»Am zweiten Weihnachtsfeiertag vor sechs Jahren saß ich wieder einmal am Krankenhausbett meiner Mutter. In den vorangegangenen Jahren waren wir öfter dort gewesen. Meiner Mutter schien es eine Weile gut zu gehen, obgleich sie weniger beweglich und aktiv war, als man es eigentlich von einer Frau Ende sechzig erwartete, und dann ging es ihr schlagartig schlechter, sie konnte sich gar nicht mehr bewegen, ihr war schwindelig und schlecht, und sie bekam Angstzustände. Und was uns Außenstehende am meisten Sorgen bereitete: Sie vergaß alles Mögliche.
Richtig grundlegende Sachen wie die Uhrzeit, ob es Tag oder Nacht war, und dass der Mann ihrer Freundin gerade gestorben war. Ich weiß noch, wie ich sie mal eines sehr frühen Morgens davon abhalten wollte, diese Freundin anzurufen, die ja immer noch um ihren Mann trauerte. Meine Mutter wurde richtig wütend auf mich, weil ich behauptete, der Mann ihrer Freundin sei gestorben, und nannte mich eine elende Lügnerin. Sie warf mir vor, bösartig und berechnend zu sein, und dass ich versuchen würde, einen Keil zwischen sie und ihre Freundinnen zu treiben.
Wenn es ihr so ging, wurde sie zornig, sie bekam Angst und weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen. Beim letzten Mal, an jenem zweiten Weihnachtsfeiertag, schrie sie vor Angst, als man sie in den Rettungswagen schob. Sie versuchte mir zu erklären, dass die Welt um sie herum zusammenbrach. Sie sagte dem Rettungssanitäter, sie wollte doch nur lange genug leben, um ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen.
Das hat uns allen viel Angst gemacht. Es war traumatisch.
Ein paar Tage später teilte mir eine junge Ärztin mit, meine Mutter könne wieder nach Hause – man vermute, sie habe eine böse Magen-Darm-Entzündung gehabt. Ich weigerte mich, das zu glauben. Ich wies sie auf die Krankengeschichte meiner Mutter mit zu hohem Blutdruck und vermutlichen Schlaganfällen hin und darauf, dass sich ihre Persönlichkeit veränderte und meine Mutter sehr vergesslich geworden war.
Gott sei Dank war die Ärztin einsichtig und ordnete eine Computertomographie vom Gehirn an. Darauf war eine große Arachnoidalzyste zu erkennen, eine gutartige, flüssigkeitsgefüllte Erweiterung der Spinngewebshaut, mit der meine Mutter höchstwahrscheinlich bereits auf die Welt gekommen war. Die meisten Menschen mit Arachnoidalzysten können lange Jahre problemlos damit leben, nur wenige bekommen im fortgeschrittenen Alter Beschwerden, und die Zyste meiner Mutter war vermutlich über mehrere Jahre stetig angewachsen.
Ihre schwere Depression, ihre Persönlichkeitsveränderung, ihre eingeschränkte Mobilität, die Vergesslichkeit, das Schwindelgefühl, die Übelkeit und eine ganze Reihe anderer Symptome rührten vermutlich daher. Meine Mutter wurde sofort an das Royal Free Hospital überwiesen, und der dortige Neurochirurg erklärte schon bald, man wolle operieren und meiner Mutter einen Shunt legen, um die Flüssigkeit aus der Zyste abzuleiten und so den Druck auf das Gehirn zu reduzieren. Meine Mutter hatte große Angst, allerdings erklärte man ihr, dass die Zyste früher oder später (und eher früher als später) zum Tode führen konnte, wenn nicht operiert würde. Am Vorabend der Operation erzählte sie mir, sie würde schwarze Käfer die Wände hochkrabbeln sehen, und dass hinter dem Vorhang zum Nachbarbett eine Orgie stattgefunden habe!
Die Frau, die ich nach der Operation in ihrem Bett sitzen sah, war eine völlig andere als die, die man in den OP gebracht hatte. Sie konnte sich bewegen, lächeln, sprechen. Und mir reichte ein Blick in ihre Augen, um zu wissen, dass ich meine alte Mum zurück hatte. Ich weinte vor Erleichterung. Wir hatten so ein Glück gehabt – wir hatten die Ärztin in Richtung einer Diagnose gedrängt, die leicht hätte übersehen werden können, und dann stellte sich heraus, dass die Ursache der Beschwerden meiner Mutter behandelbar war. Sie bekam die Lebensqualität zurück, von der wir befürchtet hatten, dass sie für immer verloren war.
Ich finde es beängstigend und faszinierend zugleich, wie stark Krankheit und Erkrankungen des Gehirns unsere Persönlichkeit, unsere Erinnerungen, unser Menschsein beeinflussen können. Ich hatte dabei zugesehen, wie eine Frau, die ich besser kannte als jeden anderen Menschen auf der Welt, und die mich besser kannte als die meisten anderen, sich vom Wesen her vollkommen veränderte, und ich befürchtete, dass sie nach und nach in eine Dunkelheit abdriften würde, aus der ich sie nicht wieder hervorholen konnte. Aber noch viel schlimmer war die Aussicht, diese Frau, die wir so sehr liebten, womöglich nie mehr wieder zu sehen, bevor sie ganz weg war.
Der schreckliche emotionale Aufruhr und alle damit verbundenen Turbulenzen wirkten sich auf meine gesamte Familie aus, und diese Erfahrung hatte ich im Kopf, als ich anfing, für „Einfach unvergesslich“ zu recherchieren. Was passiert, wenn jemand, den du liebst, sich vor deinen Augen auflöst, wenn du ihn nicht mehr kennst und er dich nicht mehr? Was wird dann aus allem, was euch verbindet: der Liebe, den Erinnerungen, den Augenblicken, die einen Menschen ausmachen, der Lebenserfahrung? Wie fühlt sich das an – nicht nur für die, die zurückbleiben, sondern für den Betroffenen selbst? Wie geht er mit etwas um, das sich vollkommen seiner Kontrolle entzieht? So kam ich auf die Figur Claire.
Ich habe sehr viel zur Alzheimer-Krankheit recherchiert, aber Claires Stimme wurde ganz klar geprägt von den Erzählungen Betroffener. Von diesseits des Alzheimer-Schleiers nimmt man nur zu leicht an, dass jenseits des Schleiers dichter Nebel herrscht und insgesamt nur noch wenig los ist. Tatsächlich kann sich der Krankheitsverlauf aber lange hin ziehen, es gibt Höhen und Tiefen, Stillstand und Beschleunigung, und der Betroffene weiß sehr genau, was mit ihm passiert, was ihm verloren geht, und er muss mit der Trauer fertig werden und sich mit den Tatsachen abfinden, während ihm immer mehr das Bewusstsein entgleitet.
„Einfach unvergesslich“ sollte ein Buch über die wichtigsten Augenblicke im Leben eines Menschen werden, über die Erinnerungen, die sein Leben und das Leben seiner Lieben ausmachen. Es sollte ein Buch über Liebe werden, aber nicht nur über romantische Liebe, sondern auch über Mutterliebe, darüber, dass man sich um einen geliebten Menschen kümmert, ganz gleich, was passiert. Und es sollte ein Buch über Vermächtnisse werden, darüber, eine so gute Mutter, Ehefrau, Tochter wie nur möglich zu sein, und zu wissen, dass das – um es mit Philip Larkin zu sagen –, was dann von uns übrigbleibt, Liebe ist.«
Rowan Coleman
Übersetzung: Marieke Heimburger
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