt wieder abbauen, Daumen raus, Schild raus, hoffen und lächeln. Entweder darauf, dass uns einfach jemand in seinem Privatjet mitnimmt, ein Ticket spendiert oder sonst irgendwie weiterhilft. Zum Beispiel, indem er oder sie uns eins unserer selbst gemachten Schmuckstücke abkauft und auf diese Weise unsere Flugkasse füllt.
Heute ist Tag 21 unserer Reise, und wir sind schon ganze 13 im Verzug. Wir sind immer noch in Europa und wollen schon in 60 Tagen wieder zurück sein – allerdings nachdem wir zumindest Kanada, Japan, China, Myanmar, Indien, Kasachstan, Russland und Polen bereist haben. Ohne Reisekasse wohlgemerkt. Nur mit dem Geld, das wir etwa mit Hilfsarbeiten, dem Verkauf von selbst gemachten Schmuckstücken oder Zaubertricks zusammensammeln können. Das macht meistens Spaß, kann aber auch frustrierend sein, vor allem, wenn man meint festzustecken. Andererseits – kaum hat man das Gefühl, es ginge nicht weiter, passiert doch immer irgendetwas … Ich denke an Lotti, den verrückten Dänen, der uns in seiner Lissabonner Dachgeschosswohnung aufgenommen hat, oder den französischen Straßenkünstler Elie, der uns in den letzten Tagen immer wieder wie ein rettender Engel beim Verkauf half oder uns Essen oder ein Bier vorbeibrachte. Man nimmt die Welt völlig anders wahr, wenn man auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen ist, lernt Länder, die man als zahlungskräftiger Tourist bereist hat, aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Bequem ist das nicht, aber aufregend.
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