Joël Dicker über die Anfänge seines Romans
„Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ wird mich etwas mehr als zwei Jahre Arbeit kosten. In meinen Augen handelt es sich weniger um ein Buch als um ein Projekt.
Alles entsteht aus der Lust, eine echte Geschichte zu schreiben; aus der Lust, den Leser in eine andere Welt zu versetzen, ihn aus seinem Alltag herauszureißen und dem Buch eine wichtige Qualität zu geben, die ihm manchmal abgeht: anderen für einen Moment Freude zu bereiten. Es sollte ein langes Buch sein, das sich aber schnell liest, weil man es nicht aus der Hand legen kann. Weil man Lust hat, alles stehen und liegen zu lassen, um darin zu lesen. Lust, nach der Arbeit nach Hause zu kommen und weiter zu lesen. Es war die Lust, für den anspruchsvollen Leser ebenso zu schreiben wie für den zögerlichen. Die Lust, für die zu schreiben, die keine Zeit zum Lesen haben und sie plötzlich finden. Die Lust, sich die Mühe zu machen, auf die Leser zuzugehen: die Lust, Lust zu bereiten.
Gleich zu Anfang stellt sich die Frage nach dem Stil. Als ich mich an die Arbeit mache, habe ich erst wenige Monate zuvor das Manuskript von Derniers jours de nos pères fertiggestellt (das Buch sollte erst zwei Jahre später, nach meiner Begegnung mit Vladimir Dimitrijevic, veröffentlicht werden). Ich sammele also sämtliche Anmerkungen und Kritiken meiner Leser und nehme mir vor, meinen Stil zu überarbeiten, mir eine ganz eigene Schreibweise zuzulegen. Ich weiß, dass mein Roman in den USA spielen soll. Aber wie auf Französisch einen amerikanischen Roman schreiben? Sicher, da gibt es Der weiße Hund von Beverly Hills von Romain Gary, aber den hat er auf Englisch geschrieben und anschließend selbst ins Französische übersetzt.
Erste Probeläufe werden unternommen. Der Versuch, französische Figuren nach Amerika zu verpflanzen: ein totaler Reinfall. Das funktioniert nicht. Also frage ich mich: Warum eigentlich Amerika? Wegen der Amerikaner. Amerika inspiriert mich. Ich habe dort viel Zeit verbracht, bin viel herumgereist, habe viel nachgedacht und viel geträumt. Ich gehöre einer Generation an, die, vielleicht ohne es zu ahnen, von den Attentaten des 11. September geprägt wurde. Nicht so sehr von den Attentaten selbst, sondern vielmehr von ihren Folgen. Sie haben die Welt verändert; das merkt man erst jetzt. Die Türme sind eingestürzt, die Amerikaner in den Krieg gezogen. Und die strategischen Pole der Welt haben sich verändert. Da erst begreife ich, dass man, wenn man über Amerika schreiben will, wie ein Amerikaner schreiben muss. Und dass das eine amüsante Stilübung werden wird.
Newark, Wiege der amerikanischen Literatur
Ein Buch zu schreiben ist so, als würde man ein Ferienlager aufmachen. Es gibt Tage, an denen man schwören könnte, dass man nicht allein in seinem Büro ist. Ein Buch zu schreiben ist so, als würde man einen Film drehen: Es ist Teamarbeit. Ein Schriftsteller ist Regisseur, Drehbuchautor, Casting Director und Kameramann in einem. Er bereitet das Set vor, wählt die Figuren aus - der Rest kommt von allein. Die Figuren ergreifen nach und nach Besitz von seinem Buch. Sie werden zu Bekannten, zu Kollegen, für manche sogar zu Freunden. Manche mag man gern, andere kann man nur mit Mühe ertragen. Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl. Ich könnte schwören, dass Marcus Goldman neulich neben der Kaffeemaschine gestanden und sich übers Handy mit Roy Barnaski angebrüllt hat.
Mein Büro ist rasch zu einem Filmset geworden. Ich denke über den Schauplatz nach. Es soll Neuengland sein, wo ich in gewisser Weise aufgewachsen bin. Dem vollkommen der Fantasie entsprungenen Städtchen Aurora hat Bar Harbour in Maine Modell gestanden. Eines Tages bin ich von Montreal nach New York gefahren und habe beschlossen, Marcus in New York anzusiedeln. Aber mir war von Anfang an klar, dass für Marcus nur eine einzige Stadt als Geburtsort in Frage kommt: Newark, Heimatstadt, Ort des Wirkens und Lieblingsstadt von Philip Roth, des größten noch lebenden Schriftstellers. Philip Roth hat mich zur Literatur gebracht. Sein Werk hat mich inspiriert. Sein Denken hat mich geleitet. In meinen Augen ist Newark die Wiege der amerikanischen Literatur.
Jetzt hatte ich also die Figuren und den Schauplatz. Fehlte nur noch die Zeit. Es sollte das Jahr 2008 sein, und zwar genau vor der Wahl Barack Obamas. Zwei Jahre zuvor war ich durch den Mittleren Westen gereist, vor allem durch die Staaten Montana und Wyoming. Menschlich gesehen, sind das zum Teil erschreckende Orte. Ich wusste also, wie es um Amerika stand. Als dann die Wahlen bevorstanden, sagte ich mir, wenn das Schreckgespenst in Gestalt des Duos McCain-Palin gewinnen sollte, wäre das Land verloren. Die Wahl Barack Obamas hat in der Geschichte Amerikas einen Wendepunkt markiert: Sie stand für die Möglichkeit, eines unverzichtbaren Neuanfangs. Bleibt abzuwarten, ob die Amerikaner im kommenden November die Klugheit besitzen, ihn in seinem Amt zu bestätigen.
Also habe ich mich mit meinem Schauplatz, meinen Figuren und der von mir gewählten Zeit auf ein zwei Jahre dauerndes literarisches Abenteuer eingelassen. Dabei hatte ich vermutlich zwei Bücher im Kopf: Von Mäusen und Menschen von Steinbeck und Orwells Farm der Tiere. Diese beiden Bücher fassen für mich zusammen, was Literatur sein sollte: eine kraftvolle Geschichte, der Atem einer Epoche, kritische Selbstbetrachtung und intelligente Reflexion.
Letzte Etappe: Auswahl des Buchumschlags
Im vergangenen Juli, als ich gerade mit meinem Verleger die Druckfahnen für das Buch durchgehe, kommt die Frage nach dem Buchumschlag auf. Passend zur Geschichte unterbreitet ihm sein Layouter einige Vorschläge. Wir studieren sie aufmerksam, aber keiner passt atmosphärisch wirklich zum Buch. Da fällt mir ein Maler ein, der mir schon seit einiger Zeit im Kopf herumspukt: Hopper, dem ich grenzenlose Bewunderung entgegenbringe, weil er sich auf außergewöhnliche Weise darauf verstanden hat, amerikanische Alltagsszenen einzufangen. Ich wähle einige seiner Gemälde aus, betrachte sie unter allen Gesichtspunkten, doch immer fehlt etwas. Da erinnert mich jemand in einem Gespräch an das großartige Bild Portrait of Orleans. Genau das ist es! Nach einem längeren Briefwechsel mit dem Museum of Fine Arts in San Francisco, das dieses Gemälde besitzt, erhält mein Verleger schließlich die Genehmigung, es auf dem Buchcover abzudrucken.
Ein letzter wichtiger Punkt war für mich der Buchpreis. Bücher dürfen nicht zu teuer sein, sonst kaufen die Leute sie nicht. Deshalb ist es meiner Meinung nach die Aufgabe der Autoren, Verleger und aller an der Produktionskette Beteiligten, dem Publikum die Bücher zu einem vernünftigen Preis anzubieten. Außerdem ist es vermutlich der einzige Weg, das angeblich bedrohte Buchgewerbe zu retten. Ich glaube, man muss nicht unbedingt Wirtschaftslehre studiert haben, um dieses im Grunde äußert simple Prinzip zu begreifen: Die Menschen haben keine Lust, sich beim Bücherkauf zu ruinieren. Wie oft kommt es vor, dass jemand kurz davor steht, ein Buch zu kaufen, es umdreht, den Preis entdeckt und es wieder zurücklegt? Daher begrüße ich die Vorgehensweise meiner Verleger, die es verstanden haben, die Kosten zu begrenzen und so den Verkauf des Buchs (und seiner 670 Seiten) für 22 Euros in Frankreich und 25 Franken in der Schweiz zu ermöglichen.
Am Montag, den 6. August 2012, ist das Buch in Druck gegangen. Für mich war das ein merkwürdiger Tag. Wenn ein Roman beendet ist, ist das ein wenig so, als würden sämtliche Akteure in einen Bus steigen und davonfahren. Man winkt ihnen vom Gehsteig aus nach und bleibt dort stehen, bis der Bus um die Straßenecke gebogen und nicht mehr zu sehen ist. Das ist ein schrecklicher Moment.
Das Schwierigste an einem Roman ist nicht so sehr das Schreiben, sondern der Abschied von seinen Figuren.
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Schade, dass es das Buch noch nicht in taschenbuchform, wie es in vielen anderen Sprachen bereits erhältlich ist, gibt. Es wūrde alles leichter machen, und würd noch mehr verkauft.