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Maarten 't Harts bisher persönlichstes Buch

Ein Blick in sein Familienalbum

 

Mittwoch, 30. September 2015 von


Familienfotos zu Maarten 't Harts „Magdalena“

Magdalena“ ist schon das siebzehnte Buch von Maarten 't Hart im Piper Verlag – und es ist sein vielleicht persönlichstes Buch geworden.

Denn im neuesten Werk des niederländischen Bestellerautors, der auch in Deutschland mit seinen Romanen wie „Ein Schwarm Regenbrachvögel“, „In unnütz toller Wut“ oder „Die Jakobsleiter“ berühmt geworden ist, geht es um die wichtigste und interessanteste Person in seinem Leben: seine Mutter.

Unnahbar, tief religiös, eigensinnig und so eifersüchtig, dass sie ihrem Mann jeden Tag den Kaffee auf den Friedhof brachte, nur um ihn zu kontrollieren.

Vrij Nederland meint: „Maarten 't Hart erzählt von einer versunkenen Welt – ein großartiges Milieuporträt von Dicken'schem Format.“
 

Im Folgenden zeigen wir Bilder der Familie, die sonst nur in der niederländischen Originalausgabe des Buchs zu finden sind – ein persönlicher und spannender Einblick.

Blick ins Buch
MagdalenaMagdalena

Eine Familiengeschichte

Er war der Sohn eines Totengräbers – die interessanteste Person in seinem Leben aber war seine Mutter. Unnahbar, tief religiös, eigensinnig und so eifersüchtig, dass sie ihrem Mann jeden Tag den Kaffee auf den Friedhof brachte, nur um ihn zu kontrollieren. Schonungslos und doch überraschend liebevoll erzählt Maarten ’t Hart die Geschichte einer ebenso kuriosen wie unerschütterlichen Frau, einer unwahrscheinlichen Liebe und einer Befreiung. Der „niederländische Meistererzähler“ (FAZ) hat eine schmerzvoll schöne Geschichte über Mutter und Sohn geschrieben.

In Kürze wieder lieferbar

Prolog

Am Dienstag, dem 25. November 1952, wurde ich acht Jahre alt. Diesem Geburtstag hatten nicht nur ich, sondern auch meine Eltern sehnsüchtig entgegengesehen. Mein Großvater väterlicherseits machte seinen Enkeln, die nach ihm benannt waren, zu ihrem achten Geburtstag ein großes Geschenk. Bei uns war daher die Erwartung hochgespannt. Der zwei Wochen ältere Sohn meines Onkels Maarten, der ebenfalls den Namen meines Großvaters trug (er war also Maarten von Maarten von Maarten), hatte zu seinem letzten Geburtstag ein Fahrrad bekommen. Ein solch großes Geschenk würde mir ganz bestimmt nicht überreicht werden, denn ich war nur Maarten von Pau von Maarten, doch nichtsdestotrotz würde ich ein Wunder erleben.

Am späten Nachmittag, ich war gerade aus der Schule gekommen (wo ich meinen Geburtstag sorgfältig verschwiegen hatte, um keine Süßigkeiten austeilen zu müssen, denn die hätte meine Mutter mir nicht mitgegeben), brachte mein Großvater sein Geschenk. An dem sich nähernden kräftigen Ticken seines Spazierstocks auf den Gehsteigplatten konnte man hören, dass er sich darauf freute, erneut einen nach ihm benannten Enkel großzügig zu beschenken.
Er trug ein ausladendes Paket herein und überreichte es mir im Wohnzimmer. Feierlich entfernte ich das Papier. Was mir zu meinem achten Geburtstag zuteilgeworden war, erwies sich als großer Metallbaukasten. Kein neues Fahrrad zwar, aber doch etwas Unglaubliches. Mein Großvater ging wieder, denn es war zu diesem Zeitpunkt niemand da, mit dem er Dame hätte spielen können.
Mir schien nun der große Augenblick gekommen, den Metallbaukasten weiter auszupacken und damit zu spielen. Als ich Anstalten machte, ihn zu öffnen, rief meine ­Mutter :
„ Was machst du da ? “
„ Ich mache ihn auf, ich möchte damit spielen. “
„ Bist du von allen guten Geistern verlassen ? Ein so teures Geschenk ! Lass deine Finger davon. “
„ Aber … aber … ich habe den Kasten doch von Opa bekommen, ich will damit spielen. “
„  Ganz ausgeschlossen, Finger weg ! Ein so teures Geschenk, und du willst einfach damit spielen ? Auf gar keinen Fall, ich stell ihn weg. “
Sie nahm den Metallbaukasten und deponierte ihn, hinter Laken und Plumeaubezügen, im Schrank.
Als mein Vater nach Hause kam, wurde der Kasten wieder zum Vorschein gebracht und erneut voller Erstaunen bewundert. Gewiss, es war kein neues Fahrrad, aber dennoch … Was für ein Geschenk !
„ Opa ’t Hart meint es aber gut mit dir “, sagte mein Vater.
„ Aber ich darf nicht damit spielen “, sagte ich beleidigt.
„  Nein, natürlich nicht “, erwiderte mein Vater, „ da hat deine Mutter vollkommen recht, ein so teures Geschenk, es wäre Wahnsinn, wenn du das in die Finger bekämst. Wie leicht könnte eine der kleinen Schrauben oder Muttern oder irgendein anderes Teil wegkommen, nicht auszudenken, deine Mutter stellt ihn fein wieder weg. “
„ Genau “, sagte meine Mutter, und mein Metallbaukasten verschwand.

Dies ist nur eine der Geschichten aus meiner Kindheit und Jugend, in der meine Mutter eine merkwürdige Rolle spielt. Ich kann mehr solcher Geschichten erzählen und werde dies auch tun. Aber ich fürchte, dass sich daraus sehr leicht ein falscher Eindruck ihres Charakters ergeben könnte. Als Kind habe ich sie unendlich geliebt, so sehr, dass ich, was für einen Jungen doch recht außergewöhnlich ist, alles, was sie tat – stricken, häkeln, sticken, nähen, bügeln, waschen, kochen –, auch lernen und tun wollte, und diese Liebe blieb immer bestehen, ungeachtet all der Dinge, die ich mit ihr habe durchmachen müssen. Sie war geduldig und sanftmütig. Mein Vater schlug drauflos, denn schließlich steht in der Bibel : Wer seinen Sohn liebt, der kasteit ihn. Aber meine Mutter hat mich niemals geschlagen. Sie war die Fürsorglichkeit in Person, unsere Kleider waren, trotz ständigen Geldmangels, immer tipptopp in Ordnung. Tag und Nacht stand sie bereit. Wäre sie nicht von einem seltsamen Wahn befallen gewesen, dem Wahn nämlich, mein Vater würde fortwährend fremdgehen, es wäre wenig an ihr auszusetzen gewesen. Nun brachte es dieser Wahn aber mit sich, dass sie meinen Vater pausenlos im Auge behalten wollte oder aber andere ihn im Auge behalten ließ. Dazu rekrutierte sie zuerst mich, später meinen Bruder. Überall wo mein Vater hinging, bekam er einen seiner Söhne mit auf den Weg, denn meine Mutter ging davon aus, dass er in Gesellschaft eines seiner Söhne nicht so leicht würde fremdgehen können. Mein Bruder und ich waren uns nicht bewusst, weshalb wir immer mit unserem Vater losgeschickt wurden. Wir haben es einfach dankbar angenommen, denn so gelangten wir, zu Fuß oder per Fahrrad, an die merkwürdigsten Orte. Ob mein Vater sich der Tatsache bewusst war, dass seine Söhne ihn begleiteten, um ihn zu kontrollieren, weiß ich nicht. Ich kann ihn leider nicht mehr danach fragen, denn er ist schon seit gut vierzig Jahren tot. Aber dass er unter dem vollkommen lächerlichen, absurden Verdacht enorm gelitten hat, steht für mich fest. Einmal hat er in der Dunkelheit des Bahrhäuschens (es hatte keine Fenster, und wenn man die Tür zumachte, war es stockfinster) zu mir gesagt : „ Deine Mutter bringt mich um. “ Und danach brach er in Schluchzen aus.



Beginn

Meine Mutter, Magdalena van der Giessen, wurde am 30. Mai 1920 in Poeldijk, Gemeinde Monster, geboren. Sie war die älteste Tochter von Arie Adriaan van der Giessen, geboren am 1. August 1893 auf Rozenburg, und Magdalena de Winter, geboren am 15. August 1896 in Hoek van Holland. Vor meiner Mutter hatte das Paar einen Sohn bekommen, der am 8. August 1918 ebenfalls in Poeldijk das Licht der Welt erblickt hatte. Auf die beiden ältesten Kinder folgten in regelmäßigen Abständen von etwa zwei Jahren noch fünf Jungen und zwei Mädchen. In einem der wundersamen, mäandrierenden Monologe, die meine Großmutter hielt, sobald man in ihrem Gesichtsfeld erschien, enthüllte sie mir einmal, wie sie es geschafft hatte, die Kinderzahl auf lediglich neun zu be­­grenzen, und wie es sich erklären ließ, dass die neun im Abstand von zwei Jahren aufeinanderfolgten.
» Ich wollte unbedingt Kinder haben, am liebsten mehr als vier, aber ich wollte nicht jedes Jahr niederkommen, das war mir viel zu anstrengend, da geht man ja ganz schön auf dem Zahnfleisch, wenn man ein Kind bekommt, also stillte ich die Kinder so lange wie möglich, und solange man so ein saugendes Mündchen an der Brust hat, kann man so feurig sein wie ein Zaunkönig während der Mauser und muss dennoch nicht fürchten, wieder schwanger zu werden. Ich hätte Leen, Lena, Teun, Siem, Cor, Jan, Bep und Jaap gern noch länger gestillt, aber das funktionierte nicht, nach kaum mehr als einem Jahr hörten sie auf zu trinken, außer Aad, der hat es geschafft, zwei Jahre zu nuckeln, sodass Jan 1931 geboren wurde, während Aad von 1928 ist. Und nach Jaap war Schluss, danach kam zum Glück nichts mehr, obwohl ich damals gerade achtunddreißig war. Ja, das war schön, alles in allem, 1918 Leen, 1920 Lena, 1922 Teun, 1924 Siem, 1926 Cor, 1928 Aad, dann plötzlich eine Lücke von drei Jahren, 1931 Jan, 1933 Bep und 1935 Jaap. Gut gemacht, Lena de Winter, sage ich da zu mir selbst, denn glaube ja nicht, jemand anders würde mich dafür loben, was auch wiederum gut ist, denn sonst bildet man sich womöglich noch was ein, aber ich wollte nicht denselben Weg gehen wie die beiden Frauen meines Schwiegervaters Leen van der Giessen. Wie du weißt, hatte der dreizehn Kinder aus seiner ersten Ehe und elf aus der zweiten, und von den dreizehn Kindern aus der ersten Ehe wurden nicht weniger als zehn Kinder, immer im Abstand von einem Jahr, tot geboren, und das dritte hat auch nur ein paar Tage gelebt, und nach den zehn tot geborenen Kindern wurde auch Leens erste Frau zum Herrgott heimgeholt, und da war er plötzlich ein Witwer mit zwei Kindern, mein Mann Arie und seine ältere Schwester also, und Leen hat wieder geheiratet, und die zweite Frau hat elf Kinder zur Welt ge­­bracht, insgesamt waren es also, wenn ich richtig rechne, vierundzwanzig Kinder – stell dir bloß einmal vor, vierundzwanzig Kinder, das wäre was gewesen, wenn die alle am Leben geblieben wären, mein Schwiegervater war Entenfänger auf Rozenburg, tja, von dem, was er damit verdiente, hätte er niemals vierundzwanzig Münder stopfen können, also war es nur gut, dass der Herrgott so viele zu sich nahm. Aber die Kinder aus der zweiten Ehe überlebten alle, sodass dein Großvater nicht weniger als elf Halbbrüder und -schwestern hatte. Und das in solch einem winzigen Deichhaus auf Rozenburg. Vierundzwanzig Kinder, das muss man sich mal vorstellen, einen so hitzigen Mann zu haben. Dein Großvater erzählte immer, dass sein Vater mittags stets nach Hause kam, und nach dem Essen stand er auf und versuchte, seine Frau zu schnappen. Die aber wollte sich nicht fangen lassen, und dann rannten die beiden hintereinander her um den Tisch, sechs, sieben Runden, es können auch acht gewesen sein, das weiß ich nicht so genau, und dann hatte Vater Leen Mutter Betje geschnappt, und all die Kinder sahen, wie ihre Mutter die Leiter zum Dachboden hochgezerrt wurde, und kurz danach hörten sie auf dem Dachboden gewisse Geräusche – ach, ach, ja, ja, dein Großvater war schon schwer geschlagen, der hat es schon als Kind alles andere als leicht gehabt, elf Brüder und Schwestern tot, Mutter tot und einen Vater, der seine zweite Frau jeden Tag um den Tisch jagte, weil er Lust hatte, immer nur Lust. Seine erste Frau wird er wohl auch um den Tisch gejagt haben, aber daran erinnert dein Großvater sich nicht, da war er damals noch zu klein für. Dennoch haben wir ihn, trotz all seiner Lust, lange erleben dürfen, denn er stammte aus dem Jahr 1869, und er ist erst 1960 gestorben. Na ja, das muss man ihnen lassen, den van der Giessens, wenn sie nicht schon in der Wiege sterben, und dafür gibt es eine ganze Menge Beispiele, dann werden sie durch die Bank sehr alt. «
Weil meine Großmutter an dieser Stelle ein kleine Pause in ihrem Monolog machte, konnte ich ihr erzählen, dass ich meinen Urgroßvater Leendert van der Giessen einmal auf der Insel Rozenburg besucht hatte, wobei ich davon ausgegangen war, es werde ihn gewiss freuen, einen seiner Urenkel zu sehen. Aber das ganz in Schwarz gekleidete, koboldartige Männlein, das hinter seiner Wohnstatt zum Vorschein kam, als ich den Deich hinab zu dem damit verwachsenen Häuschen ging, hatte mich fluchend und schimpfend von seinem Grundstück gejagt, obwohl ich ihm wiederholt zurief, ich sei ein Sohn seiner Enkelin Lena van der Giessen. Während ich den Deich wieder hinaufkletterte, verfolgte er mich sogar mit einer Mistgabel.
„  Ja, ja “, sagte meine Großmutter, „ das war kein angenehmer Zeitgenosse, mein Schwiegervater, aber er war dort drüben auf Rozenburg wirklich nicht der Einzige, der so wenig umgänglich war. Wundern muss man sich nicht, Rozenburg, nichts als Elend seinerzeit, nichts zu essen, nichts zu erleben, nichts zu verdienen, und immer nur die schlechtesten Pastoren, denn gute Prediger folgten nie einem Ruf nach Rozenburg. Merkwürdig aber ist, dass die van der Giessens dort auf der winzigen Insel, wo außer zur Erdbeerzeit nichts anderes auf den Tisch kam als Lehmkartoffeln und ein Strunk Endivien, alle steinalt wurden, wenn sie nicht schon in der Wiege starben. Ein Vetter von Vater Arie, oder war es ein Onkel, nein, es war ein Vetter, atmete einfach immer weiter, und auf einmal war er der älteste Mann auf Rozenburg. Und fast hätte man meinen können, er nehme an einem Wettlauf teil, denn eine Weile später, da war er der älteste Mann in der Provinz Südholland, und dafür hatte er wirklich keinen Schlag tun müssen, er musste nicht einmal von seinem Stuhl aufstehen, seine Konkurrenten schieden der Reihe nach aus, und von einem Tag auf den anderen war er dann plötzlich, im Alter von einhundertacht Jahren, der älteste Mann der Niederlande. Tja, schließlich starb er doch, und das Komische war, dass danach ein viel jüngerer Mann, ein Kerl von hundertvier, der älteste Mann der Niederlande wurde, aber das habe ich nie verstanden, wie kann das sein ? “
„ Das kann sehr gut sein, Oma “, sagte ich.
„ Nun, dann erklär mir das mal, ich werd daraus nicht schlau. “
Doch ehe ich ihr darlegen konnte, dass man, wenn ein Hundertachtjähriger stirbt und es zu diesem Zeitpunkt keine Hundertsieben-, Hundertsechs- und Hundertfünfjährigen gibt, um dessen Nachfolge anzutreten, automatisch bei einem Hundertvierjährigen landet, stand sie auf und sagte : „ Jetzt aber erst einmal einen Tee. “ Und als sie den Tee aufgegossen hatte und sich wieder in ihrem Sessel niederließ, da fuhr sie mit ihrem Monolog fort : „ Bei mir zu Hause waren die Umstände doch ein wenig besser als bei deinem Großvater. Wir waren nur zwölf Kinder, genau die Hälfte also, und von den Zwölfen sind auch nur zwei gestorben, einer meiner Brüder ist im Alter von neun Jahren ertrunken, und meine Schwester Suzanne, die genau vor mir geboren wurde, ist sehr jung gestorben, und da waren meine Eltern doch sehr froh über eine Nachfolgerin, auch wenn ich ganz offensichtlich ein Nachkömmling war. Zehn Mäuler zu stopfen, und mein Vater, Teun de Winter, halt … einen Moment … Ich muss dir etwas über meinen Vater Teunis de Winter erzählen, was du bestimmt nicht weißt. Eigentlich hatte er einen anderen Namen, er hieß Moses Rosenberg, er war der Sohn eines jüdischen Dienstmädchens, das bei der Familie de Winter arbeitete. Noch vor der Hochzeit wurde das Mädchen von ihrem Verlobten schwanger, einem jüdischen Burschen namens Rosenberg. Was für eine Schande, schwanger, aber noch nicht verheiratet. Also wurde das Ganze verheimlicht. Ihre Herrin aber war auch schwanger, und als die Kinder im Abstand von drei Tagen geboren wurden, da starb das Kind der Herrin, und daraufhin hat man das tote Kind mit dem lebenden vertauscht, und der kleine Rosenberg wurde auf dem Standesamt als Teunis de Winter angemeldet … das war 1850 … Nun, dieser Teunis de Winter, mein Vater also, hat sich im Selbststudium vom Landarbeiter zum Landvermesser hochgearbeitet und bekam in Hoek van Holland eine Stelle bei der Reichswasserwirtschaft, und in dieser Funktion hat er auf dem flachen Land und in den Dünen den ganzen Nieuwe Waterweg vermessen. Und dafür wurde er ja auch besser bezahlt als für die Arbeit im Gartenbaubetrieb, und deshalb ging es uns zu Hause etwas besser als deinem Großvater auf Rozenburg. Ach, ach, dein Großvater, mein Arie, das war so ein hübscher Bursche, er wurde einberufen, 1913, und er wollte gern zu den Grenadieren und den Jägern, und da haben sie ihn also in der Festung von Hoek van Holland zum Kellner in der Offiziersmesse gemacht, und so kam es, dass wir uns sonntags in der orthodox-calvinistischen Kirche sahen und uns hin und wieder einen Blick zuwarfen, bis er sich schließlich einen Ruck gab, und 1917 waren wir auf einmal verheiratet.
Aber um in der Zeit noch einmal einen Schritt zurückzugehen – meine Mutter Magdalena van Bodegom, nach der ich benannt bin, war adelig, ja, ja, wusstest du das ? Und sie war nicht nur von Adel, sie hatte zudem noch ein Wappen. Doch auch wenn sie von Adel war, alt ist sie nicht geworden, sie ist 1899 gestorben, vierundvierzig war sie da, und ich war gerade mal drei, an meine eigene Mutter kann ich mich also überhaupt nicht erinnern. Meine Schwestern haben mich aufgezogen, sie und meine Brüder haben gut für uns gesorgt, denn als dein Großvater in Poeldijk eine Gärtnerei kaufte, da hatten wir in der Zeit danach nichts mehr, und es war gut, dass wir von meinen Geschwistern aus Hoek van Holland etwas zugesteckt bekamen, denn sonst wären wir vor leeren Tellern verhungert. Da herrschte Armut, pure Armut. Zum Glück konnte dein Großvater einen Garten an der Herenlaan in Maasland bekommen. Das war 1926, in dem Jahr, als deine Mutter sechs wurde und zur Schule musste. Wir waren froh, dass wir nach Maasland ziehen konnten, aber deine Mutter fand das schrecklich. Von heute auf morgen ohne ihre besten Freundinnen und jeden Tag rund drei Kilometer zu Fuß zur Schule und wieder zurück, und am Sonntag denselben Weg zweimal zur Kirche, denn Radfahren, das ging damals wirklich noch nicht, das machte man nicht am Sonntag, und so war man mehr oder weniger den ganzen Sonntag unterwegs. Doch auch wenn es deiner Mutter schwerfiel, geklagt hat sie nie, ach, sie war so ein liebes Kind, still, ausdauernd und fleißig, und wie gut sie in der Schule war ! Hast du mal ihre Zeugnisse gesehen ? “
„ Ja, Oma, ein paar Vieren und ganz viele Fünfen. “
„  Genau wie du sagst, fast nur Fünfen, und Fünf war in Maasland die beste Note, die man kriegen konnte. Sie hatte noch mehr Fünfen als ihr Bruder Leen, der auch ein guter Schüler war, um von meinen anderen Kindern gar nicht erst zu reden. Lauter Überflieger, aber deine Mutter überragte sie alle bei Weitem, wenn sie ein Junge gewesen wäre, hätte sie bestimmt Lehrerin werden können oder vielleicht sogar Ärztin. Und wie geschickt und schnell sie mit Nadel und Faden war, nähen konnte sie wie keine andere, Socken stopfte sie im Handumdrehen, häkeln, stricken, sticken, sie glänzte in allem, und als sie ungefähr zehn Jahre alt war, bemerkten wir, dass sie unglaublich gut Trauben ausdünnen konnte. Gütiger Himmel, wie geschickt sie darin war, alle wollten sie haben, und schon bald dünnte sie die Trauben im ganzen Westgaag aus, in allen Treibhäusern, alle Trauben. Und im Haus nahm sie mir, nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, alle Arbeit ab, ich musste nichts mehr tun, die Wäsche, Essen kochen, putzen – das alles ging ihr leicht von der Hand, und nie beklagte sie sich, sie war still und geduldig, eifrig und lieb, sehr lieb sogar, ja, ja, du hast es gut getroffen mit solch einer Mutter, dass du in der Schule so gut bist, das hast du auch von deiner Mutter, und damit du’s weißt, das kommt wirklich nicht von den ’t Harts, das sind keine Leuchten, unverständig sind sie. “
„ Unverständig ? Was ist das ? “
»  Kennst du das Wort nicht ? Unverständig ! Dass sie null komma nichts verstehen, das bedeutet es. Und zudem sind sie auch noch Querulanten, schreckliche Querulanten. Nein, was das angeht, hätte deine Mutter es durchaus besser treffen können. Dein Großvater Maarten ’t Hart – der kam mit seinem Hundekarren sogar bis zur Herenlaan – versuchte immer wieder, einen übers Ohr zu hauen. Lena van der ­Giessen, sagte er zu mir, ein Wischlappen für acht Cent, drei im Angebot für fünfundzwanzig, und ich fiel drauf rein, und wenn ich Arie dann abends stolz erzählte, dass ich günstig drei Wischlappen hatte kaufen können, dann war der Ärger groß. Als meine Söhne deinen Vater nach der Obst- und Gemüseauktion hin und wieder mit zu uns nach Hause brachten, da hab ich deine Mutter sogleich gewarnt : Lena, sieh dich vor, das ist ein ’t Hart, und den ’t Harts kann man nicht trauen, das sind lauter Herumtreiber. Aber deine Mutter hatte Mitleid mit deinem Vater, er war ein Ausgestoßener, er kam aus einer großen Familie und war die Nummer neun, und sein Vater hatte ihn schon mit zwölf Jahren in Dienst gegeben. Für einhundert Gulden im Jahr hat er ihn an einen Bauern in Loosduinen verpachtet, gut so, wieder ein Kind aus dem Haus, und Geld gab es obendrein. Schließlich landete er, aber das weißt du natürlich alles, als Gartenarbeiter bei Herrn Poot im Westgaag, und so kam es, dass er zu den Auktionen ging, wo er Leen und Teun traf, die ihn mit zu uns brachten, seine Hosenträger waren kaputt, und deine liebe, liebe Mutter sagte : Gib mir die Hosenträger mal kurz, und im Handumdrehen hatte sie sie repariert, denn sie war schnell wie der Blitz, und so ist dann alles gekommen. Seine Hosenträger saßen wieder fest, und sie selbst hing auch daran fest. Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen, aber wenn man neun Kinder hat, dann übersieht man schon mal was, und ich hatte mit dem ganzen jungen Gemüse einfach alle Hände voll zu tun, und Lena war so artig, dass man sich wirklich nicht vorstellen konnte, dass sie sich mit solch einem schrecklichen ’t Hart abgeben würde. «
„ Sollte ich vielleicht lieber gehen, wenn die ’t Harts so schlimm sind ? “
„  Bist du verrückt ? Du bist doch zur Hälfte ein van der Giessen, und deshalb bist du so gut in der Schule, und du kommst doch sehr nach deiner Mutter, auch wenn du als kleines Kind eine regelrechte Plage für meine liebe Lena warst, aber du hast nichts von den ’t Harts, nein, und schließlich bist du auch ein Rosenberg, genau wie ich, ach, ach, in Amerika hat man zwei Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl gesetzt, das hat mir im Herzen schrecklich wehgetan, das waren bestimmt Verwandte, bleib du also noch ein wenig bei deiner Oma, noch eine Tasse Tee ? “

Dank der Monologe meiner Großmutter erfuhr ich noch das ein oder andere Detail aus der Jugend meiner Mutter, denn sonst besäße ich kaum Informationen über die ersten einundzwanzig Jahre ihres Lebens. Sie selbst sprach nie über ihre Kinderzeit. Über Mozarts Jugend weiß ich mehr als über die meiner Mutter. Nie erzählte sie von ihrer Schulzeit und von ihren Lehrern in Maasland. Sie sei immer Klassenbeste gewesen, berichtete mein Onkel Leen mir einmal stolz, doch selbst schien sie nie stolz darauf, eine so gute Schülerin ge­­wesen zu sein.
Nur zwei besondere Ereignisse wurden mir zugetragen. Zum einen, dass sie in ihren ersten einundzwanzig Jahren nur einmal nicht zu Hause übernachtet hat, als sie bei Verwandten meiner Großmutter in Wierden zu Besuch war. Ihre Gastgeber besaßen einen Plattenspieler und altmodische Schellackplatten. Als meine Mutter mitbekam, wie sehr ich Mozart verehrte, da erzählte sie mir auf einmal von diesem Abend in Wierden. „ Das war auch Musik von Mozart “, sagte sie, „ ich weiß es noch genau, die hörten sich die Leute an, und ihnen standen dabei sogar Tränen in den Augen. Nein, das war mir unerklärlich, Tränen bei solcher Musik, wenn es wenigstens Psalmen gewesen wären, dann hätte ich es verstehen können, aber Mozart. “
Zum zweiten, und dies ist noch bemerkenswerter als der einmalige Besuch in Wierden, erfuhr ich von einer ernsten Erkrankung meiner Mutter. Die Diagnose war rasch gestellt : Tuberkulose. Sie würde wohl nicht mehr gesund werden, hatte der Arzt gesagt, es sei denn, sie gehe in die Schweiz zur Kur, aber daran war angesichts der prekären finanziellen Lage, in der sich die Familie van der Giessen an der Herenlaan 1 in Maasland fast immer befand, gar nicht zu denken ! Gut, zu essen gab es, weil der Garten fast immer auch weniger gelungenes, auf der Auktion nicht verkäufliches Obst und Gemüse abwarf. Und sonst konnte man sich immer noch ein nahrhaftes Süppchen aus Giersch, der wie Spinat zubereitet wurde, und aus Brennnesseltrieben kochen. Doch schon der Kauf von Kleidung war ein Problem, selbst nähen, ändern, flicken und wenden lautete stets die Parole. Deshalb hatten meine Großeltern eifrig für die Genesung ihrer ältesten Tochter gebetet. Außerdem hatte meine Großmutter die Adresse eines Harnschauers in ’s-Gravenzande erhalten. Zu ihm brachte man meine todkranke Mutter auf einem Auk­tionskarren, und dieser besondere Harnschauer, ein Herr Bijsterveld, soweit ich weiß, konnte zwar auch kaum Hoffnung auf Genesung machen, empfahl der Patientin aber dennoch, jeden Tag langsam einen halben Liter Petroleum zu trinken. Also trank meine Mutter Tag für Tag, mit Brechreiz kämpfend, einen halben Liter Petroleum (ein Brennstoff, der damals noch für wenige Cent pro Liter zu haben war) und wurde tatsächlich, natürlich auch Dank der vielen Gebete, die in der orthodox-calvinistischen Kirche in Maasland zum Allerhöchsten gesandt worden waren, wieder gesund. Wie zur Erinnerung an die Krankheit meiner Mutter schwoll zu Jugendzeiten mein Arm nach einem Tuberkulintest jedes Mal derart an, dass ich zu einer Nachuntersuchung einbestellt wurde. Wahrscheinlich war ich bereits in der Gebärmutter mit Tuberkuloseerregern infiziert worden, die die Petroleumkur überlebt hatten.
Obwohl meine Mutter in einem verhältnismäßig großen, frei stehenden Haus aufgewachsen war, das eine riesige Küche, eine zusätzliche Spülküche sowie einen ausgebauten Dach­boden hatte und das zudem noch über einen schwindelerregend großen Garten mit wunderbaren Gewächshäusern für Tafeltrauben verfügte, sagte sie nie, sie habe damals in einem Garten Eden gewohnt, jedenfalls im Vergleich zu unserem winzigen Haus in der Patijnestraat. Ich selbst war bei unseren seltenen Besuchen bei meinen Großeltern an der Herenlaan jedes Mal entzückt von dem Haus und dem Garten, in dem man sogar Schienen verlegt hatte, auf denen eine Lore fahren konnte, von vorne nach hinten und wieder zurück. Natürlich wurde es mir als Kind verboten, hin und her durch den Garten zu sausen, denn es bestand immer die Gefahr, mit einem Bein unter die Lore zu geraten – um von schlimmeren Unfällen gar nicht erst zu reden –, aber manchmal waren so viele Enkel zu Besuch, dass man nicht immer unter Aufsicht stand, und dann flitzte ich mit dem Gefährt über die Schienen und war jedes Mal wahnsinnig eifersüchtig auf meine Mutter, die fast ihre ganze Jugend in diesem Haus mit einer Lore hinten im Garten verbracht hatte; und mit einem kleinen Steg am Wassergraben vor dem Haus, den man natürlich auch nicht betreten durfte, weil man leicht in den Wassergraben hätte fallen können, und dann wäre man im Handumdrehen er­­trunken. Aber unter anderem deswegen faszinierte mich dieser Steg, und ich bin diverse Male tatsächlich in den Graben geplumpst, was jedoch kaum andere Folgen hatte, als dass ich total verschlammt wieder hinausklettern musste. Wassergräben, das wusste ich bereits als Kind, waren nun einmal mein natürliches Habitat, meine ökologische Nische. Das Wasser war nie besonders tief, und wenn man wieder zum Vorschein kam, roch man von Kopf bis Fuß wunderbar nach Modder. Ich fühlte mich wohl inmitten der jungen Schleien, der Wasserasseln, Wanzen, Kaulquappen, Wasserskorpione, der Rückenschwimmer, der Kammmolche, der fast schwarzen, sich immer so hübsch windenden Egel und der besonderen Tierchen, die sich direkt unter dem Steg versteckten und Bryozoen oder auch Moostierchen hießen, wie ich erst später erfahren habe. Man sah sie unter dem Steg im glasklaren, aber dunklen Wasser sitzen, und wenn man die Hand nach ihnen ausstreckte, zogen sie ihre Tentakel ein, die sie wieder ausstülpten, wenn man die Hand wieder wegzog. Mit etwas Glück fand man unter dem Steg auch riesige gelb geränderte oder pechschwarze Schwimmkäfer, und die stürzten sich manchmal auf meine Handfläche, wenn ich versuchte, die Moostierchen zu fassen. Ich war jedes Mal stolz wie Oskar, wenn mich so ein Käfer ordentlich gebissen hatte. Und der Drang, diesen Biss meiner Mutter zu zeigen, war unwiderstehlich, denn sie wurde dann leichenblass.
Wenn ich die spärlichen Berichte aus ihrer Jugend richtig deute, dann hat meine Mutter sich in dem großen Haus an der Herenlaan gefürchtet. Sie hatte Angst vor all dem Getier, das zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Garten ins Haus drang, vor den Mücken, Käfern, Spinnen, Tausendfüßlern, Feldmäusen, ja manchmal sogar Ratten. Sie hatte eine Todesangst vor den sich ringelnden Egeln im Wassergraben. Und sie fürchtete sich vor den unheimlichen Geräuschen in der Nacht. Angst hatte sie insbesondere vor den vielen Hunden, die es überall auf den Bauernhöfen und Gartenbaubetrieben gab, die entlang des sich windenden Westgaags lagen, der Verkehrsader vom Maaslander Damm bis zur Mautstation am Deichaufgang. Die Herenlaan war eine vom Westgaag abzweigende Sackgasse, an der sechs Gärtnereien lagen, und alle hatten sie einen Hund. „ Nur wir nicht, zum Glück “, wie meine Mutter oft sagte, denn Hunde hatten es besonders auf sie abgesehen, jedenfalls meinte sie das. Während der sechs Jahre, in denen sie jeden Tag quer über die Wiesen nach Maasland zur Schule gegangen war (drei Kilometer hin, drei Kilometer zurück), hatten die Hunde ihr aufgelauert und waren mit wütendem Bellen hervorgesprungen, wenn sie, glücklicherweise in Begleitung ihrer Brüder, vorbeigekommen war. Auch nachdem sie Fahrradfahren gelernt hatte, kamen sie aus allen Winkeln und Löchern hervor, um mit ihren unheimlich blitzenden Eckzähnen nach ihren sich auf und ab bewegenden Waden zu schnappen, wenn sie durch den Westgaag radelte. Vielleicht stimmt es ja, dass all die Hunde es auf meine Mutter abgesehen hatten, denn ich glaube, sie hat, da sie von Natur aus sehr viel ängstlicher war als jeder andere Mensch, den ich je kennengelernt habe, mehr Angstschweiß produziert als ihre Mitschüler. All die Hunde haben diesen Angstschweiß gierig in sich aufgesogen und dementsprechend gehandelt. Es kann auch durchaus sein, dass meine Eltern, obwohl sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatten, sich ineinander verliebt haben, weil mein Vater, umgekehrt, von Natur aus vor nichts Angst hatte. Für meine Mutter muss es eine unglaubliche Erfahrung gewesen sein, mit meinem Vater durch den Westgaag zu fahren. Wenn ein riesiger Schäferhundmischling von einem Hof auf sie zugestürmt kam, dann schaute mein Vater das Tier nur an, und es zog sich jaulend und mit eingezogenem Schwanz blitzschnell dahin zurück, wo es hergekommen war, meinem Vater ungläubig hinterherschauend und oft noch lange leise jaulend. Als Kind hatte auch ich eine Heidenangst vor diesem Blick meines Vaters, vor diesen Augen, die plötzlich hellgrün wurden, und dem wütenden Ausdruck darin. Selbst nicht zu bändigende Hengste erstarrten, wenn mein Vater sie ansah, von Westgaager Hunden also ganz zu schweigen. Übrigens gilt bei Vögeln und Säugetieren : ängstliche Mutter, ängstliche Nachkommen. Mein Bruder und ich sind daher auch unglaubliche Angsthasen, meine Schwester merkwürdigerweise etwas weniger. Nun ja, was den Charakter angeht, so hat meine Schwester mehr mit meinem Vater gemein als mit meinem Bruder und mir, die wir beide das Hosenscheißertum meiner Mutter geerbt haben.

Wovor sich meine Mutter in ihren jungen Jahren am meisten fürchtete, war ihr eigener Vater. Nie habe ich sie ein gutes Wort über ihn verlieren hören. Ebenso wenig übrigens wie über ihre Mutter. Letzteres ist seltsam, denn ihre Mutter war eine außerordentlich liebenswerte, überaus soziale, herzliche, fröhliche Frau, die mit diesem auffallenden, eigenartigen Charakterzug behaftet war, der jedoch, vor allem bei Frauen, recht weit verbreitet ist : eine unheilbare Geschwätzigkeit. Meine Großmutter redete immer und ununterbrochen. Sie tat auch nichts anderes. Alles, was eine Mutter mit vielen Kindern in der Regel tut, erledigten eben diese Kinder, dieweil sie in einem Sessel saß und redete. Sie erzählte Geschichten aus ihrer Jugend, Geschichten von Onkeln und Tanten, Neffen und Nichten, Geburten, Krankheiten, Schwangerschaften, Fehlgeburten. Ihre ganze Vergangenheit marschierte pausenlos vorüber, inklusive der Geschichten vieler Verwandter. Sie webte immerfort an einem gewaltigen Fami­lienepos. Wenn man sich die Zeit nahm, ihr zuzuhören, dann war es das reine Vergnügen. Sie erzählte gut, verlor sich jedoch in Details und bog unversehens auf Nebenwege ab, und so kam ihre Geschichte nie an ein Ende. Und es traten immer wieder neue Vettern und Kusinen in ihrem sich ewig fortschreibenden Familienroman auf, und die führte sie nie ein, als hätte sie bereits früher von ihnen gesprochen, und ein übersichtlicher Stammbaum mit allen Namen, allen Geburts- und Sterbedaten wäre höchst willkommen gewesen. Vielleicht schützte sie sich mit ihrem „ Geplapper “, wie mein Vater ihre Monologe respektlos nannte, auch nur vor ihrem ehrgeizigen, herrschsüchtigen, bösartigen Mann, dem be­­rüchtigten und gefürchteten Arie Adriaan van der Giessen. Der wollte der führende Gärtner im Westland sein, er wollte auf der Auktion die allerbeste, teuerste Ware liefern, und dies wäre natürlich ein sehr löbliches Streben gewesen, hätte er nicht alles dafür geopfert. Auch mit etwas schlechter geratenen Produkten konnte man einen anständigen Preis erzielen, aber mein Großvater wollte ausschließlich Exportqualität liefern, und die lieferte er in der Regel auch, allerdings war der Preis dafür eine fast permanente Übellaunigkeit, die übrigens auch eine Folge chronischer Magenschmerzen war.
„ Wenn ich die Schritte meines Vaters hörte “, so meine Mutter, „ dann fing ich sofort an zu zittern und zu beben. “
„ Aber warum denn ? “, fragte ich sie.
„  Weil ihn glühende Wut packte, wenn er sah, dass man nicht fleißig bei der Arbeit war. Las man ein Buch, so wurde es einem aus der Hand gerissen, denn lesen war nicht arbeiten, das war faulenzen. Das Buch wurde auf der Stelle zerrissen. Lesen war strengstens verboten. Alles, was ich als Kind gelesen habe, habe ich beim Stricken, Häkeln oder Ändern gelesen. Aber selbst dann war man vor einem Wutanfall nicht sicher, denn seiner Meinung nach konnte man nicht zu hundert Prozent bei der Sache sein, wenn man gleichzeitig las. Also habe ich lieber ganz mit dem Lesen aufgehört, obwohl es mir doch so viel Freude machte. Und auch heute noch erstarre ich, wenn ich ein Buch zur Hand nehme, und fühle mich nie wohl dabei, denn sofort höre ich dann wieder die drohenden Schritte meines Vaters – man konnte bereits an seinen Schritten hören, woher der Wind wehte. “
Auch mein Vater hasste seinen Vater, und vielleicht hat auch dies dazu beigetragen, dass meine Eltern zueinanderfanden. Aber der Hass meines Vaters stand in keinem Verhältnis zum Hass meiner Mutter. Der war von einer beispiellosen Intensität, allumfassend und tief. Darum verwunderte es mich sehr, als ich sie, nach einem letzten Besuch bei ihrem sterbenden Vater, mit tränennassen Augen heimkommen sah. „ Warum hast du geweint, du magst deinen Vater doch gar nicht ? “
„ Schon, aber wie er da liegt, tut er mir leid, und er ist ganz zusammengeschrumpft, es ist nichts mehr von ihm übrig, winzig klein ist er geworden, er ist nur noch ein Kopf mit einem kleinen, armseligen Körper daran. “
Mein gefürchteter Großvater starb 1962 an Magenkrebs, er war achtundsechzig Jahre alt. Ich machte gerade Abitur und konnte deswegen nicht an der Beerdigung teilnehmen, auch wenn meine Großmutter das unschicklich fand. Es ist schade, dass ich nicht dabei sein konnte, denn während der Beerdigung hat mein Onkel Cor gesagt, mein Großvater hätte, wenn er sich zur Pfingstgemeinde bekehrt hätte und dabei in den Genuss des dort praktizierten Heilungsgebets gekommen wäre, noch viele Jahre leben können. Dies wurde von meinem Onkel Jaap bekräftigt, der sich wie Cor den Pfingstlern angeschlossen hatte. Beide hatten sich im Hallenbad von Schiedam, das von der Pfingstgemeinde hin und wieder für eine Tauffeier gemietet wurde, erneut taufen lassen.
Als meine Mutter nach der Beerdigung nach Hause kam, kehrte auch ich gerade von meiner schriftlichen Mechanikprüfung zurück. Sie war sehr wütend, es war mehr oder weniger das einzige Mal, dass ich sie mit erhobener Stimme habe sprechen hören : „ Diese Schufte “, rief sie, „ diese miesen Schufte ! “
„ Wen meinst du damit ? “, fragte ich sie.
„ Cor und Jaap “, erwiderte sie, „ diese Schufte, diese miesen Schufte. “
„ Warum sind die beiden Schufte ? “
„  Sie sagen, mein Vater sei an seinem Tod selbst schuld. Hätte er sich auch zur Pfingstgemeinde bekehrt, dann hätte Gott ihn gesund gemacht. Nun sei er auf ewig verloren, sagt Cor. Diese Schufte, diesen miesen Schufte. Erst verleugnen sie ihr Jawort gegenüber Jesus, indem sie aus der Kirche austreten, und dann verleugnen sie auch noch ihre Taufe, indem sie sich wiedertaufen lassen, und jetzt das, diese miesen Schufte. “

Meine Mutter – zum Glück noch ein Detail, das ich aus ihren ersten einundzwanzig Jahren in Erfahrung bringen konnte – hat Jesus ihr Jawort, wie sie das öffentlich gemachte Glaubensbekenntnis zu nennen pflegte, am 21. November 1940 gegeben. Mein Vater hat am 13. März 1938 sein Glaubensbekenntnis abgelegt. Wenn sie nicht beide Mitglied derselben Kirche gewesen wären, hätte aus ihnen nie etwas werden können. Dennoch verbarg sich, obwohl sie derselben orthodox-calvinistischen Kirche angehörten, eine Schlange im Gras. Mein Vater stammte aus einer Familie, die nach 1834 die Abscheidung der Altreformierten mitgemacht hatte, während die Vorfahren meiner Mutter 1886 Mitglieder der orthodox-calvinistischen reformierten Kirchen der Niederlande wurden. Diese beiden Glaubensrichtungen fusionierten 1892 und bildeten zusammen die streng calvinistische reformierte Kirche (wobei jedoch viele Altreformierte strikt gegen diese Verbindung waren und sich zur christlich reformierten Kirche zusammenschlossen). Von einer wirklichen Vereinigung konnte jedoch nie gesprochen werden, Altreformierte und orthodoxe Calvinisten bildeten immer zwei ­Richtungen innerhalb der reformierten Kirche, und das spürte man sogar bei uns zu Hause. Die Auffassungen meines Vaters unterschieden sich deutlich von denen meiner Mutter. Er sympathisierte mit den besonders orthodoxen Strömungen des Calvinismus, er mochte strenge Pastoren, Bündler, Hölle und Verdammnis predigende Kanzelredner wie Pastor ­Venema von der christlich reformierten Kirche in Maas­sluis, die einem klipp und klar zu verstehen gaben, dass man nicht die geringste Hoffnung hegen solle, zu den Auserwählten zu gehören. Meiner Mutter durfte man mit solchen Schwarzsehern nicht kommen. Sie vertrat einen fröhlichen Glauben, man sollte den ganzen Tag über in Jubelstimmung sein, weil man erlöst war durch Jesus und gereinigt in seinem kostbaren Blut. Leider war sie nicht in der Lage, diese Freude über die Erlösung auch auszustrahlen. Im Nachhinein denke ich, sie ist, um ein Modewort zu verwenden, ihr Leben lang depressiv gewesen. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, dessen natürliche Fröhlichkeit eigentlich durch nichts gebrochen werden konnte, außer durch die Tränen meiner Mutter, wenn sie wieder einmal meinte, er habe einer anderen Frau nachgeschaut.
Auch zwischen meiner Mutter und mir gab es in religiösen Fragen keine Übereinstimmung, was sich zum Beispiel dann zeigte, wenn sie mich zum wiederholten Mal ermahnte, Jesus mein Jawort zu geben.
„ Wo steht in der Bibel “, fragte ich sie dann jedes Mal, » dass man in einer Kirche, in Gegenwart der ganzen Ge­­meinde, zusammen mit einer Reihe anderer armer Würstchen gleichen Alters in der ersten Reihe sitzen und aufstehen muss, um Ja zu sagen, wenn der Pastor dieses dämliche Glaubensbekenntnis vorgelesen hat ? «
„ Du willst ihm also dein Jawort nicht geben “, entgegnete sie dann traurig.
„  Das sag ich nicht “, erwiderte ich, „ ich frage nur : Wo steht in der Bibel, dass man öffentlich sein Glaubensbekenntnis ablegen muss ? “
Diese Frage habe ich auch Presbytern und Pastoren gestellt, und schließlich auch Pastor Rothuizen, dem Studentenpastor in Leiden, der mich, neben mir her über die Brücke beim Akademiegebäude radelnd, fragte, wann ich mein Glaubensbekenntnis abzulegen gedächte.
Als ich ihm, statt eine Antwort zu geben, meine Frage gestellt hatte, sah er mich erstaunt und besorgt an.
„ Du willst also dein Glaubensbekenntnis nicht ablegen ? “, fragte er.
„ Es gibt keine einzige Stelle in der Bibel, die eine derart drollige Prozedur anrät oder auch nur rechtfertigt “, sagte ich.
Woraufhin der Pastor gekränkt davonfuhr.

Es sind keine Dokumente aus den geheimnisvollen, in un­­durchdringlichen Nebeln versunkenen Jugendjahren meiner Mutter erhalten geblieben, keine Briefe, wohl aber einige Fotos. Darauf sieht man meistens ein Mädchen mit grimmigem Gesichtsausdruck.
Zum Schulabschluss hatte sie ein Buch bekommen, ein Werk der Autorin Johanna Breevoort mit dem ominösen Titel Das verwahrloste Mädchen. Ich habe es einige Male gelesen, doch im Gegensatz zu Willem Wijcherts, das meinem Vater zum Ende der Schulzeit überreicht worden war, gefiel mir dieses Buch nicht. Auf dem Umschlag von Breevoorts Buch ist ein Mann abgebildet, der den Kopf auf den Tisch und die Arme schützend darumgelegt hat. Hinter ihm tritt eine Frau durch eine offene Tür ins Zimmer. Von dem verwahrlosten Mädchen nicht eine Spur. Ob dieses Buch mit diesem Titel auf ein allgemeines Problem verwies, sei dahingestellt. Verwahrlost wurde und war meine Mutter bestimmt nicht, das traf eher auf meinen Vater zu, der mit zwölf kurzerhand zu Hause rausgeschmissen wurde. Wenn es ein Buch mit dem Titel Das furchtsame Mädchen gegeben hätte, dann wäre das passend gewesen. Und dennoch, so ängstlich sie auch war, sie übte (laut meiner Schwester, mir hat sie das nie erzählt) mit ihrem Bruder Leen das Küssen. Dergleichen wäre in meinen jungen Jahren in der Patijnestraat undenkbar gewesen : Kussübungen mit der eigenen Schwester !
Leen war ganz offensichtlich auch der einzige Bruder, den sie mochte. Über ihre anderen Geschwister habe ich sie nie ein gutes Wort sagen hören, und selbst Leen wurde am Ende verketzert, weil er, an Krebs im Endstadium leidend, um Sterbehilfe gebeten hatte.
„ Das finde ich so schrecklich “, meinte meine Mutter. „ Warum hat mein Bruder es nicht dem Herrgott überlassen, den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen ? “
„ Weil er unerträgliche Schmerzen hatte “, sagte ich.
„  Ach was, unerträgliche Schmerzen “, protestierte sie. „ Es gibt nur einen, der unerträglich gelitten hat, und das war Jesus selbst. “

Kommentare

1. Vielen Dank!
Charlotte Döring am 05.12.2022

Danke!
Immer wieder vergrabe ich mich in den Büchern von Marten t' Hardt.
Ich bin ähnlich aufgewachsen, obwohl um einiges jünger und in Deutschland. Mein Vater war seinem Vater in vielen Dingen ähnlich. Das Abschleifen der Buchstaben auf den Grabsteinen hätte ich meinem Vater auch zugetraut. Ich weiß nicht, ob sein Traum beim Tod seines Vater wirklich von ihm erlebt wurde, aber ich hatte beim Tod meines Vaters fast denselben Traum.

2. Maarten t'Hart
Frauke Saß am 24.03.2024

Auch ich lese die Bücher immer wieder.Wird es ein neues Buch zu seinem 80.Geburtstag Ende des Jahres geben?Oder endlich eine weitere Übersetzung?Oder gar eine Lesung? Der Autor hat sich ja-altersbedingt-?sehr zurückgezogen.Leider.! Ich vermisse seine Stimme sehr!

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