von Thomas Keneally
Richard Flanagan, der für Romane wie „Tod auf dem Fluss“ und „Goulds Buch der Fische“ gefeierte tasmanische Schriftsteller, hat das Recht, sein Augenmerk auf die so genannte Todeseisenbahn zu richten, die von den Japanern während des Zweiten Weltkriegs mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern erbaut wurde.Sein Vater war als australischer Kriegsgefangener auf dem berüchtigten „schmalen Pfad“, und diese Bahnlinie verlief auch durch seine Kindheit. Doch dieses Buch reicht zeitlich und von seiner Bedeutung her weit über dieses barbarische Ingenieursstück hinaus.Der australische Protagonist ist der Chirurg Dorrigo Evans, der zu seiner eigenen Verwunderung im Nachkriegsaustralien wegen seiner Tapferkeit im An-gesicht der japanischen Eroberer während des Krieges zur Legende wird. In seinen mittleren Jahren ist er eine nationale Persönlichkeit – sein eigenes Gesicht starrt ihm „von Briefköpfen von Wohltätigkeitsorganisationen bis zu Gedenkmünzen“ entgegen. Dorrigos Kindheit fand jedoch weit entfernt von Leid und Nutzen der großen Welt statt. Ohne Strom zu kennen, schlief seine Familie „unter den Fellen der Possums, die sie mit Fallen fingen“. Als Stipendiat erhält er die Chance, Medizin zu studieren. In einer brillanten Szene in einem Buchladen in Adelaide lernt Dorrigo, mittlerweile Chirurg beim Militär, Amy kennen, eine zierliche, faszinierende Frau mit glänzenden Augen. Die Affäre ist irgendwie zulässig, denn „der Krieg drückte, der Krieg verwirrte, der Krieg löste auf, der Krieg entschuldigte“. Die Tatsache, dass Amy mit seinem Onkel verheiratet ist, würde in den Händen anderer Autoren schwerfällig wirken, ist hier aber völlig überzeugend.
Die Erzählung schreitet voran: Als wir Nakamura, den japanischen Befehlshaber des Thai-Eisenbahn-Lagers kennenlernen, wird er geplagt von Ungeziefer und ist abhängig von Metamphetamin. Wir begreifen, dass auch er ein Gefangener des Projekts ist. Dorrigo, inzwischen Anführer einer Gruppe von tausend fiebernden und von Geschwüren übersäten Männern, stellt sich herausfordernd vor ihn, „ein schwacher Mann, den die Tausend hinter ihm mit ihren Erwartungen zu einem starken Mann formten“. Er nennt Nakamura die Zahl seiner Männer – von ursprünglich Tausend -, die noch fähig sind zu arbeiten. Aber „dreihundertdreiundsechzig war nicht die richtige Zahl ... Denn, so dachte Dorrigo Evans, die richtige Zahl war null.“ Seine Männer sind typische junge Australier, mit Namen, die nach den Antipoden klingen – Rooster MacNeice, Darky Gardiner, Sheephead Morton, Bonox Baker, Lizard Brancusi, Chum Fahey. Sie alle sterben, aber sie schaffen, es, auf der richtigen Seite der Schwelle des Todes zu bleiben, durch Dorrigos Entschlossenheit, der Verzweiflung das Gesicht von „Entschlossenheit und Sicherheit“ zu geben. Doch an der Linie „war die Gewalt ewig, die große und einzige Wahrheit, größer als die Zivilisationen, die sie schuf“.
„Glaubst du noch an Gott, Bonox?“, fragt
Dorrigo einen seiner Männer. „Weiß nicht, Colonel.
Ich zweifle langsam an den Menschen.“
„Glaubst du noch an Gott, Bonox?“, fragt Dorrigo einen seiner Männer. „Weiß nicht, Colonel. Ich zweifle langsam an den Menschen.“ Obwohl Dorrigo an der Macht der Erinnerung zweifelt, verfolgt sein Gedächtnis nach dem Krieg all die Heimkehrer aus den Lagern, auch Nakamura, der sich verdreckt in einer zerstörten Hauptstadt verkriecht, um einem Kriegsverbrecherprozess zu entgehen. In der neuen Welt des Friedens bedeutet es für Dorrigos Männer, überlebt zu haben, nicht gleich Überleben. „Sie starben schnell, auf merkwürdige Weisen, durch Autounfälle und Selbstmorde und schleichende Krankheiten.“ Spontan, im Gedenken an Darky Gardiner und mit dem unausgesprochenen Wunsch, die Freiheit zu bekräftigen, zerstört eine Gruppe von Dorrigos Männern die Fischbehälter in einem Fischgeschäft in Hobart und wirft die Fische am Constitution Dock zurück ins Meer.
Dorrigo selbst bleibt bis in die Friedenszeit hinein bei der australischen Armee. „Der Alltag ist es, der uns fertigmacht“, erzählt ihm ein Offizier. Er kehrt nicht zu Amy zurück, sondern zu einer Tochter der Melbourner Oberschicht, die
darauf besteht, ihn mit seinem richtigen Namen anzusprechen, „Alvyn“. Ihre Ehe ist pflichtbewusst, zum Scheitern verurteilt und dennoch beständig, eine „Verschwörung von Erfahrung“. Sowohl Dorrigo als auch Nakamura erscheinen anderen wie Schauspieler in der Welt außerhalb des Gefangenenlagers, aber es ist die Erinnerung an die Linie, die sie beherrscht und die sie aufzehrt. „Während der Jahrzehnte, die auf den Krieg folgten“, schreibt Flanagan über Dorrigo, „spürte er, wie sein Geist schlief, und obwohl er sich sehr bemühte, ihn durch die Erschütterungen und Gefahren fortlaufender und manchmal gleichzeitiger Ehebrüche, sinnloser Akte des Mitleids und gewagter Operationen oder durch Wutausbrüche zu erwecken, half es nicht.“
Flanagans Roman ist eine eindrucksvolle
Untersuchung dessen, was es heißt, in einer Person
ein guter und ein schlechter Mensch zu sein,
und darüber hinaus, wie schwierig es ist, nach dem
Überleben weiterzuleben.
Flanagans Roman ist eine eindrucksvolle Untersuchung dessen, was es heißt, in einer Person ein guter und ein schlechter Mensch zu sein, und darüber hinaus, wie schwierig es ist, nach dem Überleben weiterzuleben. Der krebskranke Nakamura ist fasziniert von der Güte seiner Frau und kämpft damit, sie mit der Grausamkeit an der Linie in Einklang zu bringen. Die Rohheit in den mittleren Jahren des Lebens von Dorrigo und Nakamura ist beinahe so schmerzhaft zu lesen wie die Buschoperationen im Gefangenenlager.
Zu behaupten Flanagan würde einen prächtigen Wandteppich wirken, wäre eine zu große Ehrung von Wandteppichen. Würde man nicht von der Erzählung mitgerissen, würde einem vielleicht auffallen, dass das Spiel mit Zeitebenen und Charakteren, die Sicherheit der Erzählung, das Selbstvertrauen, innezuhalten und dann wieder einen Satz vorwärts zu machen, mit der Zeit zu spielen, alles literarische Meisterleistungen sind. Aber wir merken es nicht. Flanagan ist zu gut, um das zuzulassen.
28. Juni 2014 aus THE GUARDIAN
Übersetzt von Elke Link
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