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Montag, 30. Juni 2014 von


Interview mit Sara Blædel

Die dänische Krimiautorin über ihren neuen Roman, die Arbeit als Schriftstellerin und ihre Deutschkenntnisse

Piper Verlag: Sara, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Protagonistin – wer ist Louise Rick?

Sara Blædel: In vielerlei Hinsicht haben Louise und ich denselben Antrieb – sie geht in ihrer Arbeit völlig auf und taucht in jeden Fall ganz und gar ein. Die menschlichen Schicksale, denen sie begegnet, nimmt sie sich sehr zu Herzen. Außerdem wird Louise von einem starken Gerechtigkeitssinn angetrieben. Aber im Grunde ist sie nur eine gewöhnliche Frau mit einem sehr ungewöhnlichen Job.

PV: „Die vergessenen Mädchen“ markiert ein neues Kapitel in Louises Leben, denn sie tritt einen neuen Job in der Vermisstenstelle an – welche Auswirkungen hat diese Veränderung auf Louises Leben?

SB: Der Wechsel von der Mordkommission zur Vermisstenstelle ist für Louise ein großer Schritt, doch glücklicherweise arbeitet sie dort auch mit vielen ihrer alten Kollegen zusammen. Aber als ihr neuer Kollege Eik Nordström auftaucht, verändert sich doch so einiges. Eik ist Louises exaktes Gegenteil – er ist locker, einfühlsam und ziemlich unorganisiert. Louise kann nicht verbergen, dass er sie in den Wahnsinn treibt, doch Eik stört sich nicht daran, dass sie mit harten Bandagen kämpft. Am Anfang jedenfalls … :) Doch es gibt auch noch einige Konstanten in Louises Leben. Die Journalistin Camilla zählt wie Louises Nachbar Marvin zu ihrer selbsterwählten Familie. Gerade Camilla ist von großer Bedeutung für Louises Karriere und ihr Privatleben.

PV:Können Sie uns etwas über den Fall verraten, an dem Louise in „Die vergessenen Mädchen“ arbeitet?

SB:  Dieser Fall ist etwas Besonderes, weil er auf Dingen basiert, die in Dänemark tatsächlich passiert sind. In den Sechziger-  und Siebzigerjahren kam es immer wieder vor, dass Menschen von ihren Familien oder den Behörden in Psychiatrien abgeschoben und dort geradezu versteckt wurden. Nach und nach begreifen Louise Rick und ihr Team, dass diese entsetzlichen Taten auch heute noch relevant sein könnten.

PV:Würden Sie uns noch einen kleinen Ausblick auf Louises nächsten Fall geben? Was erwartet sie nach „Die vergessenen Mädchen“?

SB: Am Ende von „Die vergessenen Mädchen“ bleibt Louise mit einer Frage zurück, die ihr ganzes Leben verändern kann: Hat ihr Freund sich vor einigen Jahren gar nicht selbst das Leben genommen? War er es nicht selbst, der sich damals, am Tag nach dem Einzug in das gemeinsame Haus, die Schlinge um den Hals gelegt hat? Diese Frage ist nun alles, woran Louise denken kann, und sie ist fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Das nächste Buch  beginnt damit, dass Louise nach einer persönlichen Auszeit in ihr Büro in der Vermisstenstelle zurückkehrt. Dort wird sie bereits von ihrem neuen Bürokollegen erwartet: einem verwundeten, gutmütigen Deutschen Schäferhund, den Eik unter seine Fittiche genommen hat. Auch ein neuer Fall lässt nicht lange auf sich warten: Ein fünfzehnjähriger Junge wird vermisst. Er stammt auch Louises Heimatstadt Hvalsø, und so wittert sie die Gelegenheit, den Fall mit ihren eigenen Ermittlungen zum Tod ihres Freundes zu verbinden – doch es wird sich herausstellen, dass das keine kluge Entscheidung ist. Zurück in der Gegend, in der Louise den Großteil ihres Lebens verbracht hat, begegnen wir vielen Charakteren aus ihrer Vergangenheit, zum Beispiel der Familie ihres verstorbenen Freundes und Kim, dem Hauptkommissar des Holbæker Polizeipräsidiums. Und natürlich spielt auch die Journalistin Camilla Lind, Louises langjährige Seelenverwandte, wieder eine große Rolle. In einem Geflecht aus Ungesagtem, gefährlichen Machenschaften und Geheimnissen versucht Louise der Wahrheit auf die Spur zu kommen und deckt ein Netzwerk auf, in dem Bruderschaft mehr zählt als Blutsverwandtschaft.

PV:Wie sind Sie Schriftstellerin geworden? Wollten Sie schon immer mit Schreiben Ihr Geld verdienen?

SB: Ich habe schon als Kind gerne Gruselgeschichten erzählt und bin einfach ein sehr neugieriger Mensch, der im Kopf ständig verschiedene Szenarien durchspielt. Da ist immer diese kleine Stimme, die flüstert: „Was wäre, wenn …?“ Die ersten Krimis, die ich gelesen habe, waren Enid Blytons „Fünf Freunde“. Und da an war ich von der Kriminalliteratur gefangen. In den Neunzigerjahren habe ich einen kleinen Verlag gegründet, der auf Spannungsromane spezialisiert war, doch damals war dieses Genre noch weniger „in Mode“ als heute. Es vergingen noch einige Jahre, ehe ich selbst zu schreiben begann. Aber im Grunde gab es schon damals kein Zurück mehr – ich liebe gute Krimis einfach.

PV:Hätten Sie manchmal Lust, etwas ganz anderes zu schreiben, eine romantische Komödie zum Beispiel?

SB: Nein :) Aber als Journalistin habe ich natürlich viele völlig unterschiedliche Artikel und Berichte geschrieben, und auch ein Buch über Prinzessin Anne-Marie.

PV:Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher? Was inspiriert Sie?

SB: Eine Idee kann überall und jederzeit auftauchen  – beim Zeitunglesen, unter der Dusche, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. Die Idee zu „Die vergessenen Mädchen“ kam mir durch eine Artikelreihe in einer Zeitung zu den Zuständen und Gepflogenheiten in den dänischen Psychiatrien in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Ich war total geschockt, und sofort begannen sich in meinem Kopf Geschichten zu entwickeln. Ich wollte mehr darüber erfahren. In den Artikeln fand ich auch einige Interviews mit ehemaligen Patienten, Angehörigen und Sozialarbeitern. Was ich las, war wirklich verstörend. Es ist noch nicht so lange her, dass geistig Behinderte in unserem Land als anstößig betrachtet wurden. Und noch immer gibt es viele Menschen, deren Leben durch dieses grauenhaften Fehlverhalten in der Vergangenheit gezeichnet ist. Wir können sehr froh darüber sein, dass sich die Lage in unserem Land so sehr zum Besseren gewendet hat. Es darf nie wieder soweit kommen, dass Menschen so herabwürdigend behandelt werden.

PV:Wie lange brauchen Sie, um ein Buch zu schreiben – von der ersten Idee zum fertigen Manuskript?

SB: Das ist unterschiedlich. Die allererste Idee kann schon Jahre lang in meinem Kopf herumgeschwirrt sein, bevor ich sie tatsächlich aufschreibe. Mit einigen macht es Spaß, sie nebenher immer weiterzuentwickeln. Andere kommen einfach so aus dem Nichts und sind schon fertig. Die echte Arbeit beginnt, wenn ich entscheiden muss, auf welcher Idee ich den nächsten Roman aufbauen will. Und ich verbringe SEHR viel Zeit mit thematischer Recherche. Erst danach fange ich an, die Handlung zu entwickeln, und erst wenn alles fest steht und perfekt stimmt, beginnt das Schreiben. Dabei fühle ich mich oft wie im Rausch, und  manchmal geht der eigentliche Schreibprozess sogar am schnellsten. Es kann viel Spaß machen, aber es gibt auch Tage, an denen ich mürrisch und schlecht gelaunt bin – meistens dann, wenn ich in der Geschichte gerade jemanden umgebracht habe :) Aber um es einmal auf den Punkt zu bringen: Nach der Recherche und Konzeptentwicklung brauche ich für das Schreiben eines Buchs etwa sechs Monate.

PV:Skandinavien ist ein Traumreiseziel vieler Deutscher – wohin würden Sie gerne einmal in den Urlaub fahren?

SB: Ich LIEBE Reisen und reise sehr viel. Wenn man in einem Land lebt, dass fast sechs Monate des Jahres kalt, dunkel und wolkenverhangen ist, dann sehnt man sich automatisch nach wärmeren Gefilden. Im Frühling und Sommer ist Dänemark wunderschön, aber sobald es Oktober wird, träume ich von sonnigeren Plätzen. Ich bin auch schon viel herumgekommen in der Welt. Letztes Weihnachten habe ich zum Beispiel in Mexiko gefeiert.

PV:Waren Sie schon mal in Deutschland, und sprechen Sie vielleicht sogar ein paar Wörter Deutsch?

SB: Ja, ich war schon einige Male in Deutschland. Leider habe ich noch längst nicht alles gesehen, was ich gerne sehen würde, aber ich war schon in Berlin, Hamburg, Köln und Bonn. Ich kenne viele Wörter auf Deutsch und verstehe meist auch ein bisschen was, aber wirklich sprechen kann ich es leider nicht. Ich bin auf einer Insel namens Sjælland aufgewachsen, auf der auch Kopenhagen liegt, und die Verbindung zu Deutschland ist dort nicht so stark wie etwa in Jütland. Im Süden Jütlands schauen die Leute deutsches Fernsehen, bei mir hingegen liefen schwedische Sender. Aber vielleicht werde ich Deutsch noch irgendwann lernen … es ist nie zu spät :)

Das vergessene MädchenDas vergessene Mädchen

Ein Fall für Alexander Gerlach

Auf einer Klassenfahrt verschwindet die junge Lea spurlos. Erst kürzlich wurde ein Mädchen entführt und umgebracht, der Täter ist noch immer auf freiem Fuß. Steckt hinter Leas Verschwinden der ältere Mann, mit dem sie eine Affäre hatte? Was ist mit dem unglücklich verliebten Mitschüler, der wie vom Erdboden verschluckt ist? Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Mitarbeiter von Kripochef Gerlach wird angeschossen. Der verliebte Mitschüler liegt bewusstlos auf der Intensivstation. Und von Lea keine Spur …

„Gerlach ist der sympathischste Beamte, den je ein Autor erfunden hat!“ Rhein-Neckar-Zeitung

Preisgekrönte Spannung in Krimiserie! 

Mit „Heidelberger Requiem“ legte Wolfgang Burger 2005 ein fulminantes Krimi-Debüt vor, das sich aus dem Stand zur neuen Obsession der Fans des Ermittlerkrimis mauserte. Seine Bücher waren bereits mehrfach für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, so auch der achtzehnte Band „Am Ende des Zorns“.

1

Anfangs dachten wir alle, Lea sei einfach vergessen worden. Sie war neu in der Schule, wohnte erst seit wenigen Monaten in Heidelberg und – all das erfuhr ich natürlich erst später und in kleinen Häppchen – hatte sich noch nicht so recht eingelebt in ihrer neuen Heimat.

Die beiden zehnten Klassen des Helmholtz-Gymnasiums hatten einen Bildungsausflug nach Straßburg gemacht, um das Europaparlament zu besuchen und anschließend eine Führung durch das berühmte gotische Münster über sich ergehen zu lassen. Im Parlament hatten die mäßig beglückten Jugendlichen die Ehre gehabt, einer Diskussion über die EU-weite Normung von Rostschutzlacken beizuwohnen. Das Münster fanden manche cool, andere irgendwie groß, die meisten einfach nur furchtbar alt und langweilig.

Im Lauf des Tages war die Veranstaltung mehr und mehr aus dem Ruder gelaufen. Eine Gruppe von Mädchen hatte sich schon früh verflüchtigt, um anstelle altertümlicher Kirchen lieber­ mo­­derne Boutiquen zu besichtigen. Andere waren ein­zeln ihren je­­weiligen Interessen nachgegangen. Der Rest ließ sich von den begleitenden Lehrkräften noch durch das pittoreske Viertel Petit France scheuchen, und am Ende waren auch die beiden Lehrer erleichtert gewesen, als sie ihren gähnenden und nörgelnden Schützlingen einige Stunden freigeben konnten, um auf eigene Faust die Straßburger Weihnachtsmärkte zu er­­kunden.

Vereinbarter und mehrfach verkündeter Abfahrttermin war einundzwanzig Uhr. Und zwar pünktlich.

Um einundzwanzig Uhr sechsunddreißig waren auch die Letzten eingetrudelt, eine glühweinselig singende gemischtgeschlechtliche Rasselbande. Die Lehrer zählten durch, und als die Summe nicht stimmte, zählten sie ein zweites und ein drittes Mal durch. Aber immer war das Ergebnis entweder zu niedrig oder zu hoch, da ständig jemand den Platz wechselte, irgendwer gerade auf der bordeigenen Toilette saß oder für eine letzte Zigarette noch einmal kurz an die frische Luft musste. Der Fahrer maulte, man sei zu spät, und wenn er nach Mitternacht nach Hause komme, müsse er einen Aufschlag berechnen. Schließlich gaben die Lehrer das Signal zur Abfahrt, da alle Anwesenden lautstark versicherten, ihre Sitznachbarn vom Morgen seien anwesend.

Erst unterwegs, auf halbem Weg nach Heidelberg, fiel jemandem auf, dass Lea fehlte. Man versuchte, sie auf dem Handy an­­zurufen, wo sich jedoch immer nur die Mailbox meldete. Die Lehrer überlegten hin und her, was zu tun sei, und beschlossen schließlich, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und nach der Heimkehr Leas Eltern zu benachrichtigen. Schließlich war das Mädchen kein Kind mehr, sondern würde in wenigen Wochen volljährig werden. Außerdem war man erschöpft vom turbulenten und überlangen Tag.

Was die Lehrer nicht wussten, nicht wissen konnten: Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der Bus voller inzwischen größtenteils schlafender Zehntklässler das romantische Heidelberg erreichte, wurde am Rand einer einsamen Landstraße nur zwanzig Kilo­meter vom Straßburger Stadtzentrum entfernt die unbekleidete Leiche einer jungen Frau gefunden.

Am Tag ihres Verschwindens, dem zweiten Dezember, war Lea Lassalle siebzehn Jahre, elf Monate und drei Tage alt. Sie war ein hübsches, schlankes Mädchen mit sehr eigenwilligem Charakter. Und hätte ich geahnt, wie sehr ihr Schicksal in den folgenden Wochen mein Leben durcheinanderwürfeln würde, so hätte ich schleunigst Urlaub beantragt und den nächsten Zug in Richtung Süden bestiegen.




2

„Also, die Kirche war ja schon irgendwie krass“, hörte ich Sarah zu ihrer eine halbe Stunde jüngeren Zwillingsschwester sagen, als ich am Samstagmorgen noch etwas benommen die Küche betrat. Ich hatte mir den Luxus gegönnt, endlich einmal wieder richtig auszuschlafen, und war trotzdem oder gerade deswegen noch nicht ganz wach. „Wenn man überlegt, dass die damals noch nicht mal Kräne hatten und Bagger und so.“

Meine Töchter saßen beim kalorienreichen Frühstück und diskutierten den vorangegangenen Tag. Wie üblich gab es Toast mit Nutella zu Kakao mit Sahne. Ein Wunder, dass die beiden nicht längst kugelrund waren. Die grün leuchtende Digitaluhr am Herd zeigte Viertel nach zehn, und ich war überrascht, die Zwillinge um diese Uhrzeit schon in der Küche anzutreffen. Durch die hohen Altbaufenster schien eine lustlose Wintersonne herein.

Ich setzte mich gähnend zu ihnen. Gestern war es nicht nur für meine Töchter spät geworden. Ich hatte mit Theresa zusammen ihren Geburtstag nachgefeiert und außerdem die Fertigstellung ihres neuen Buchs. Seit Mitte November war es nun in der Druckerei, und in der kommenden Woche würde die Auslieferung beginnen. Wir hatten viel gelacht, echten Champagner getrunken und uns geliebt und das Leben schön und aufregend gefunden.

„Kirchen sind langweilig“, fand Louise und ließ sich von meinem Gähnen anstecken. „Die einen sind klein, die anderen sind groß, und innen ist es immer scheißkalt.“

„Du hast ja überhaupt nicht richtig hingeguckt“, fauchte Sarah. »Denkst du auch mal an was anderes als an deinen blöden­ …«

„Der ist überhaupt nicht blöd!“, fiel Louise ihr böse ins Wort. „Du bist selber …“

Erst in dieser Sekunde wurde den beiden bewusst, dass sie nicht mehr allein waren. Ich fragte mich, an wen meine kleine, gerade erst sechzehn Jahre alt gewordene Louise wohl die meiste Zeit denken mochte. Aber ich fragte nicht, denn ich hätte ohnehin nur ausweichende Antworten erhalten. Es gab Dinge, die gingen Väter nichts an.

„Und, wie war’s sonst gestern?“, fragte ich leutselig, um die peinliche Situation zu überspielen.

„Ganz okay“, erwiderte Sarah finster. »Das Münster war echt stark. Auch wenn’s bloß einen Turm hat. Aber im Parlament war’s ätzend. Bloß Gequatsche, die ganze Zeit. Und die Kopf­hörer haben auch nicht richtig funktioniert. Auf meinem hat man die deutsche Übersetzung gar nicht verstanden. Und zweimal bin ich eingepennt.«

Louise wandte sich ihrer klebrigen Fettbombe zu und grummelte: „Immerhin haben wir’s überlebt.“

Mit Menschen im Alter meiner Zwillinge konnte man vermutlich eine achtwöchige Rundreise durch China machen, und das Einzige, woran sie sich am Ende erinnern würden, wären die unmöglichen Toiletten, das komische Essen und dieser ulkige Typ mit dem schwarzen Schwein an der Leine.

Leise Musik dudelte aus dem kleinen Radio, das neben der Spüle stand. Chris Rea, „On the Beach“. Die Sonne spiegelte sich auf der blanken Holzplatte unseres Küchentischs. Richtig, Urlaub sollte man mal wieder machen, dachte ich, zur Not auch ohne Strand. Faulenzen. Schlafen, bis man nicht mehr konnte. Lesen, bis es keinen Spaß mehr machte. Ich hatte noch über drei Wochen Resturlaub aus dem vergangenen Jahr. Vielleicht sollte ich nach Weihnachten ein paar Tage davon nehmen? Der Gedanke war sehr verlockend.

Während Sarah Anekdoten von ihrem Ausflug in eine der schönsten Städte Europas erzählte, hörte ich nur mit halbem Ohr zu. In mir klang immer noch der wohlige Nachhall meines liebevollen Abends mit Theresa. Louise murmelte hin und wieder zustimmend oder ablehnend. Ihre Laune war schon seit Wochen selbst für einen Teenager ungewohnt wechselhaft, wurde mir bewusst. Da schien jemand Beziehungsprobleme zu haben. Seit Monaten nahmen die beiden die Pille, und noch immer war es mir nicht gelungen, herauszufinden, zu wessen Vergnügen meine Töchter ihre unschuldigen Körper vergifteten.

Ich erhob mich, um mir einen Cappuccino zu machen. Im Radio kamen jetzt Nachrichten. Die Börsen waren wieder einmal auf Talfahrt. Griechenland kam und kam auf keinen grünen Zweig. In den USA waren die Republikaner gegen Steuererhöhungen. In der vergangenen Nacht war am Rand der Landstraße zwischen Molsheim und Soultz-les-Bains eine unbekleidete Tote gefunden worden. Ich drehte das Radio lauter. Eine Autofahrerin hatte spätnachts eine Reifenpanne gehabt, das Reserverad montiert und sich anschließend – es war eine mondhelle Nacht gewesen – in einem nahen Bach die Hände waschen wollen. Dabei war sie auf die Leiche gestoßen. Was man bisher über die Tote sagen konnte: Die Frau war jung gewesen, als sie noch lebte, schlank und schwarzhaarig. Und vermutlich war sie Opfer eines Sexualverbrechens geworden.

In diesem Moment trillerte das Telefon im Flur.

„Marchow hier“, meldete sich eine aufgeregte Frauenstimme. „Spreche ich mit Herrn Gerlach?“

„Ja“, sagte ich zögernd. Schon ihr erster Satz klang nach Ärger. Und das Letzte, wonach mir heute der Sinn stand, war Ärger.

„Ich …“ Sie schluckte hörbar und fuhr atemlos fort: „Ich bin eine Lehrerin Ihrer Töchter. Ich unterrichte Politik und Geschichte, und ich … Wir waren ja gestern in Straßburg, wie Sie natürlich wissen, und …“

„Was haben die beiden ausgefressen?“, fragte ich. Den zweiten Teil der Frage, nämlich was mich der Spaß wohl kosten werde, behielt ich für mich.

„Es geht nicht um Louise und Sarah. Es geht um eine andere Schülerin, Lea Lassalle. Eben habe ich im Radio die Nachricht von dem toten Mädchen und … Wir haben sie gestern Abend leider vergessen in dem ganzen Tohuwabohu. Lea, meine ich. Ihre Töchter haben Ihnen vermutlich schon davon berichtet?“

„Nein.“

„Sie war nicht im Bus. Aber sie ist fast volljährig, und wir waren alle ein wenig kaputt und außerdem schon halb in Heidelberg, als endlich jemandem aufgefallen ist, dass sie fehlte. Ihr Handy war aus. Ich habe später noch versucht, die Eltern zu erreichen, aber da war es schon kurz vor Mitternacht und … ich … ach …“

Ich zupfte am Ärmel meines Trenchcoats herum, den ich gestern Abend sehr achtlos an die Garderobe gehängt hatte, und betrachtete mein verschlafenes und unrasiertes Gesicht im Spiegel.

„Sie haben niemanden erreicht?“

„Ich habe es gestern Abend x-mal auf Leas Handy versucht und heute Morgen schon wieder. Und jetzt hat man diese tote junge Frau gefunden. Sie sei vergewaltigt worden, heißt es. Mein Gott, ich mag mir gar nicht vorstellen, was … Sie sind doch Polizist? Ich erinnere mich doch richtig, oder? Ich dachte, ich rufe lieber nicht gleich die Polizei an, offiziell, meine ich. Sie sind ja auch die Polizei, sozusagen. Chef der Kriminalpolizei sogar, nicht wahr?“

„Das ist richtig.“

„Ich mache mir solche Vorwürfe. Jugendliche in diesem Alter, das ist wie Flöhehüten und … Und man kann doch nicht ständig und immer …“

„Sagten Sie nicht gerade, Lea ist fast volljährig?“

„Ich glaube, sie hat mal eine Klassenstufe wiederholen müssen, genau weiß ich es nicht. Sie ist ja erst seit Beginn des Schuljahrs bei uns. Und sie ist … nun ja, nicht unkompliziert. Einen richtigen Anschluss an die Klasse hat sie noch nicht gefunden. Deshalb ist es wohl nicht gleich aufgefallen, dass sie nicht dabei war. Ich erinnere mich noch, wie ich sie gesehen habe im Bus. Sie muss später noch einmal ausgestiegen sein, und in dem Tumult hat es niemand bemerkt. Und so haben wir sie dann … vergessen eben. Ich mache mir solche Vorwürfe, Herr Gerlach. Aber Sie machen sich keine Vorstellung. Es ist wirklich, als wollte man Flöhe …“ Sie lachte schrill, verstummte sofort wieder.

„Ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Lea ist wirklich kein Kind mehr. Ich bin überzeugt, dass sie bald gesund und munter wiederauftauchen wird.“

„Aber das Handy …?“

„Vielleicht ist es kaputt?“

„Die Eltern. Man muss wenigstens die Eltern informieren. Aber sie gehen nicht ans Telefon. Ich war sogar dort, vorhin. Ich bin extra hingefahren. Aber es scheint niemand zu Hause zu sein. Jetzt weiß ich nicht, was ich noch tun soll …“

„Vorläufig nichts. Jetzt können wir nur abwarten. Aber ich werde sicherheitshalber bei meinen Kollegen nachfragen, ob man etwas von einem Unfall in Straßburg weiß oder von einer jungen Frau, die in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Und wenn die Eltern das Telefon nicht abnehmen, dann schicke ich eine Streife vorbei. Irgendjemand in der Nachbarschaft wird hoffentlich wissen, wo die Leute stecken.“

Ich notierte mir Adresse und Telefonnummern der Eltern. Fichtestraße, Südstadt.

Die Oberstudienrätin bedankte sich zugleich erleichtert und völlig aufgelöst vor Sorge und Selbstvorwürfen. „Sie geben mir bitte gleich Bescheid, wenn Sie etwas erfahren, ja? Ich habe keine ruhige Minute, solange ich nicht weiß, was mit Lea ist.“

Ich drückte den roten Knopf und wählte die Nummer der Polizeidirektion. Nein, niemand hatte in den vergangenen Stunden eine Lea als vermisst gemeldet. In den letzten drei Wochen hatte es in Heidelberg überhaupt keine Vermisstenmeldungen gegeben. Nur um ganz sicher zu sein, bat ich die aufgeweckte Kollegin, mit der ich sprach, Kontakt mit der Straßburger Polizei aufzunehmen. Sie versprach, sich sofort darum zu kümmern, notierte den Namen des vergessenen Mädchens und stellte keine Fragen.

Versuchsweise tippte ich die Nummer ein, die Frau Marchow mir genannt hatte. Es tutete und tutete, aber niemand nahm ab. Einen Anrufbeantworter schien es nicht zu geben. So rief ich noch ein zweites Mal in der Direktion an und bat, eine Streife in die Fichtestraße zu schicken.

„Was ist mit Lea?“, wollte Sarah wissen. Natürlich hatten die beiden die Telefongespräche mitgehört.

„Sie war bei der Rückfahrt nicht im Bus. Habt ihr das nicht mitgekriegt?“

„Nö.“ Sarah zuckte die Achseln und verzog den Mund.

Louise murmelte etwas wie: „Doofe Tusse.“

„Da ist die ganze Zeit so ein Chaos gewesen“, erklärte Sarah. „Ein Geschrei wie bei den Erstklässlern. Wir haben ganz hinten gesessen mit ein paar Jungs. Und später haben wir gepennt.“

„Irgendwer hat irgendwann gesagt: ›Lea fehlt‹“, fiel Louise plötzlich ein. „Chip, glaube ich.“

„Blödsinn!“, widersprach Sarah im Oberlehrerton. „Der ist doch gar nicht dabei gewesen. Der ist doch krank.“

„Jedenfalls ist die Marchow total ausgeflippt“, meckerte Louise zurück. „Aber das hast du natürlich nicht mitgekriegt, weil du mit dem Richy …“

Sarah rollte die Augen. „Wann flippt die Marchow mal nicht aus?“

„Schade, dass der Plako nicht dabei gewesen ist. Die Marchow nervt echt.“

„Plako ist unser Mathelehrer.“ Sarah war mein verständnis­loser Blick nicht entgangen. „Voll der coole Typ.“

„Der coolste von allen Lehrern“, ergänzte Louise.

„Eure Lehrerin sagt, Lea sei schon im Bus gewesen, aber kurz vor der Abfahrt wieder ausgestiegen.“

„Also, ich hab sie nicht gesehen“, sagte Louise gelangweilt. „War ja auch so ein Durcheinander. Die meisten von den Jungs waren besoffen. Die hatten Schnaps gekauft und Red Bull und im Bus Party gemacht. Ein paar haben später gekotzt. Und die Marchow hat fast ’nen Herzkasper gekriegt.“

„Den Tag über ist Lea die meiste Zeit für sich gewesen“, erinnerte sich Sarah mit hochgezogenen Brauen.

„Wann ist die mal nicht für sich?“ Louise leerte entschlossen ihren Kakao. „Hält sich für supercool, weil sie schon fast achtzehn ist und nicht aus Heidelberg stammt.“

„Jedes Mal, wenn ich sie gesehen habe, hat sie das Handy am Ohr gehabt. Kein Wunder, dass ihr Akku leer ist.“

Das wäre immerhin eine Erklärung dafür, dass sie nicht erreichbar war, überlegte ich.

Meine Töchter erhoben sich und stellten zu meiner Überraschung unaufgefordert ihre Teller in die Spülmaschine.

„Wir gehen jetzt duschen und später in die Stadt“, wurde ich gnädig aufgeklärt. „Zum Essen sind wir wahrscheinlich nicht da.“

Die Kaffeemaschine erinnerte mich mit einem gurgelnden Ge­­räusch daran, dass ich mir einen Cappuccino hatte machen wollen. Ich stellte meine Tasse unter den Auslass und drückte den Knopf. Es begann nach Kaffee zu duften.

Die Badezimmertür fiel lautstark ins Schloss.

Sekunden später stand Sarah wieder in der Küche.

„Paps“, begann sie unbehaglich und wich meinem Blick aus. „Ich glaub, Lea hat was mit ’nem älteren Typ am Laufen. Vielleicht ist das ja wichtig, hab ich gedacht.“

„Ihr mögt sie nicht besonders, was?“

„Sie ist … weiß auch nicht … irgendwie komisch. Man kommt nicht an sie ran. Nur die Jungs, die fahren natürlich alle auf sie ab, weil sie echt gut aussieht und gern auf unnahbar macht. Ich hab mir überlegt, vielleicht hat sie die ganze Zeit mit ihrem Typ telefoniert, und er hat sie später abgeholt, und sie ist mit ihm durchgebrannt? Könnte doch sein, oder nicht?“

Mein Cappuccino war fertig. Mit der großen Tasse in der Hand setzte ich mich an den Tisch und hielt das Gesicht in die Morgensonne. Im Radio lief John Lennon, „Imagine there’s no heaven … No hell below us …“

„Was weißt du über den Mann?“, fragte ich.

„Nichts eigentlich“, gab Sarah verlegen zu. „Er soll einen Mercedes haben. Und schicke Klamotten und so. Kann auch sein, dass es bloß ein Gerücht ist. Wird so viel gequatscht.“

„Wie alt soll er denn sein, der alte Mann?“

»Fünfundzwanzig? Vielleicht sogar noch älter. Aber wie ge­­sagt …«

„Seid ihr wenigstens zum Abendessen da?“

„Weiß nicht. Wir rufen dich an. Ich geh dann jetzt duschen. Paps?“ Noch einmal wandte sie sich um. „Es wird ihr doch nichts … passiert sein?“

„Neunundneunzig Komma neun Prozent aller ausgebüxten Teenager tauchen spätestens wieder auf, wenn ihnen das Geld ausgeht. Macht euch keine Sorgen.“

„Und die tote Frau in Straßburg?“

„Sicher nur ein Zufall. Aber ich werde mich trotzdem um die Sache kümmern.“

Augenblicke später knallte die Badezimmertür ein zweites Mal.

Als ich meine Tasse zur Hälfte geleert hatte, meldete sich erneut das Telefon. Diesmal war es die Kollegin, mit der ich vor einer Viertelstunde gesprochen hatte.

„Mir ist da grad was aufgefallen“, begann sie ohne Umschweife. „Wir haben hier einen Justus Lassalle in der Ausnüchterung. Zwei Kollegen haben ihn heute Morgen von der Straße aufgelesen. In seinem Ausweis steht, er wohnt in der Fichtestraße.“

„Ist er ansprechbar?“

„Können Sie vergessen.“ Sie lachte leise. „Wird ein Weilchen dauern, bis der seinen Rausch ausgeschlafen hat. Was komisch ist: An seinem Ärmel ist Blut. Er hat aber gar keine Verletzung, hat der Arzt vorhin festgestellt. Scheint nicht sein Blut zu sein.“

„Hat die Streife sich schon gemeldet, die Sie in die Südstadt geschickt haben?“

„Da macht keiner auf. Das Haus ist dunkel. Und die Nachbarn wissen nichts.“

Ich beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen und mir Leas Vater anzusehen. Gegen Mittag würde ich mich mit Theresa treffen­. Ihr Mann war das Wochenende über unterwegs, und so hatten wir gestern Abend spontan beschlossen, ihr Strohwitwendasein für einen gemütlichen Adventsausflug nach Mannheim zu nutzen.

Die Zwillinge lärmten fröhlich im Bad. Ich leerte meine Tasse und ließ sie auf dem Tisch stehen.


Justus Lassalle schnarchte wie ein Sägewerk, stank wie eine Schnapsbrennerei und machte zwischendurch schmatzende Ge­­räusche. Ich rüttelte an der Schulter des in eine grobe, graue Decke gewickelten Mannes, der etwa fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Sein Körperbau war knochig, und er war so groß gewachsen, dass die in braunen Socken steckenden Füße über die abwaschbare Matratze hinausragten. Das rötliche Haar stand borstig vom kantigen Kopf ab. Auch die Handrücken waren dicht behaart. Leas Vater gab ein unwilliges Geräusch von sich, ungefähr wie ein großer Hund, den man versehentlich getreten hat, und drehte den Kopf zur anderen Seite.

„Hab ich’s Ihnen nicht gesagt? Der braucht noch ein paar Stunden.“ Die Kollegin, die mich informiert hatte, weigerte sich strikt, die nach Alkohol und Erbrochenem stinkende Zelle zu betreten, und beobachtete meinen sinnlosen Weckversuch durch die Tür. Sie war klein und muskulös. Ihr sandfarbenes Haar trug sie knabenhaft kurz geschnitten. Im runden Gesicht saß eine Nickelbrille auf einem leicht nach oben gebogenen Näschen.

„Wo hat man ihn aufgelesen?“

Sie warf einen Blick in das Protokoll, das sie in der Hand hielt. „Fünf Uhr achtunddreißig, in der Nähe vom Karlstor. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, müssten Sie die Kollegen fragen, denen er den Wagen vollgekotzt hat. Ich habe schon lange keinen Kerl mehr gesehen, der so dermaßen besoffen war wie der da.“

„Nich b’soff’n!“, quengelte eine heisere Männerstimme. „Nur bichen müde. Bichen müde. Noch ssu früh.“

Leas Vater war aufgewacht. Aber die Augenlider bekam er noch nicht auseinander.

„Es geht um Ihre Tochter“, erklärte ich laut und in amtlichem Ton. „Verstehen Sie mich? Sie ist verschwunden.“

„Rotzkröte“, murmelte er, schmatzte befriedigt und schlief wieder ein.

„Was ist mit dem Blut an seinem Hemd?“, fragte ich die kleine Kollegin, als sie die Zellentür von außen verschloss.

„Am linken Ärmel. Und nicht nur ein paar Tropfen. Das Hemd habe ich vorsichtshalber sicherstellen lassen. Möchten Sie es haben?“

Mein Handy brummte in der Brusttasche des Jacketts. „Theresa“, stand auf dem Display.

„Alexander, wo steckst du?“, fragte sie verwundert. „Ich stehe am Bismarckplatz und warte auf dich!“

Unsere Bahn nach Mannheim ging in fünf Minuten, wurde mir siedend heiß klar. Meine Liebste wollte shoppen, war auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken für ihren Mann und diverse Freundinnen, und ich konnte das eine oder andere neue Kleidungsstück zur Komplettierung meiner Wintergarderobe gebrauchen.

„Ich hatte noch kurz in der Direktion zu tun“, erklärte ich eilig. „Ich steige bei der Stadtbücherei zu. Hältst du mir einen Platz frei?“




3

Obwohl wir nun schon seit über zwei Jahren ein Paar waren, war ein gemeinsamer Stadtbummel eine neue Erfahrung für Theresa und mich. Da sie nicht nur meine Geliebte, sondern zugleich die Ehefrau meines Chefs war, hatten wir uns lange nicht als Paar in der Öffentlichkeit zeigen können. Und auch heute, nachdem sich manches verändert hatte, wollten wir in Heidelberg nicht zusammen gesehen werden.

Mannheim dagegen schien uns ideal. Weil Theresa es romantisch fand und ich die samstäglichen Staus fürchtete, hatten wir beschlossen, die Straßenbahn zu nehmen. In weniger als drei Wochen war Heiligabend, und für den Einzelhandel war heute der erste Großkampftag im Advent.

Als ich die Haltestelle erreichte, bremste die Bahn schon. Sie war vorweihnachtlich überfüllt. Auch andere fürchteten offenbar Verkehrschaos und Parkplatznot. Die Linie fünf empfing mich mit muffiger, nach feuchter Wolle riechender Wärme und stickiger Luft. Theresas dunkelblonde Lockenpracht entdeckte ich im hinteren Teil der Bahn. Sie hatte erfolgreich einen Platz für mich verteidigt.

Aufatmend sank ich in die gepolsterte Rückenlehne. Wir sahen uns an. Lächelten. Kamen ohne Worte überein, dass es nicht klug war, sich in aller Öffentlichkeit zu küssen, noch dazu beobachtet von neidischen Mitfahrern, die nur einen Stehplatz ergattert hatten. Theresa trug einen eleganten, anthrazitfarbenen Wollmantel mit Kunstpelzkragen zu Bluejeans und gefütterten Stiefeln. Nicht nur, weil die Bahn voll war, rückte ich eng an sie heran. Sie ergriff meine Hand so, dass niemand es sehen konnte, und wieder einmal fühlten wir uns wie Diebe. Die Bahn stoppte alle paar Hundert Meter. Immer mehr Fahrgäste stiegen ein.

Theresa erzählte mir von einem Telefonat mit ihrer Agentin, die hören wollte, ob sie schon eine Idee für ihr drittes Buch habe.

»Sie meint, solche populärwissenschaftlichen Sachen mit Hu­­mor wären vielleicht eine Marktlücke. Es muss natürlich fürs gemeine Volk lesbar sein.«

„Fürs gemeine Volk?“

Theresa lachte und drückte meine Hand fester. „Ihre Worte, nicht meine. Carmen meint, mein Terrorismusschinken passt perfekt in die Zeit. Könnte sogar ein Renner werden, meint sie. Und dann brauchen wir natürlich schleunigst Nachschub.“

Die Bahn hatte Heidelberg inzwischen hinter sich gelassen. Wir fuhren mit zügiger Geschwindigkeit durch dünn besiedeltes Ge­­biet. Dunkelbraune Felder flogen vorbei, kahle Bäume, zerzauste Hecken, ein Krähenschwarm. Inzwischen war die Sonne verschwunden, und es regnete ein wenig. Die feuchte Wärme und das Schaukeln der Bahn machten mich schläfrig. Draußen tauchten wieder Häuser auf. Friedrichsfeld, erklärte die freundliche Lautsprecherstimme. Immer noch wurde es von Haltestelle zu Haltestelle voller. Ein älterer Mann, der stehen musste, drückte mir als stummen Vorwurf sein rechtes Knie gegen die Hüfte. Ich rückte noch näher an Theresa heran. Aber er folgte hartnäckig.

Allmählich begann ich mich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das Auto stehen zu lassen. Andererseits entdeckte ich an diesem Tag einen der wenigen Vorzüge des Älterwerdens: Ich brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, weil viele andere stehen mussten, während ich saß. Ich brauchte nicht mehr angestrengt in ein Buch zu starren, als wäre es so fesselnd, dass ich Umwelt und Anstand vergaß. Die Sitte, älteren Menschen seinen Platz anzubieten, schien ohnehin aus der Mode ge­­kommen zu sein, fiel mir wieder einmal auf.

Mein Handy riss mich surrend aus dem Dämmerschlaf. Es dauerte ein Weilchen, bis ich es gefunden und aus der Innentasche meines Mantels gefummelt hatte. Wieder die eifrige Kollegin mit Stupsnase.

„Herr Gerlach, ich habe mir überlegt, der Herr Lassalle ist ja am Karlsplatz gefunden worden. Ganz in der Nähe vom Bahnhof Altstadt.“

„Sie denken, er ist mit dem Zug gefahren?“

„Um die Zeit gehen da keine Züge. Er ist mit dem Bus um fünf Uhr fünfundzwanzig gekommen. Ich habe eben mit dem Fahrer telefoniert. Lassalle ist in Mannheim am Hauptbahnhof eingestiegen. Da hat der Fahrer noch nicht den Eindruck gehabt, er wäre sternhagelvoll. Er hat sich hinten in die letzte Reihe gefläzt und ist praktisch sofort eingeschlafen.“

Als ich das Handy vom Ohr nahm, fiel mir noch etwas ein. „Haben Sie schon was aus Straßburg gehört?“

„In einem Krankenhaus liegt das Mädel jedenfalls nicht. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke? Die hat da gestern wen kennengelernt und eine wilde Nacht gehabt. Und jetzt sitzen die zwei gerade beim gemütlichen Frühstück.“

„Die Straßburger Kollegen sollen trotzdem ein bisschen Augen und Ohren offen halten. Ich versuche, ein Foto von dem Mädchen aufzutreiben und eine brauchbare Beschreibung.“

Vor den inzwischen beschlagenen Fenstern sah es jetzt nach Großstadt aus. Links Industrie, rechts die SAP-Arena mit ihren Glasfronten und dem schwebenden Dach. In den Gängen der Bahn standen sich die Fahrgäste auf den Füßen. Die allgemeine Laune war eher unweihnachtlich.

Theresa wollte wissen, wer dieses Mädchen war, dessen Namen sie eben aufgeschnappt hatte. Ich erzählte im Telegrammstil von Lea Lassalle, die vermutlich gar nicht vergessen worden war, sondern eigene Pläne verfolgt hatte. Vielleicht lag die Kollegin gar nicht so falsch mit ihrer Theorie. Vielleicht saß Lea auch längst zu Hause und fragte sich, wo ihre Eltern geblieben sein mochten. Ich erzählte auch von ihrem Vater, der in einer der Ausnüchterungszellen des Reviers Mitte seinen rekordverdächtigen Rausch ausschlief und sich nicht im Geringsten für das Schicksal seiner Tochter interessierte.

„Der Arzt meint, von Rechts wegen dürfte der Mann gar nicht mehr am Leben sein. Drei Komma irgendwas. Er scheint eine gut trainierte Leber zu haben.“

„Und die Mutter?“

Ich zuckte die Achseln. „Von einer Mutter war bisher nicht die Rede.“

Die Bahn bremste. Mannheim Hauptbahnhof, verkündete die weibliche Tonbandstimme. Alles drängte zu den Türen, als wäre plötzlich Feuer ausgebrochen. Theresa und ich waren unter den Letzten, die ausstiegen. Wir hatten es nicht eilig. Wir waren zum Vergnügen hier.

Auf dem Weg zur Bahnhofshalle kam mir ein Gedanke. „Wäre es schlimm, wenn wir einen kleinen Umweg machen würden?“, fragte ich.

Theresa lächelte nachsichtig und zog mich fester an sich. „Vergiss nicht, ich bin seit zwanzig Jahren mit einem Polizisten verheiratet.“

Erfreulicherweise stand keine Schlange am Infopoint.

„Aus Straßburg?“, fragte eine müde Frau in schlecht gebügelter Uniform. „Augenblickchen … Der letzte kommt hier um ein Uhr achtundzwanzig in der Nacht an. Der nächste dann erst wieder am Morgen. Sechs Uhr zweiundzwanzig.“

„Denkst du etwa, der Vater hat seiner Tochter was angetan?“, wollte Theresa wissen, als wir in Richtung Innenstadt schlenderten. Ein kalter Wind ging, aber wir waren klug genug gewesen, uns warm anzuziehen. Theresa nutzte den Aufenthalt an der frischen Luft, um eine Zigarette zu rauchen. Nach einem kläglich gescheiterten Versuch, ihr Laster aufzugeben, versuchte sie inzwischen zumindest, ihren Tabakkonsum ein wenig einzuschränken.

„Momentan ist es zu früh, etwas zu denken.“ Ich küsste sie mitten auf den Mund. „Und außerdem ist jetzt Wochenende.“

Der Himmel war grau, aber doch nicht so unfreundlich, wie es durch die beschlagenen Fenster der Bahn gewirkt hatte. Die Sonne war als blasse Scheibe zu erahnen, der Regen hatte schon wieder aufgehört.

Die Straßenbahn war doch eine gute Idee gewesen, stellten wir fest. An jeder Ecke staute sich der Einkaufsverkehr. Vor jeder Tiefgarage wartete eine lange Schlange. Schon von ferne hörten wir das „White-Christmas“-Gedudel vom Weihnachtsmarkt rund um den historischen Wasserturm. Wir sahen uns an und merkten, dass wir beide hungrig waren.

Auch der gemeinsame Besuch eines Weihnachtsmarkts war eine neue Erfahrung für uns. Neue Erfahrungen seien gut, fand Theresa, weil mit der Zeit alte Erinnerungen daraus wurden. Wir bummelten über den um diese Uhrzeit nur mäßig besuchten Markt. Lichter glitzerten gegen die matte Sonne an. Gebrannte Mandeln dufteten um die Wette mit Glühwein und Punsch. Theresa hatte Appetit auf Fischbrötchen. Fischbrötchen gab es nicht.

„Du bist aber nicht schwanger oder so was?“

Sie knuffte mir ihren durch den Mantel gut gepolsterten Ellbogen in die Seite und disponierte um auf Thüringer Bratwurst. Zu groben Bratwürsten passte im Advent ein herzhafter Glühwein, beschlossen wir.

Leicht angesäuselt spazierten wir später die Heidelberger Straße entlang in Richtung Zentrum. Obwohl es erst kurz nach zwei war, schien es schon wieder zu dunkeln.

„Hast du eigentlich irgendwas mit deinen Haaren gemacht?“, fragte ich.

„Meine Haare?“ Theresa sah mich verständnislos an. „Was soll damit sein?“

„Sie kommen mir heller vor als sonst.“

Sie prustete los. „Ich habe sie aufhellen lassen, stimmt. Vor gut drei Monaten.“ Sie schmiegte den aufgehellten Kopf an meine Schulter. „Wenn es dich tröstet, Egonchen ist es auch noch nicht aufgefallen.“

Einige Meter gingen wir schweigend.

„Eigentlich kann ich dieses ganze Weihnachtsgedöns ja nicht ausstehen“, gestand Theresa schließlich. „Aber mit dir zusammen ist es doch irgendwie schön.“

„Das ist wahre Liebe“, verkündete ich pathetisch. „Mit dem Menschen, den man wirklich liebt, macht sogar Kloputzen Spaß.“

„Na ja.“ Sie klebte mir einen Kuss auf den Mund, der ein wenig nach mittelscharfem Senf und Gewürznelken schmeckte. „Das überlasse ich dann doch lieber meiner guten Tanja.“

Abwechselnd philosophierend und blödelnd zogen wir durch Kaufhäuser und ungezählte Boutiquen, und irgendwann erklärte Theresa, sie habe in der Aufregung des Stöberns leider vergessen, wonach sie eigentlich suchte. Außerdem machte ihr das Einkaufen plötzlich keinen Spaß mehr. Mir ging das Gedränge und Geschubse ohnehin auf die Nerven, und so tranken wir einen gepflegten Tee in einem heimeligen und gut geheizten Café in einer Seitenstraße. Theresa entdeckte auf der anderen Straßenseite ein kleines Hotel und betrachtete mich mit einem absolut unchristlichen Funkeln im Blick.

„Denkst du hin und wieder auch mal an was anderes als an Sex?“, fragte ich.

„Manchmal denke ich auch an Essen“, erwiderte sie ernst. „Aber gegessen haben wir ja schon.“

Ich winkte der breitestes Kurpfälzisch sprechenden Bedienung und verlangte die Rechnung.

Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Draußen war es dunkel, und wir fanden, dass Weihnachtsshopping erstaunlich müde machte.

„Ich habe Ausgang bis zum Wecken“, schnurrte Theresa und kuschelte sich an mich. „Wie ist es bei dir?“

„Ich müsste erst eine SMS schreiben.“

„Dann tu das.“

Meine Töchter gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre Freude über meine nächtliche Abwesenheit zu verbergen.

„Um zwölf seid ihr aber daheim, okay?“, schrieb ich sicherheitshalber zurück.

„Klar, Paps. Um zwölf. Spätestens.“

„Ist noch gar nicht sicher, dass wir übernachten.“

„Klar, Paps. Um zwölf.“

Kinder sind immer schlauer, als ihre Eltern denken. Natürlich wussten die Zwillinge, mit wem ich die Nacht verbringen würde. Sie hatten Theresa inzwischen kennengelernt. Im Oktober hatten wir sie ganz zufällig in der Stadt getroffen. Meine Töchter waren anfangs reserviert gewesen, hatten meine Liebste intensiv gemustert und ihre freundlichen Fragen artig, aber knapp beantwortet. Am Ende waren sie jedoch mit meiner Wahl zufrieden gewesen. Und Theresa hatte gestrahlt. Sie war so glücklich gewesen, wie ich sie lange nicht erlebt hatte.

Damals hatten wir beschlossen, uns einmal zu viert zum Abendessen zu treffen, weshalb die Gattin meines Chefs am kommen­den Dienstag ganz offiziell bei uns zu Gast sein würde.

Der Pfad des Todes

Kriminalroman

In den Tiefen der dänischen Wälder zeichnet eine Wildkamera Bilder eines verängstigten Jugendlichen auf. Als sich herausstellt, dass der Junge vor mehr als zwei Wochen als vermisst gemeldet wurde, ist Kommissarin Louise Rick alarmiert. Warum wirkt er auf den Aufnahmen so panisch? Und warum kehrt er nicht nach Hause zurück? Dann wird im selben Wald die Leiche einer jungen Frau gefunden. Louise steht kurz davor, einer Reihe ungesühnter Verbrechen auf die Spur zu kommen, die schon lange zurückliegen. Denn der Waldboden ist mit Blut getränkt …

Er zögerte. Dann nahm er das tote Huhn, das sein Vater ihm reichte. Da, wo vorher der Kopf gewesen war, klebte jetzt Blut an dem weißen Gefieder. Sune hatte Blut noch nie gemocht. Den Geruch nicht und auch nicht die dunkle Farbe, wenn es herauslief und eine Pfütze bildete. Aber das wollte er sich heute nicht anmerken lassen. Nicht vor seinem Vater. Nicht heute. Wenn seine Mutter auch mit dabei wäre, dann wäre alles leichter, dachte er und blinzelte ein paarmal. Aber seine Mutter lag in ihrem Schlafzimmer im Sterben. Fast den ganzen Tag hatte er an ihrem Bett gesessen. Das Schlimmste war der Tropf. Die Stelle, wo die Nadel in ihrer Hand verschwand. Er konnte gar nicht hinsehen, obwohl ein Pflaster darüberklebte. Sie hatte geschlafen, als sein Vater ihm zurief, sie müssten los. Seit Monaten hatte er sich auf seine Jugendweihe gefreut, auf das Ritual und die Feier. Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, abends als Kind von zu Hause wegzufahren und irgendwann nachts als Mann zurückzukehren. Zumindest würde er von da an als solcher betrachtet werden und die gleichen Rechte und Pflichten haben wie ein Erwachsener. Seine Klassenkameraden waren bereits alle konfirmiert, aber die Asatrus bestätigten ihren Glauben erst an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Und Sune wurde heute fünfzehn. Er legte das Huhn in den Eimer, den sein Vater geholt hatte, und stellte ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, bevor er selbst ins Auto kletterte. Sein Vater hatte den weißen Lieferwagen mit allem beladen, was sie für den Mitternachtsblót brauchten, und er selbst hatte sich gerade noch einmal vergewissert, dass er auch wirklich die beiden kleinen Geschenke für die Götter dabeihatte. Das eine sollte seine Kindheit symbolisieren, das andere seine Zukunft. Er hatte sich für sein Lieblingskinderbuch entschieden, obwohl es ihm sehr schwerfiel, sich von der abgegriffenen Ausgabe von Pu der Bär zu trennen. Tesafilm hielt das Buch zusammen. Seine Mutter hatte ihm daraus vorgelesen, bis die Seiten herausfielen. Sune wusste, dass seinem Vater diese Entscheidung nicht passte. Statt eines Buches hätte der Junge doch besser einen Fußball genommen, hatte er gesagt. Aber Sunes Mutter hatte zu ihrem Sohn gehalten. Die andere Opfergabe war das große Taschenmesser, ein Geschenk seines Vaters. Sune hoffte, die Götter würden ihm als Erwachsenem dafür Mut und Stärke geben. Er wollte ganz bestimmt nicht Schlachter werden wie sein Vater und sein Großvater. Aber ihm war nichts Besseres als dieses Messer und dieser Wunsch eingefallen. Und sein Vater war zufrieden gewesen. Sune würde auch selbst ein Geschenk bekommen. Ein Geschenk, das ihm einen Schubs in die richtige Richtung geben würde. Sein Vater hatte seinerzeit ein Schlachtermesser bekommen. Lesen und Schreiben waren nicht seine Stärke gewesen, und so hatte Sunes Großvater seinen Sohn gleich nach dessen Jugendweihe von der Schule und zu sich in die Schlachterlehre genommen. Sune hatte auch schon von einem Jungen gehört, der ein Flugticket nach irgendwohin ganz weit weg bekommen hatte, begleitet von der Ansage, er solle erst dann zurückkehren, wenn er nicht mehr an Mutters Rockzipfel hing. Er war nie wiedergekommen. Sune hoffte, eine Silberkette mit einem Thorshammer zu bekommen, dem Symbol ihres nordischen Glaubens. Sein Vater hatte ihm vorgeschlagen, sich das zu wünschen. Als sie jetzt in den Waldweg abbogen und der Vater ihn fragte, ob er bereit sei, lächelte Sune und nickte. Er sah die Fackeln und das Feuer schon von Weitem. Die Dämmerung war fortgeschritten, die hohen Bäume ragten dunkel über ihnen auf, und die goldenen Flammen wirkten einladend. Sune spürte ein Kribbeln im Bauch, als er sah, dass die anderen bereits da waren und alles für ihn vorbereitet hatten. Die Flammen der Fackeln tänzelten in der Dunkelheit. Heute Abend war sein Blót. Endlich würde er in den Kreis der Männer aufgenommen. Solange Sune denken konnte, war er mit seinen Eltern in den Wald gefahren, um sich mit den anderen Asatrus zu treffen. Er liebte die Stimmung bei diesen Zusammenkünften und das große gemeinsame Mahl, das es gab, wenn die Erwachsenen mit der Gottesanbetung fertig waren. Bisher war er aber nie selbst ein Teil des Kreises gewesen. Bisher war er ihren Regeln nicht verpflichtet gewesen. Wenn er heute Abend Teil des Kreises der Männer und dieser Kreis mit ihm geschlossen wurde, war er für immer an seinen Eid gebunden. Der Kreis der Erwachsenen konnte nur von Kindern oder von Tieren gebrochen werden, die nicht begriffen, dass er heilig war. Sune und die anderen Kinder waren immer zum Spielen hinter den großen Feuerplatz geschickt und strengstens ermahnt worden, die Erwachsenen nur dann zu stören, wenn eins der Kinder sich ernsthaft verletzte. Ab heute Abend würde er ein Teil des Kreises sein, wenn die Götter angerufen wurden. Er würde mit­machen dürfen, wenn das Trinkhorn die Runde machte, und zum Dank für seine Weihe würde er den Göttern das Huhn opfern und seinen nordischen Glauben bestätigen. In den letzten Monaten waren sein Vater und er sämtliche Rituale durchgegangen. Sein Vater hatte ihm vom Eidring erzählt und ihm eingeschärft, dass ein Gelöbnis bei diesem Ring ein Versprechen an die Götter war, das man niemals brechen durfte. Sune dachte an das Schwein hinten im Lieferwagen. Es würde zum Schluss der Zeremonie getötet und sein Blut den Göttern geopfert werden, eine Dankesgabe der Familie für die Aufnahme ihres Sohnes. Sein Vater ging ihm voraus Richtung Feuer. Mit zwei Metern Abstand standen die Fackeln rundherum, das Ganze sah fast wie eine Festung aus. Sune war die Stille plötzlich unangenehm, und auch, dass die Männer sich so feierlich in einer Reihe aufgestellt hatten und jetzt einer nach dem anderen hervortraten, um ihn in den Arm zu nehmen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und versuchte, sein stolzes Grinsen zu unterdrücken, schließlich wollte er nicht kindisch wirken. Da legte sich der Gode den Umhang um, und die Männer versammelten sich schweigend in einem Kreis rund um das Feuer. Jetzt, dachte Sune. Jetzt ist es so weit. Gleich bin ich erwachsen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der Gode das Wort ergreifen würde. Schließlich sprach er auch immer die Einführung, wenn die Erwachsenen sich in einem Kreis versammelten. Aber es war sein Vater, der hervortrat, den Kopf leicht zur Seite neigte und seinen Sohn mit einem Lächeln im Blick ansah. „ Sune, mein Sohn “, hob er etwas unbeholfen an. „ Heute Abend fängt dein Leben als Erwachsener an. Ab sofort bist du kein Kind mehr, und du musst viel lernen. “ Ein paar der Männer räusperten sich oder husteten. Sune musste an die Sage von Signe, der Tochter König Vølsungs, denken, die ihre Söhne in den Wald geschickt hatte, als der älteste gerade mal zehn war. Sie hatten furchtbare Angst gehabt. Er selbst war fünfzehn und fand den dunklen Wald auch ganz schön unheimlich. Er war nie besonders mutig gewesen, das wusste er selbst. Er musste an seine Mutter denken. „ Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag “, hatte sie gesagt, als er sich am Morgen mit seinem Frühstück zu ihr ans Bett gesetzt hatte. Sie selbst aß kaum noch, sie wurde hauptsächlich über eine Sonde ernährt. Aber sie hatte gelächelt und Sunes Hand genommen. „ Freust du dich auf heute Abend ? “ Jetzt schob Sunes Vater ihn in den Kreis hinein, und der Gode ging langsam um den Kreis herum und sang dabei. In jeder Himmelsrichtung blieb er stehen und rief eine Gottheit an. Im Norden Odin, den höchsten aller Götter. Thor, den Beschützer der Menschen, im Süden. Frey, den Gott der Fruchtbarkeit, im Osten, und im Westen Frigg, Odins Gemahlin, die für die Ehe und Stabilität in Beziehungen stand. „ Der Kreis ist geschlossen “, erklärte der Gode, als er wieder seinen Platz einnahm. Sune bezweifelte, dass er später mal wiederholen könnte, was während des Rituals gesagt wurde. Mehrmals nahm er das Trinkhorn entgegen, drehte es so, dass die Spitze des Horns auf seinen Bauch zeigte, und hob es vorsichtig an die Lippen, damit kein Unterdruck entstand und ihm der Met ins Gesicht spritzte. Sein Vater hatte ihm erklärt, daran könne man erkennen, wer neu im Kreis war und wer schon länger dazugehörte. Sunes Wangen glühten vom Feuer und vom Alkohol. Berauscht hörte er zu, als die Männer einer nach dem anderen hervortraten und ihm einen Vers vortrugen. Einige suchten Zeilen aus der Hávamál aus, während andere Verse aus der Völuspa stammen mussten, aber es dauerte nicht lange, da verschwammen alle Worte. Nachdem alle ihre Verse gesagt hatten, sangen sie für ihn. Sune legte die Geschenke für die Götter auf die Erde, dann machte das Trinkhorn abermals die Runde. Schließlich wurde der Kreis geöffnet. Einige der Männer jubelten und hoben Sune hoch, und wieder nahmen sie ihn einer nach dem anderen in den Arm. Woran Sune sich später aber bis ins letzte Detail erinnern würde, war jener magische Augenblick nach dem Blót, als er in die Eidbruderschaft der Männer eingeführt werden sollte. Er blieb beim Feuer stehen, während die Erwachsenen sich unter der großen Opfereiche versammelten. Der über tausend Jahre alte Baum stand einige Meter von der Feuerstelle entfernt. Als Sune kleiner gewesen war, hatte er sich die Wartezeit, bis die Erwachsenen mit dem Blót fertig waren, mit Begeisterung damit vertrieben, immer wieder durch das große Loch im Stamm zu springen. Heute Abend sah das Loch aus wie ein großes schwarzes Auge, das ihn im Halbdunkel anstarrte. Ihm lief ein leichter Schauer über den Rücken, aber kein unangenehmer. Angst hatte er keine, im Gegenteil. Der Gode grub ein Stück Grasnarbe aus und platzierte sie so auf zwei Zweigen, dass eine Art Torbogen entstand. Die Sage von Odin und Loke und ihrer Blutsbrüderschaft hatte Sune schon immer fasziniert. Jetzt war er selbst Teil des Rituals: Mit ihnen unter der Grasnarbe hindurchzugehen symbolisierte ihre gemeinsame Wiedergeburt. Ihm kam das alles wie in Zeitlupe vor, als sein Vater ihn bei der Hand nahm und der Gode direkt hinter ihm ging. Als er auf der anderen Seite herauskam, hatte er das Gefühl, der Mond würde allein ihn direkt anleuchten. Natürlich wusste er, dass er sich das nur einbildete, aber es fühlte sich wirklich so an. Er hatte sich etwas vor dem Teil des Rituals gefürchtet, bei dem sich jeder eine Ader aufschnitt und Blut auf die Stelle laufen ließ, an der die Grasnarbe fehlte. Aber das war dann alles gar nicht so schlimm. Hinterher überreichten sie ihm einen langstieligen Bronzelöffel, der wie ein großer Kochlöffel aussah, nur schwerer und mit einem breiten, kantigen Stiel. Es erfüllte Sune mit Stolz, als die anderen ihn feierlich aufforderten, im Blut auf dem Erdboden zu rühren, und er kam sich richtig mutig vor, als er ihrer Aufforderung nachkam. Dann nahm der Gode die Grasnarbe von den Ästen und legte sie dahin zurück, wo er sie ausgegraben hatte, um das Ritual zu besiegeln. Die Erde wurde festgeklopft und Sune in den Kreis gezogen. Er fühlte sich erwachsen. Der Gode erklärte, von nun an sei er an den Pakt gebunden, nach dem sie einander ehren und behüten sollten. „ Wir passen aufeinander auf “, hatte Sunes Vater erklärt, als sein Sohn ihn einmal fragte, was das bedeutete. Sune blieb stehen, als sein Vater sich in Richtung Auto entfernte. Am liebsten hätte er sich davongeschlichen. Er hatte keine Lust, dabei zuzusehen, wie sie gleich das Schwein schlachteten. „ Hilfst du eben beim Auspacken ? “, fragte der Gode. Er hatte den Umhang abgelegt und zeigte zum Feuerplatz. Dort standen bereits einige der weißen Thermokisten aus der Schlachterei, in denen sich das Essen für das Fest befand. Zum Glück würden sie das Schwein jetzt nicht auch sofort essen, ging es Sune durch den Kopf. Es würde nur getötet und aufgehängt werden. Sein Blut sollte ins Erdreich sickern, den Göttern zu Ehren. Das Schwein selbst würden sie wieder mit nach Hause nehmen und am nächsten Tag zer- legen – obwohl das gegen die Vorschriften der Lebensmittelbehörde verstieß. Aber wie sagte sein Vater doch immer ? „ Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. “ „ Ist der Haken bereit ? “, rief Sunes Vater vom Lieferwagen her. Zwei Männer eilten mit drei schweren Eisenstangen herbei, die sie unter der Opfereiche aufstellten wie für ein Indianerzelt. Sie wurden oben mit einer massiven Eisenscheibe fixiert, an der ein großer Fleischerhaken befestigt wurde. Dann fuhr sein Vater mit dem Lieferwagen rückwärts an den Dreifuß heran, schaltete den Motor ab, bestieg den Laderaum und machte sich daran, das Tier hinauszuschieben. Er hatte die Sau betäubt, bevor er sie geladen hatte, und vorhin, als sie losgefahren waren, hatte er gesagt, sie sei scheißeschwer gewesen. Sune verstand immer noch nicht, wieso sein Vater sie nicht gleich getötet hatte. Dann müsste sie das hier jetzt nicht miterleben. Sune gefiel die Vorstellung gar nicht, dass das Tier lebend an den Haken gehängt wurde und die Kehle durchgeschnitten bekam. Er wandte sich ab und packte weiter das Essen aus. Es gab mehrere Kisten Bier, aber keinen Met mehr. Die Männer hatten dem Honigwein während des Blót kräftig zugesprochen. Sune sah sich nach Cola oder Limonade um, aber daran hatte offenbar keiner gedacht. „ Soll der Junge jetzt nicht mal langsam sein Geschenk kriegen ? “, grölte einer quer über den Feuerplatz. Sune konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wer das war. Er sah sich nach seinem Vater um. „ Ja, los, her damit ! “, johlte ein anderer. Kurz darauf waren alle verschwunden, und Sune stand ganz allein am Feuer. Er dachte nach. Musste er jetzt irgendetwas tun ? Aber da hörte er zwischen den Bäumen eine Autotür zuschlagen, und kurz darauf kamen die Männer in einer geschlossenen Gruppe zurück. In der Dunkelheit erkannte Sune zunächst nur, dass sie eine Frau mit langen, offenen Haaren dabeihatten. Sune dachte, sie wollten ihn überraschen und hätten seine Mutter geholt. Doch als sie näher kamen, sah er, dass die Frau eine junge Frau war, viel jünger als seine Mutter, aber deutlich älter als er selbst. Sein ­Vater hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und stapfte hinter den anderen her. Da wurde Sune plötzlich unruhig und wollte auf ihn zugehen. „ Bleib da stehen “, sagte der Gode. Die Männer hielten zwischen dem Feuer und der alten Eiche an, wo immer noch der weiße Lieferwagen mit geöffneter Heckklappe stand. „ Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht. “ Sune sah die Frau an. Er hatte sie noch nie gesehen. Dann senkte er den Blick und spürte, wie er immer unsicherer wurde. „ Dein Vater hat uns erzählt, dass du deine Nase den lieben langen Tag immer nur in Bücher steckst “, sagte der Gode. „ Das wollen wir gerne ändern. “ Einige der Männer lachten heiser. Das, was den ganzen Abend ein gespanntes Kribbeln im Bauch gewesen war, verwandelte sich jetzt langsam in handfeste Bauchschmerzen. „ Heute Nacht wirst du Freja huldigen und das Fruchtbarkeitsritual zelebrieren. “ Der Gode nickte der Frau kurz zu, worauf sie sich auf Sune zubewegte. Die Männer bildeten einen Halbkreis. „ So wird deine Männlichkeit gestärkt “, fuhr der Gode fort. „ Und genau das ist unser Geschenk für dich: Männlichkeit. “ Sune sah auf und schüttelte den Kopf. Er suchte den Blick seines Vaters, als die Frau anfing, ihre schwarze Bluse aufzuknöpfen. Sie lächelte Sune an, als sie die Bluse auf den Boden warf und ihm bedeutete, näher zu kommen. Aber Sune blieb stehen, wo er war. Wie angewurzelt. Die langen Locken fielen ihr über die Schultern, die im Schein des Lagerfeuers schimmerten. Sune wollte wegsehen, konnte den Blick aber nicht von ihren nackten Brüsten abwenden. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er nackte Brüste direkt vor sich, und er begann, auf ungewohnte Weise zu zittern. Sie öffnete ihren schwarzen Rock, trat einen Schritt auf Sune zu und ließ auch den Rock zu Boden fallen. Sune starrte immer noch auf ihre Brust. Er konnte ihr einfach nicht in die Augen sehen, jetzt, da sie splitternackt vor ihm stand. Sune bemerkte, dass einige der Männer unruhig wurden. Die Frau strich sich mit beiden Händen über den nackten Körper und machte einen letzten Schritt auf Sune zu. Nun stand sie so dicht vor ihm, dass ihm ihr Geruch in die Nase stieg und in den Unterleib fuhr. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen da und begann, sich zu wiegen, als würden sie tanzen. Er spürte ihre Hand an seinem Hosenknopf und hörte, wie sie den Reißverschluss aufzog. Da riss er sich los und taumelte rückwärts. Doch bevor er sich zu weit entfernen konnte, packte ihn jemand beim Arm. „ Du bleibst hier ! “, hörte er jemanden hinter sich sagen. Sune sah die Männer an, die gleichzeitig den Kreis um sie ein wenig enger werden ließen. „ Verdammt, jetzt mach schon ! “, zischte der Gode. Sune hatte das Gefühl, die Dunkelheit des Waldes würde sich tiefer auf ihn legen und ihn ganz umschließen. Es wurde kurz ganz still in seinem Kopf, als seien alle Geräusche um ihn herum verstummt. Verzweifelt sah er sich um, suchte nach einer Lücke in der Wand aus Männern, die nun ganz eng um ihn und die nackte Frau herumstanden. Sunes Blick fiel auf seinen Vater. Er wollte zu ihm hinlaufen, aber sein Körper wollte sich nur in Zeitlupe bewegen, und da wurde er von hinten auch schon so heftig geschubst, dass er beinahe hingefallen wäre. Plötzlich waren die Stimmen der Männer wieder da. Sune wollte sich losreißen, aber der Griff um seinen Arm war eisern. „ Los ! Fick sie ! “, rief jemand. „ Ich will aber nicht ! “, schrie Sune. Die junge Frau wich schnell ein paar Schritte zurück und bückte sich nach ihren Kleidern. Sofort stürzte sich einer der Männer auf sie. „ Du bleibst schön hier ! “, herrschte er sie an. „ Wenn der Junge nicht will, will er nicht. Dann soll man ihn auch nicht zwingen. “ Sie machte sich daran, ihren Rock anzuziehen, da schlug er ihr ins Gesicht. „ Du tust gefälligst, wofür wir dich bezahlen ! “, stellte er klar und schlug sie noch einmal. Das Lächeln der jungen Frau war erstorben. Ihre Nase blutete. Sune wusste gar nicht, wie ihm geschah, als ihm jemand unsanft die Hose herunterriss und ihn dann kurzerhand zu der Frau schleifte. „ Jetzt komm schon, du Schlappschwanz ! Sieh zu, dass du ihn hochkriegst ! Wird ja wohl nicht so schwer sein ! “ „ Ich will aber nicht “, jammerte Sune kopfschüttelnd. Er spürte, wie seine Lippen bebten, wie seine Wangen zuckten – und da verlor er auch schon die Beherrschung und fing an zu weinen. Verzweifelt biss er sich auf die Lippen, um sich wieder zu fangen. Da hörte er ganz dicht neben seinem Ohr die Stimme seines Vaters. „ Nun mach schon, Junge. Ich habe keine Lust, mich hier vor den anderen lächerlich zu machen ! “ Die junge Frau herrschte Sunes Vater an und schubste ihn. „ Jetzt lasst doch den armen Jungen in Ruhe ! “, schrie sie. „ Wenn er nicht will, will er eben nicht ! Ihr könnt ihn doch nicht zwingen ! “ Kaum wurde sein Arm losgelassen, zog Sune die Hose hoch und rannte weg. Weg vom Lagerfeuer, weg von den Fackeln, weg von den Männern. Er rannte, so schnell er konnte. In den Wald hinein. In die Dunkelheit. Er blieb erst stehen, als es in seinen Schläfen so heftig pochte, dass ihm schwindelig wurde. Er beugte sich vornüber, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und spuckte aus. Er keuchte und keuchte und spürte, wie der Schweiß unter seinem Sweatshirt abkühlte. Während er so vornübergebeugt dastand, sah er wieder die nackten Brüste der Frau vor sich und spürte wieder das ungewohnte Zittern. Er kniff die Augen zu, aber das Bild von der blutenden Nase blieb. Auf einmal hörte er sie schreien. Abrupt richtete er sich auf, dann ging er ganz langsam und zögerlich zurück. Erst, als er das Feuer zwischen den Bäumen hindurch wieder sehen konnte, ging ihm auf, dass die Angstschreie der Frau verstummt waren. Und als er sah, warum, stützte er sich entsetzt an einem Baum ab. Man hatte ihr mit etwas Weißem den Mund zugebunden. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber sie schlug verzweifelt um sich. Sune wollte wegsehen, doch sein Blick verharrte auf den Männern, die die Frau festhielten. Er erkannte seinen Vater, der über dem Rücken der Frau zusammensackte, sich dann die Hose zumachte und den nächsten ranließ. Die junge Frau versuchte sich zu wehren und zu entkommen, während die Männer sie einer nach dem anderen vergewaltigten. Jedes Mal, wenn sie wieder heftiger um sich schlug oder trat, kassierte sie noch mehr Schläge. Als der letzte mit ihr fertig war und die beiden, die sie festgehalten hatten, sie losließen, fiel sie zu Boden und blieb liegen. Sune wollte schreien, aber der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Auf einmal war ihm kalt. Er wollte zum Feuer gehen, aber er war wie gelähmt. Erstarrt stand er da und sah dabei zu, wie die Männer an den Armen der Frau zerrten und sie an den Schultern rüttelten. Schließlich bückte sich der Gode zu ihr hinunter, um ihren Puls zu spüren. Kurz darauf schüttelte er den Kopf und ließ ihren Arm los. Er bedeutete den Männern, sich um das Feuer zu versammeln. Sune hörte nur ihre Stimmen, aber nicht, was sie sagten. Dann gingen ein paar von ihnen um den weißen Lieferwagen herum und verschwanden im Wald. Die anderen fingen an, den Feuer­platz aufzuräumen. Sune hatte keine Ahnung, wie lange er so dagestanden und bei alldem zugesehen hatte. Er wusste nur, dass die junge Frau, die vorhin noch lächelnd direkt vor ihm gestanden hatte, nun reglos auf dem Boden lag. „ Wir sind so weit ! “, rief jemand aus der Richtung, in die die Männer zwischen den Bäumen verschwunden waren. Der Gode ging zu der Frau, hob sie hoch und trug sie in den Wald. Ihre Arme und Beine baumelten leblos herunter. Erst jetzt bemerkte Sune, dass er zitterte. Sein rechter Fuß war eingeschlafen, das Bein knickte unter ihm weg, als er sich weiter in sein Versteck zurückziehen wollte. Es war, als weigere sich sein Gehirn zu kapieren, was er da gerade gesehen hatte. Sein Herz raste, und sein Körper war bleischwer vor Entsetzen – er wusste genau, dass die junge Frau tot war. Er hatte es schon vorher gewusst. Er krabbelte ein Stück weg und versuchte, sein eingeschlafenes Bein zu wecken. Es schmerzte wie tausend Nadelstiche, als die Durchblutung endlich wieder einsetzte. Eigentlich sollte er jetzt weglaufen und sich verstecken – nur wo ? Er blickte in den stockdunklen Wald. Unsicher richtete er sich auf und tastete sich voran. Unter seinen Füßen knackten ein paar Zweige. Da hörte er Stimmen. Sie riefen ihn. Sie waren zurückgekommen, und jetzt suchten sie ihn. Sune hielt die Luft an und ging in die Knie. Er kroch unter ein paar auf dem Waldboden liegende Zweige und kauerte sich dort zusammen. Da hörte er wieder die Stimmen. Sie waren näher gekommen. „ Sune ! Wo bist du ? “ Das war sein Vater. „ Jetzt komm schon raus. Du gehörst dazu. Du kannst nicht einfach weglaufen und dich verstecken ! “ Schnellen Schrittes ging jemand an dem Unterholz vorbei, wo er kauerte. Nicht hautnah, aber doch so nah, dass Sune die Luft anhielt. Zweige knackten, dann entfernten sich die Schritte wieder. Sune blieb liegen. Wagte nicht, sich zu rühren. Kurz darauf waren sie zurück. Wieder knackten Zweige, raschelte Laub. Sune hörte jemanden keuchen. Er duckte sich noch mehr, hielt abermals die Luft an. Spürte den feuchten Waldboden unter sich. Offenbar kreisten sie um die Stelle, wo er sich versteckt hatte. Sie gaben nicht auf, bis plötzlich ein lauter Pfiff ertönte. Und noch einer. Wie eine Sirene in der nächtlichen Stille des Waldes. Die Männer kehrten zu der Lichtung am Feuerplatz zurück, als sei die Suche abgeblasen worden. Erst als Sune keine Schritte mehr hören konnte, atmete er erleichtert auf. Er holte tief Luft und drehte sich so, dass er den Mond durch die Baumkronen sehen konnte. Sein Herz hämmerte, während er die Götter anflehte, die Männer nicht sein Versteck finden zu lassen. Nach einer Weile, als sein Herz sich wieder etwas beruhigt hatte, setzte er sich vorsichtig auf und reckte den Hals. Drüben bei der Opfereiche war der Gode dabei, sich wieder den Umhang umzulegen, und die Männer versammelten sich abermals um das langsam erlöschende Feuer. Die Flammen züngelten unsicher, es wurde immer dunkler auf der Lichtung. Sune sah, wie sie einen Kreis bildeten. Hörte, wie der Gode den Kreis schloss. Versuchte zu erkennen, was da von einer Hand zur anderen wanderte. Es war der Eidring, der die Runde machte. Sune wurde eiskalt, als er begriff. Der Eidring war der Grund dafür, dass sie nach ihm gesucht hatten. Er war jetzt erwachsen. Ein Teil ihrer Gemeinschaft. Mit seinem Blut hatte er geschworen, jetzt zu ihnen zu gehören. Sie erwarteten von ihm, dass er Seite an Seite mit seinen Brüdern stand, wenn sie den Kreis schlossen und schworen, auf ewig zu schweigen.


Steckbrief Louise Rick

Hauptfigur in Sara Blædels Krimi „Die vergessenen Mädchen“ ist die Kopenhagener Kommissarin Louise Rick:

Geburtstag: 2. Oktober 1972

Geburtsort: Kopenhagen. Im Alter von 11 Jahren mit ihren Eltern nach Hvalsø umgezogen.

Wohnort: Frederiksberg, ein Vorort von Kopenhagen.

Beruf: Leiterin einer Sondereinheit der Kopenhagener Vermisstenstelle, die sich um Vermisstenfälle kümmert, bei denen ein krimineller Hintergrund vermutet wird.

Beruflicher Werdegang: Nach der Polizeischule trat Louise in den Dienst der Kopenhagener Polizei ein. Ab 2003 arbeitete sie als Kommissarin bei der Mordkommission, anschließend übernahm sie die Leitung der neugegründeten Sondereinheit der Vermisstenstelle.

Besondere Kennzeichen: Leidenschaftlich, engagiert, besitzt enormen beruflichen Ehrgeiz. Sportlich und clever.

Hobbys: Ihr Hund Dina und der Schrebergarten, den sie sich mit ihrem Nachbarn teilt.

Louise mag: Zeit mit ihrem Sohn Jonas, mit Camilla und deren Sohn Markus verbringen. Manchmal ist sie aber auch gern allein.

Louise hasst: Mädchenabende und alles girliehafte. Ihre Selbstzweifel. Unentschlossene und träge Menschen.

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