„Ja, ja, die Frau Krug“, seufzte die Bäckersfrau beim morgendlichen Brötchenkauf. „Wissen Sie eigentlich, dass die vor ein paar Jahren einfach verschwunden ist?“
Am ersten Tag hatte sie mich neugierig-freundlich gegrüßt, am zweiten interessiert gemustert, und heute, am dritten Tag unseres Landurlaubs, wurde ich schon ins Vertrauen gezogen.
„Verschwunden?“, fragte ich, obwohl Dorfklatsch das Letzte war, was mich interessierte. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Ferien auf dem Land macht, hat die Spielregeln zu akzeptieren. Um ehrlich zu sein: Mein natürlicher Lebensraum ist die Stadt. Ich mag es nicht, wenn schon vor Mittag das halbe Dorf weiß, dass ich am Sonntag die Rollläden zwei Stunden später als üblich hoch gezogen habe. Und ich mag mir auch nicht den Wecker stellen, um die Rollläden pünktlich hoch zu ziehen und mich dann wieder hinzulegen.
„Wollt’ abends noch schnell Zigaretten holen, und weg war sie. Ihr Auto hat man später in Stuttgart gefunden, in einem Parkhaus.“
Vermutlich eine dieser Geschichten, in denen ein Mensch sein Leben, seine Ehe, seinen Partner einfach satt hat.
„Die Polizei hat sie nicht gefunden, so viel sie auch gesucht haben. Eine Weile hat man sogar gedacht, ihr Mann hätt’ sie umgebracht.“
„Dann war die Ehe wohl nicht so gut?“ Ich heuchelte Interesse und knetete meine Brötchentüte. Vermutlich wusste die Bäckersfrau längst, dass ich im richtigen Leben Chef der Heidelberger Kriminalpolizei war, und dachte, ich hätte Entzugserscheinungen, wenn es keine spannenden Fälle zu lösen gab.
„Der Mann ist dann zwei Jahre später gestorben. Seither steht das Haus leer. Die Schwester hat sogar einen Detektiv engagiert. Aber nicht mal der hat die Frau Krug finden können.“
Diese Schwester kannte ich, zumindest vom Telefon, denn sie hatte uns das Fachwerkhäuschen am Ortsrand vermietet. Meine Töchter, Zwillinge, sechzehn Jahre alt, blond und altersüblich pferdenärrisch, hatten die Idee gehabt, unsere Ferien dieses Jahr auf dem Land zu verbringen. Unser Sommerhaus lag im Kraichgau, in einem Örtchen nahe Eppingen. Den Kraichgau mit seinen weiten Horizonten nennen manche die Toskana Deutschlands. Aber nicht die sanft hügelige Landschaft hatte den Ausschlag für die Wahl unseres Urlaubsorts gegeben, sondern der nahe Reiterhof. Ich bedankte mich bei der Bäckersfrau und wandte mich zum Gehen.
„Damals war sowieso ein komisches Jahr. Im gleichen Jahr war ja auch dieser Überfall …“
„Ich muss jetzt leider“, fiel ich ihr lächelnd ins Wort. „Meine Töchter warten auf ihr Frühstück.“
Ich trat in die morgendlich frische Luft hinaus. Irgendwo tuckerte ein Traktor. Sonst war es still.
Was meine Töchter betraf, hatte ich gelogen. Als ich um halb neun herrlich ausgeschlafen die dunkle und schlicht eingerichtete Küche betrat, hatte ich einen Zettel gefunden. Sarah und Louise waren entgegen ihrer Gewohnheiten früh aufgestanden und längst bei ihren geliebten Pferden. „Kommen mittags nicht zum Essen. Hdgdl, S+L.“
Ich beschloss, im Garten zu frühstücken. Die Sonne schien, die Luft war so weich und schmeichelnd, wie sie nur im Sommer auf dem Land sein kann. An jeder Ecke duftete es anders: nach Blumen, nach Heu oder nach Kuhmist. Am Ende unseres langgezogenen Gartens gluckerte sogar ein Bächlein und bildete die Grenze zu einer ungemähten Wiese voller Bienen und Schmetterlinge. Dahinter kamen nur noch goldene Felder und sonnenglühende Hügel bis zum Ende der Welt. Irgendwo stach eine Kirchturmspitze aus einer Senke. In der Nähe blökte ein unsichtbares Schaf.
Nicht einmal Handyempfang gab es hier, hatten meine Töchter gleich nach unserer Ankunft ungläubig festgestellt. Dem Fernseher hatte ich den Stecker gezogen, und von Dingen wie W-LAN war in dem alten Haus keine Rede.
Nach einem ausgedehnten Frühstück legte ich mich in den Liegestuhl unter dem großen Apfelbaum, um so lange zu lesen, bis ich keine Lust mehr hatte. Inzwischen war es warm geworden. Obwohl wir erst vor drei Tagen angekommen waren, war ich bereits braun geworden und unendlich gelassen.
„Guck mal, Paps“, sagte Louise beim Abendessen. „Haben wir gefunden!“
An ihrer rechten Hand funkelte ein kleiner Ring. Sie zog ihn vom Finger und reichte ihn mir. Ich verstehe nichts von Schmuck, aber das Ding stammte gewiss nicht aus einem Kaugummiautomaten.
„Wo?“
„Im Keller. Unter der Kiste, wo die faulen Kartoffeln drin sind. Die stinken vielleicht …“
Die beiden waren erst am späten Nachmittag wieder aufgetaucht, leuchtend glücklich, strotzend vor Gesundheit und Lebensfreude und rechtschaffen müde.
„Wie war das damals, mit dem Überfall?“, fragte ich die Bäckersfrau am nächsten Morgen. Ihre kleinen Augen begannen zu strahlen. Hatte sie es doch gewusst, dass meine berufliche Neugier mir keine Ruhe lassen würde. Sie beugte sich weit über den Tresen und sprach mit gedämpfter Stimme, weil neben der Eingangstür des Ladens ein fremdes Ehepaar in bunter Radlerkluft die Ansichtskarten besichtigte.
„Ein Juwelier in Heilbronn“, raunte meine neue Freundin. „Acht Wochen, bevor die Frau Krug verschwunden ist. Und stellen Sie sich vor, ein halbes Jahr später ist der Juwelier dann auch noch weg! Aber von dem weiß man wenigstens, was aus ihm geworden ist. Auf dem Bodensee war er, mit seinem Segelboot, und es ist stürmisch gewesen, an dem Tag. Das Boot haben sie später gefunden. Gekentert. Den Juwelier nicht.“
„Heilbronn - 22 km“, las ich auf einem der Wegweiser für Radfahrer an einer Linde auf dem Kirchplatz. Nicht nur der Fernseher blieb während der Ferien aus, lautete die Abmachung. Auch das Auto hatte Urlaub.
Allein sein kann wunderschön sein, wurde mir bewusst, als ich wieder unter meinem Apfelbaum lag und Die Asche meiner Mutter las. Ich schickte Theresa, meiner Geliebten, eine SMS, um sie neidisch zu machen, erhielt jedoch keine Antwort. Sie war zusammen mit ihrem Ehemann auf Bildungsreise im Nahen Osten unterwegs. Dann schwang ich mich doch aufs Rad. Die Fahrt nach Heilbronn war die reine Erholung. Die Sonne schien, ein sanfter Westwind schob mich an, die Landschaft war schön. Die Rückfahrt dagegen, zwei Stunden später, war eine Tortour. Jetzt blies mir der gar nicht mehr sanfte Wind ins Gesicht, das rostige Damenrad, das ich im Keller gefunden hatte, war eine Plage, und außerdem schien es ständig bergauf zu gehen. Nach mehreren Pausen erreichte ich schließlich ziemlich abgekämpft unser Dorf. Bis die Zwillinge von ihren geliebten Vierbeinern zurückkamen, hatte ich geduscht und mich ein wenig restauriert. So konnte ich meinen verblüfften Mädchen erklären, vierzig Kilometer auf dem Rad seien ein Klacks.
„Und?“, fragte Louise, die vor Neugierde von einem Fuß auf den anderen hüpfte.
„Es ist, wie ich gedacht habe: Der Ring stammt aus der Beute des Raubüberfalls.“
„Das heißt …?“
„Das heißt, dass Frau Krug den Juwelier überfallen hat. Es waren nur zwei Personen in dem Geschäft: Der Inhaber und eine Angestellte. Beide haben den Täter als klein und rundlich beschrieben. Er war maskiert und hat kein Wort gesprochen. Frau Krug war einsfünfundsechzig und ziemlich pummelig.“
„Und dann hat sie die Beute unter den Kartoffeln versteckt“, meinte Sarah.
Da bis zum Abendessen noch eine Stunde Zeit war – kochen würden heute meine Mädchen – legte ich mich noch einmal zum Lesen in den Liegestuhl. In der Ferne brummte gemütlich eine große Maschine. Vielleicht ein Mähdrescher. Auf der Wiese jenseits des Bächleins grasten seit neuestem fünf Kühe mit großen, freundlichen Augen.
Ich schrieb Theresa eine Sommersonnen-SMS mit tausend virtuellen Küssen und schlief Sekunden später über meinem Buch ein. Ihre Antwort weckte mich eine halbe Stunde später. Im Jordantal herrschte überraschenderweise eine mörderische Hitze, siebenundvierzig Grad, und kein Schatten weit und breit. Viel zu heiß für das geplante Kulturprogramm, und so lag man die meiste Zeit halb tot am Pool.
Ein leichter Wind strich über die Wiesen. Eine dicke Fliege summte um mich herum. Eine der Kühe muhte schläfrig.
Nach dem Abendessen – die Spaghetti carbonara waren meinen Töchtern überraschend gut gelungen – schlenderte ich ins Dorf. An der Seitenwand des Rathauses hatte ich am Morgen eine Telefonzelle entdeckt. Ich zückte den Zettel mit der Nummer von Frau Krugs Schwester.
„Ja?“, meldete sie sich nach dem dritten Tuten.
Ich nannte meinen Namen. „Ich würde gerne mit Ihnen über Ihre Schwester sprechen.“
„Über Marlene? Wieso?“
„Ich denke, ich weiß, was aus ihr geworden ist.“
Am nächsten Vormittag um kurz nach zehn bremste ein roter Mercedes vor unserer Haustür. Eine Frau, die ähnlich klein und pummelig war wie die Verschwundene, stieg aus. Meine Töchter hatten sich für heute beim Reiterhof abgemeldet und glühten vor Aufregung. Frau Gernhardt war etwa in meinem Alter und sichtlich nervös. Sie hatte eine dunkelblonde Wuschelfrisur, trug Jeans und Schuhe mit Plateausohlen.
„Sie glauben nicht, wie lange ich nach Marlene gesucht habe“, seufzte sie, als sie mir die Hand reichte. „Die Polizei war ratlos. Dieser Detektiv hat mich Tausende gekostet. Wenn ich wenigstens wüsste, ob sie tot ist ...“
Wir durchquerten das Haus auf ehrwürdig knarrenden Dielen und setzten uns an den Gartentisch hinter dem Haus.
„Was ist nun mit Marlene? Und wie kommen Sie überhaupt …?“
„Paps ist Chef der Heidelberger Kripo“, konnte sich Sarah nicht verkneifen, stolz zu bemerken.
Noch vor gar nicht langer Zeit hatten sie meinen Beruf als megauncool eingestuft.
„Hatte Ihre Schwester öfter in Heilbronn zu tun?“, lautete meine erste Frage.
„Nicht dass ich wüsste.“
„Oder in der Nähe?“
„In Leingarten. Sie hat da am Gymnasium unterrichtet. Sport und Französisch.“
Meine Töchter zogen säuerliche Mienen. Ihre beiden Hassfächer.
„Sagt Ihnen der Name Jochen Behringer etwas?“
„Behringer?“
„Ein Juwelier, dessen Geschäft in Heilbronn acht Wochen vor dem Verschwinden Ihrer Schwester überfallen wurde. Gewohnt hat er aber in Leingarten. Er hatte zwei Söhne, damals zwölf und fünfzehn. Beide sind auf das Gymnasium gegangen, wo Ihre Schwester unterrichtet hat. Ich vermute, sie und Herr Behringer haben sich dort kennen und lieben gelernt.“
„Wieso sagen Sie, er hatte Söhne?“
„Er ist einige Monate nach dem Überfall ebenfalls verschwunden.“ Ich legte den Ring auf den Tisch. „Und diesen Ring haben meine Töchter unten im Keller gefunden.“
Die beiden Finderinnen nickten eifrig.
„Er stammt aus der Beute des Überfalls, wie ich inzwischen weiß, und ist etwa dreitausend Euro wert. Ich habe mit der damaligen Angestellten des Juweliers gesprochen. Sie sagt, ihr Chef sei in den Monaten vor dem Überfall öfter für zwei, drei Stunden verschwunden. Angeblich, um sich zuhause um die Buchhaltung zu kümmern. Das Geschäft hat übrigens seiner Frau gehört.“
„Und Sie meinen also … Marlene und dieser … Juwelier?“
„Haben sich ineinander verliebt. Er konnte sich nicht scheiden lassen, sonst hätten sie mittellos dagestanden. Ihre Schwester war wohl auch nicht glücklich in ihrer Ehe …“
„Helmut war ein Idiot. Gefühllos und manchmal sogar gewalttätig.“
„So sind die beiden auf die Idee mit dem Überfall gekommen. Die verlassene Frau Behringer hat später von der Versicherung über eine Million kassiert und das Geschäft verkauft. Herr Behringer hat auf dem Bodensee seinen angeblichen Tod inszeniert. Und jetzt leben die beiden vermutlich irgendwo, wo es warm und schön ist und sind hoffentlich glücklich.“
„Und … nun?“
Ich lehnte mich entspannt zurück. „Das alles sind natürlich nur Vermutungen. Die Tat ist längst verjährt. Und außerdem habe ich Urlaub.“
Eine der Kühe muhte zustimmend. Das unsichtbare Schaf blökte.
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