Die Neunziger in Deutschland
„Alles ist so ungleichzeitig“
1998 liegt Frankfurt (Oder) an der EU-Außengrenze und gleicht einem Nachkriegsgebiet. Ein knappes Jahrzehnt nach der Wende ist die Stadt ein Bombenkrater der Biografien, ein Ort der Glücksritter, Visionäre, Dissidenten, aber auch der Abgestürzten, Gewalttäter und Nichtsmehrwollenden.
Genau in diese Zeit und an diesen Ort hat Christian Bangel sein Debüt „Oder Florida“ angesiedelt. Im Interview spricht er über die Entstehung des Romans und darüber, wie es um das Deutschland nach der Wende steht.
Buchtipp von Caroline Adler, Marketing
„Wie nannte man das, wenn man plötzlich wusste, dass etwas Großartiges bevorstand?“
Frankfurt (Oder), Sommer 1998. Alles ist möglich, wenn man es nur will. Das denkt sich Matthias Freier, dessen Leben gerade nicht besser verlaufen könnte. Mit Anfang zwanzig ist er voller Tatendrang und Zuversicht, dass fast ein Jahrzehnt nach dem Mauerfall endlich etwas in der ostdeutschen Stadt nahe der polnischen Grenze vorangeht. Seiner Karriere als aufstrebender Printjournalist stehen nur noch zwei Dinge im Weg: die allgegenwärtigen, angstverbreitenden Nazis und die Frage, ob Nadja wirklich seine große Liebe ist.
Diese beiden Herausforderungen stürzen Matthias in ein ungeahntes Abenteuer, das in einer Plattenbausiedlung nicht wilder und skurriler sein könnte. Während er gemeinsam mit seinem Freund Fliege an der lokalpolitischen Front für mehr Sonne in Frankfurt kämpft, sich gegen unkooperative Großunternehmer und ehemalige Oppositionelle durchzusetzen versucht und nebenbei auf einen Ausweg aus seinem Gefühlschaos hofft, muss er über sich und seine bisherige Lebensphilosophie hinauswachsen. Dabei gilt es unerwartete Stolpersteine zu überwinden und eine Welt zu erkunden, die fernab des Regionalzugs nach Berlin liegt.
Christian Bangel nimmt uns in seinem rasanten Debütroman mit auf eine Reise in seine Heimatstadt: das andere, weniger bekannte Frankfurt, das er uns mit einem erfrischenden und herzlichen Blick näherbringt. Man fühlt sich mitten in die bunten Neunzigerjahre zurückversetzt, die auf einmal wieder zum Greifen nah sind. Scharfsinnig und spitz spielt er mit Ost-West-Klischees, nur um diese endgültig aufzulösen, denn am Ende des Tages sind alle Beteiligten in einer gemeinsamen Sache vereint: der Angst vor einer ungewissen Zukunft. Entscheidend ist, den Humor nicht zu verlieren. „Oder Florida“ lebt von einfallsreichen, kantigen Charakteren, die ihren Weg oft selbst nicht genau kennen, aber das Herz am rechten Fleck haben. Fernab von nostalgischer Verklärung zeigt Christian Bangel, wie es um das Deutschland nach der Wende steht und das sollte man nicht verpassen.
Christian, soeben ist Dein erster Roman „Oder Florida“ erschienen. Erzähl mal aus Deiner Sicht: Wie kamst Du zu der Geschichte? Wie war das Schreiben für Dich?
Ich habe meine ersten zwanzig Jahre in Frankfurt (Oder) verbracht und war danach fast zehn Jahre in Hamburg. Mich bewegt es, wie weit Osten und Westen immer noch voneinander entfernt sind. Mir begegnet das immer wieder, und ich glaube, dass aus diesem Unverständnis Gewalt und Hass entstehen können. Ich hätte aber nie gedacht, dass ich darüber mal einen Roman schreibe. Ich dachte an ein Sachbuch. Aber dann hat mir mein toller Agent Florian Glässing gesagt: „Wenn Du eine Zeit beschreiben willst, geht das mit einem Roman viel besser.“ Ich hab dann mit ein paar Miniaturen angefangen. Hat Spaß gemacht, aber nach jeder einzelnen dachte ich: „Das war’s, jetzt wird Dir jemand sagen, dass Du es nicht kannst.“ Aber es kam nichts.
„Oder Florida“ spielt knapp zehn Jahre nach der Wende in Frankfurt (Oder). Was hat Dich gereizt an dieser Stadt zu dieser Zeit?
Es ist alles so ungleichzeitig. Im Westen spricht alles über das Ende der Ära Kohl, aber ansonsten herrscht große Langeweile. Bald werden der 11. September und Hartz IV kommen, aber noch scheint alles friedlich. Ein großes Problem ist, dass Berti Vogts immer noch Bundestrainer ist. In den Talkshows sind immer mehr Typen, die die Welt untergehen sehen. Im Osten dagegen ist zu dieser Zeit schon seit Jahren permanenter Niedergang. Es ist die Zeit, in der die Wendeeuphorie längst verflogen ist. Die Jobs sind im Westen, viele pendeln Woche für Woche auf den Autobahnen dorthin, die Fußballclubs aus dem Osten spielen jetzt Zweite oder Dritte Liga. Dieser Niedergang hinterlässt aber auch Ruinen, merkwürdige Zonen der Ungeregeltheit, die große Momente der Freiheit ermöglichen. Und es scheint zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar, welche Seite gewinnt.
So weit, so unspektakulär. Heute wissen wir, dass im Osten damals schon Beate Zschäpe und im Westen Mohammed Atta durchs Bild liefen. Die großen Erschütterungen waren schon auf dem Weg, sie waren in dieser Zeit angelegt. Es hat nur niemand gesehen.
Und wie steht es heute um Frankfurt?
Das kann ich nicht genau sagen. Ich habe in den letzten Jahren zu tief in der Zeit um 1998 herumgegraben, um das genau von der Gegenwart trennen zu können. Ich rate aber jedem, sich die Stadt anzuschauen. Auch ein wenig länger. Schon allein, weil sie gleichzeitig Grenze und Brücke ist – beides kann sehr romantisch sein, auf seine Frankfurter Art.
„Wenn das Ost-West-Verhältnis nicht so düster wäre, könnte man darüber herzlich lachen“
Wenn man »Oder Florida« liest, fühlt man sich sofort in die Neunziger zurückversetzt. Der Protagonist Matthias Freier ist wirklich ein Kind seiner Zeit. Welche Probleme treiben ihn um? Was macht ihn eigentlich so aktuell?
Er kämpft mit Autoritäten. Nicht weil er sie ablehnt, im Gegenteil, er bräuchte dringend gute Ratgeber. Seine Eltern können ihm ja nicht viel sagen über diese neue Zeit. Da ist nur Fliege, dieser Ex-Hausbesetzer, der jetzt den Wahnsinnsplan hat, die SPD zu übernehmen. Und dann Franziskus, der Frankfurter Mogul, der die Ossis vor allem für faul hält. Freier spürt tief in sich drin, dass es das noch nicht gewesen sein kann. Doch die meisten Vorbilder dieser Zeit scheinen so zu sein: autoritär und neoliberal.
Auch wenn es mit einem ironischen Augenzwinkern geschieht: „Oder Florida“ ist auch ein Buch über Politisierung? Was unterscheidet denn dabei die Zeit vor dem Millennium von heute?
Damals war alles noch nicht so verfestigt, das Misstrauen der Ostdeutschen, die Unterwanderung der ostdeutschen Gesellschaft durch die Nazis. Heute gibt es Pegida, dessen größter Motor nicht der Islamhass ist, sondern die Wut über die Demütigungen des letzten Vierteljahrhunderts. Diese Wut macht ironischerweise jetzt auch in den Westen rüber. Das alles hätte man damals noch einfangen können, wenn man sich interessiert hätte. Ich glaube, dass wir auch heute Prozesse nicht sehen, die wir sehen könnten. Dass sich Türen schließen, wir aber zu bequem sind, uns damit zu befassen.
Immer noch gibt es die Klischees vom „Wessi“ und vom „Ossi“. Du findest einen spielerischen Umgang mit diesen Schubladen. Denn, bei der Lektüre merkt man schnell, so richtig passen die alle nicht, oder?
Nein, natürlich nicht. Es gibt überall gute und schlimme Leute. Aber was die Menschen so erzählen, um sich aufzuplustern, wie sie Freundschaft signalisieren, da gibt es schon Unterschiede. Und wenn das Ost-West-Verhältnis nicht so düster wäre, könnte man darüber herzlich lachen.
Das Gespräch führte Hannes Ulbrich.
Christian Bangel wurde 1979 in Frankfurt (Oder) geboren. Während seines Geschichtsstudiums gründete er das Netzmagazin Zuender für Zeit Online. Zusammen mit Markus Kavka und anderen entwickelte er das Anti-Nazi-Blog Störungsmelder, das 2008 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Ab 2010 war er Nachrichtenredakteur bei Zeit Online, seit 2012 ist er dort Chef vom Dienst. „Oder Florida“ ist sein erster Roman.
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