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Wunschtag (Wunschtag 2)

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Lauren Myracle
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Dunkle Geheimnisse

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Wunschtag (Wunschtag 2) — Inhalt

In Willow Hill können Wünsche wahr werden. Denn hier ist es Tradition, dass man an seinem dreizehnten Geburtstag drei ganz besondere Wünsche äußert. Es glaubt zwar heutzutage niemand mehr daran, dass sie sich erfüllen könnten ... aber was, wenn doch? Die Schwestern Natascha, Darya und Ava wollen eigentlich nichts sehnlicher, als ihre Mutter wiederzusehen, die zehn Jahre zuvor aus unerfindlichen Gründen verschwand. Doch nun mehren sich die Hinweise, dass ihre Mutter wirklich zurückkehren wird. Und als Darya ihren dreizehnten Geburtstag feiert, ist es an ihr, drei Wünsche zu äußern: einen unmöglichen Wunsch, einen, den sie sich selbst erfüllen kann und einen, der aus ihrem tiefsten Herzen kommt. Darya steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Will sie wirklich, dass ihre Mutter zurückkommt? Oder sollte die Vergangenheit für immer ruhen? Der zweite Band der „Wunschtag“-Reihe wird aus der Sicht von Nataschas jüngerer Schwester Darya erzählt.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 03.04.2018
Übersetzt von: Andreas Decker
368 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99091-2
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Leseprobe zu „Wunschtag (Wunschtag 2)“

Prolog


Als Darya sechs Jahre alt war, hatte sie gewisse Ereignisse noch nicht vergessen. Deshalb machte sie sich eines Tages auf den Weg, um die Vogelfrau zu suchen. Allerdings war ihr das verboten worden. Zusammen mit ihren Schwestern sollte sie eigentlich auf dem kürzesten Weg nach Hause gehen – mit Natascha, die sieben war, und mit Ava, die erst fünf war. Aber Darya zog trotzdem los, und zwar ganz allein, weil das Leben für sie so schrecklich war.
In der Schule musste sie neben dem stinkenden Ben Trapman sitzen, der sich nie die Haare wusch. Ihr Pult [...]

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Prolog


Als Darya sechs Jahre alt war, hatte sie gewisse Ereignisse noch nicht vergessen. Deshalb machte sie sich eines Tages auf den Weg, um die Vogelfrau zu suchen. Allerdings war ihr das verboten worden. Zusammen mit ihren Schwestern sollte sie eigentlich auf dem kürzesten Weg nach Hause gehen – mit Natascha, die sieben war, und mit Ava, die erst fünf war. Aber Darya zog trotzdem los, und zwar ganz allein, weil das Leben für sie so schrecklich war.
In der Schule musste sie neben dem stinkenden Ben Trapman sitzen, der sich nie die Haare wusch. Ihr Pult hatte Metallbeine, die quietschten. Es gab nie genügend Klebstoff, und die Lehrerin konnte sie nicht leiden, obwohl sie immer das Gegenteil behauptete. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer.
„Ach, die Bloks, diese armen Mädchen!“, pflegte Miss Ellie zu den anderen Lehrern zu sagen. „Man muss sich das einmal vorstellen – ohne Mutter aufwachsen zu müssen.“ Oder: „Darya, Liebes, wann hast du das letzte Mal von ihr gehört? Hat sie deinem Vater keinen Brief geschrieben? Eine erwachsene Frau – eine Mutter! – kann doch nicht einfach so verschwinden, oder?“
Darya hasste Miss Ellie. Sie verabscheute den gierigen Blick, mit dem Miss Ellie sie immer anstarrte. Als wolle sie Darya verschlingen, um den anderen eine gute Geschichte erzählen zu können.
Auf dem Schulhof …
Auf dem Schulhof war nicht alles schlecht. Noch letztes Jahr im Kindergarten hatte Darya ganz allein unter dem Klettergerüst gesessen und Kieselsteine von einem Häufchen auf das andere geschaufelt. Da war sie noch ein Kleinkind gewesen.
Dieses Jahr konnte sie mit Suki und Stephanie spielen. Suki hatte glänzendes schwarzes Haar. Stephanie hatte ebenfalls glänzendes Haar, es war blond wie Butter, lang und dicht. Alle Jungen hielten Stephanie für das hübscheste Mädchen in der Grundschule von Willow Hill. Manchmal schenkten sie ihr Kaugummi oder Bonbons. Die Kaugummistreifen riss Stephanie in drei Stücke und teilte sie mit ihren Freundinnen.
Daryas Haar war rot und lockig, und vielleicht wäre sie ja das hübscheste Mädchen gewesen. Aber dann hätte sie so nett sein müssen wie Stephanie. Dann hätte sie nicht dauernd die Stirn in Falten legen und den Mund verziehen dürfen. Ihre Tanten mahnten sie ständig, diese Unarten sein zu lassen.
Manchmal spielten Darya, Suki und Stephanie Himmel auf Erden. Dann kletterten sie auf dem Klettergerüst herum, und der Fänger musste sie erwischen, wenn sie den Boden berührten. Der Fänger musste dabei aber die Augen schließen und durfte nicht blinzeln. Suki mogelte am laufenden Band. Manchmal benahm sie sich noch immer wie ein Kleinkind. Zum Beispiel hatte sie sich ausgerechnet Dora als Motiv für ihre Lunchbox ausgesucht.
Darya brachte ihr Essen in einer Papiertüte mit, die sie selbst vorbereitete. Im Gegensatz zu Suki, bei der sich die Mutter darum kümmerte. Damals, in ferner Vergangenheit, war Darya vier gewesen und halbtags in den Kindergarten gegangen. Da hatte ihre Mutter ihr noch das Essen eingepackt. Allerdings hieß es in jenen Tagen Imbiss und musste gesund sein. Süßigkeiten waren nicht erlaubt. Mama hatte oft ein Rätsel in die Tüte gepackt, auf einem zusammengefalteten Zettel, der mit Hab dich lieb, Mama unterschrieben war.
Darya besaß die Zettel noch immer, jeden einzelnen. Sie würde sie bis in alle Ewigkeit aufheben, und sie würden ihr ganz allein gehören.
Aber weder heute noch am Vortag oder am Tag davor hatten Suki und Stephanie Lust auf Himmel auf Erden gehabt. Sie hatten Hexenjagd spielen wollen, und Daryas Mutter war die Hexe.
„Hier, Hexchen, Hexchen!“, hatte Suki während der Nachmittagspause gerufen. Sie war von Busch zu Busch geflitzt, hatte unter die Brombeeren gespäht und so getan, als hätte Mama ihre Familie verlassen, nur um sich auf dem Schulhof der Grundschule zu verstecken.
„Wir sollten ganz oben suchen!“, schlug Stephanie vor, formte mit den Händen ein Fernrohr und betrachtete die Baumwipfel. „Die Leute sehen nie nach oben. Sie sehen nur das, was dicht vor ihnen ist. Meine Mom liest jeden Tag Krimis. Darum weiß sie so was. Wenn du dich mal vor einem bösen Mann verstecken musst, steig auf einen Baum oder klemm dich hoch oben in die Ecke der Decke.“
„Ich kann mich doch nicht in die Ecke einer Decke klemmen“, erwiderte Darya. „Wie soll ich mich dort oben denn festhalten? Mit Superkleber?“
„Und wenn du der Böse bist und nicht gefunden werden willst, solltest du dir ebenfalls ein ganz hohes Versteck suchen“, fuhr Stephanie fort. „Die Leute sehen nie nach oben.“
„Eine Mutter ist nicht die Böse“, wandte Darya ein.
Suki hob eine Hand. Das tat sie auch, wenn kein Lehrer in der Nähe war. „Aber es war böse, dass sie ging. Meine Mom sagt, das war böse Magie.“
Darya krallte die Fingernägel fest in die Handflächen, denn es gab keine böse Magie, genauso wenig wie es gute Magie gab. Das wusste sie, weil Mama es ihr gesagt hatte. Magie war einfach nur Magie, und Magie war stark. Ihre Heimatstadt Willow Hill platzte förmlich vor Magie. Manche Menschen bezweifelten das und meinten, Magie sei bloß Erfindung und in der realen Welt nicht erlaubt. Selbst mit sechs wusste Darya es besser.
„Meine Mom sagt, dass jemand deine Mom verzaubert hat“, behauptete Stephanie auf dem Schulhof.
„Nein, Daryas Mom hat den Zauber gemacht“, verbesserte Suki sie. „Darum ist sie die Hexe. Und dann hat sie einen Verschwindezauber gewirkt und sich aus dem Staub gemacht. Puff! Darum ist sie weg, stimmt’s, Darya?“
Und plötzlich hatte das Spiel keinen Spaß mehr gemacht. Eigentlich hatte es von Anfang an keinen Spaß gemacht. Daryas Herz tat weh, weil sie ihre Mama vermisste. So, wie es wehtat, die Traurigkeit im Innern einzusperren, während sie doch verzweifelt hinauswollte. Das war schrecklich anstrengend.
„Dein Inneres ist einfach zu dicht an der Oberfläche“, sagte Tante Elena, wenn sie merkte, dass Darya mit den Tränen kämpfte. Manchmal sprach sie dann auch weiter. „Dafür musst du dich nicht schämen, mein Liebling. Deine Mutter hat auch alles so intensiv gefühlt.“
Wenn das passierte, versperrte Darya die Ohren mit ihrer ganz besonderen Methode, indem sie in ihrem Kopf laut summte. Für gewöhnlich reichte das, und sie konnte einen Moment später blinzeln, den Kopf heben und ihrer Tante erzählen, dass sie nur etwas im Auge hatte. Sie hatte nicht mit den Tränen gekämpft, auch wenn es so ausgesehen hatte.
Darüber hinaus war Darya keineswegs wie Mama.
Oder vielleicht doch, aber Mama war nicht das, was Suki und Stephanie behaupteten.
Sie war keine Hexe!
Mama und Papa hatten keinen Krach gehabt, noch so ein Gerücht, dass Mama wegen eines Streits gegangen sei. Sie hatte sich auch nicht mit Tante Elena gezankt, die ihre jüngere Schwester war, oder mit Tante Vera, ihrer älteren Schwester.
So viele Gerüchte, und sie alle nagten an Daryas schlimmster Befürchtung, dass eines Tages irgendjemand zufällig über die Wahrheit stolpern würde. Wenn das geschah … Schon bei der Vorstellung verkrampfte sich Daryas Magen, und ihre Knie wurden ganz weich. Was, wenn sie sich gleich in die Hose machte? Eine Erstklässlerin! Die sich an der Schaukel in die Hose machte, genau dort, wo jeder sie sehen konnte.
Wäre Mama da gewesen, hätte es keine Probleme gegeben. Mama hätte alles besser gemacht. Jeden Tag wünschte sich Darya, dass Mama wieder nach Hause kam und Ordnung schaffte. Aber was galten schon die Wünsche einer Sechsjährigen?
Und genau das war der Grund, warum sie mit der Vogelfrau sprechen musste.
Die Vogelfrau war alt, voller Runzeln und seltsam, und die Regel lautete, dass Darya nett zu ihr sein sollte – aus der Ferne. Aus der Nähe gab es andere Regeln. Wenn sie die Vogelfrau auf sich zukommen sah, sollte sie zum Beispiel auf die gegenüberliegende Straßenseite wechseln. Außerdem sollte sie ihr nicht zuwinken, sie nicht anlächeln, und vor allem nie mit ihr allein sein.
Aber Erwachsene brachen die Regeln. Mama war eine Erwachsene, und sie hatte die wichtigste aller Regeln gebrochen. Warum sollte Darya das also nicht auch tun?
„Ich brauche einen Zauber“, verkündete sie verschwitzt und leicht außer Atem, als sie die Vogelfrau beim Teich in der Mitte des Stadtparks gefunden hatte.
„Ach?“ Die Vogelfrau hockte auf einer Bank und verstreute Vogelfutter, aber sie hielt inne und musterte Darya von oben bis unten. Aufgeregt glättete Darya den Rock ihres Kleids. Sie trug ihr fröhliches Kleid mit den aufgedruckten Kirschen.
Die Kleidung der Vogelfrau war alles andere als fröhlich, sondern ziemlich seltsam, genau wie ihre ganze Erscheinung. Ein schäbiger Mantel reichte ihr bis über die Knie und breitete sich auf der Bank aus, dabei war es doch warm. Abgestoßene braune Gummistiefel, obwohl der Himmel hell und klar war.
Darya ließ den Blick höher wandern und sah die rosigen Wangen, die funkelnden Augen und die großen Ohren mit den langen Ohrläppchen. Abgerundet wurde alles von hochstehendem Zuckerwattehaar, nur dass es grau statt rosa war. Bei solchem Haar wäre Tante Vera ausgerastet. Wegen der vielen verfilzten Strähnen hätte sie es sicher Vogelnest genannt.
Ein Vogelnest für die Vogelfrau. Beinahe hätte Darya gekichert. Dann fiel ihr der Grund für ihr Kommen wieder ein.
„Und?“, fragte sie.
„Und was?“
„Der Zauber. Es muss ein Vergessenszauber sein, und ich brauche ihn jetzt.“
„Aha. Und wie kommst du darauf, dass ich diesen Wunsch erfüllen kann?“
„Weil das alle sagen. Sie sind nicht ganz richtig im Kopf und gehören in ein Heim, aber Sie bringen andere Sachen zustande. Sie können zaubern.“ Sie runzelte die Stirn, denn plötzlich machte ihr ein Gedanke zu schaffen, der ihr zuvor noch nie in den Sinn gekommen war. Die Leute von Willow Hill waren wirklich der Meinung, dass die Vogelfrau in ein Heim gehörte. Sie sagten es so verächtlich, als sei das Leben in einem Heim die angemessene Strafe für eine seltsame alte Frau, die nicht mehr ganz dicht im Kopf war.
Aber war es denn nicht erstrebenswert, in einem Heim zu leben, wenn die betreffende Person kein eigenes Zuhause hatte?
Darya riss sich zusammen. „Also, machen Sie es? Verraten Sie mir einen Zauberspruch?“
„Wenn ich will.“
„Sehen Sie! Nun weiß ich, dass Sie es können. Schließlich haben Sie es mir gerade gesagt.“
Die Vogelfrau legte den Kopf schief. „Ich habe gesagt, wenn ich will. Etwas zu können ist eine Sache. Sich dazu zu entschließen eine ganz andere.“
Darya schnaubte nur. „Von mir aus. Werden Sie es tun?“
„Was habe ich davon?“
„Wie bitte?“
„Du willst etwas von mir. Was bekomme ich im Gegenzug dafür?“ Die Vogelfrau betrachtete sie mit lauerndem Blick. Darya hatte das Gefühl … nicht völlig nackt zu sein, das war es nicht ganz, aber es kam dem Zustand ziemlich nahe.
Sie verspürte Unbehagen, riss sich jedoch gleich wieder zusammen. Die Frau sollte unbedingt merken, dass sie der Situation gewachsen war. „Also gut, was wollen Sie?“
Mit einem knorrigen Finger tippte sich die Vogelfrau gegen die aufgesprungenen Lippen. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass du mir etwas Passendes bieten kannst. Du bist nur ein Kind.“
„Das bin ich nicht! Ich musste schnell erwachsen werden, weil … weil es einfach sein musste. Das sagen alle, und es war sehr tragisch.“ Ein großes Wort wie tragisch zu benutzen schenkte ihr neuen Mut. „Und ich bin schlau. Schon mit drei konnte ich lesen. Viele Eltern behaupten von ihren Kindern, dass sie früh lesen konnten, auch wenn die Kinder bloß Eis oder den eigenen Namen buchstabieren können. Aber ich konnte Bücher und Rätsel und alles mögliche andere lesen.“ Sie hielt inne. „Schön, ich war dreieinhalb, aber trotzdem.“
„Rätsel?“, fragte die Vogelfrau.
„Ich konnte Bilderrätsel lösen. Ich knoble gern an Sachen herum, selbst wenn sie schwer zu knacken sind. Erst recht, wenn es schwer ist.“
„Du bist stur“, sagte die Vogelfrau anerkennend.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Und widerborstig.“
Darya runzelte die Stirn.
„Gib mir ein Rätsel auf!“, verlangte die Vogelfrau. „Wollen wir doch mal sehen, ob du weißt, wovon du redest.“
„Lieber nicht.“ Wenn von Rätseln die Rede war, musste Darya an Mama denken, und diesen Weg wollte sie nicht einschlagen. Diesen Weg wollte sie nie wieder einschlagen, aus diesem Grund war sie ja hier.
Die Vogelfrau hob die Schultern. „Dann bin ich nicht geneigt, dir den Zauber zu überlassen.“
„Nicht geneigt?“, wiederholte Darya. „Wer sagt denn nicht geneigt?“
„Offensichtlich ich. Das bedeutet …“
„Ich weiß, was es bedeutet. Dass Sie es nämlich nicht tun wollen und dass Sie ein großer, fetter Kackvogel sind. Schließlich haben Sie gesagt, dass Sie es können. Sie wollen es einfach nicht, weil … weil …“ Zu Daryas Entsetzen füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Wenn ich ein Kackvogel bin, weil ich dir den Zauber nicht verrate, bist du dann nicht auch ein Kackvogel, weil du mir kein Rätsel aufgibst?“, fragte die Vogelfrau.
Sie griff in eine kleine Papiertüte, die Darya an die Essenstüten erinnerte, die Mama ihr immer mitgegeben hatte. Die mit den Rätseln. Die Tüte der Vogelfrau enthielt Sonnenblumenkerne, die sie jetzt in einem Halbkreis vor sich ausstreute.
„Ich schlage dir einen Handel vor“, lenkte die Vogelfrau ein. „Du gibst mir ein Rätsel auf, und ich schenke dir den Zauber.“
Darya kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. „Wirklich?“
Die Vogelfrau richtete sich auf. „Ich bin immer wirklich, sogar in Situationen, die andere für unwirklich halten.“
Darya schluckte. Schließlich war sie genau deshalb gekommen. Und sie war stur. Wie gern hätte sie die Flucht ergriffen, aber ein stärkerer Teil von ihr hielt stand. Obwohl das einzige Rätsel, das ihr einfiel, genau das war, das sie am allermeisten hasste.
„Wann ist ein Krug kein Krug?“, platzte sie heraus. Hastig verriet sie sofort die Antwort, weil sie Angst hatte, die Vogelfrau könne ihr zuvorkommen, und dann hätte der Handel nicht gegolten. „Wenn er ein Einmachglas ist.“
Die Vogelfrau hob belustigt die Brauen.
„Was denn? Das ist die Antwort.“
„Ja … aber ich fürchte, du weißt nicht, was das bedeuten soll.“
„Und ob ich das weiß! Ein Krug ist offen. Ein Einmachglas soll etwas aufbewahren, zum Beispiel Glühwürmchen. Man steckt sie rein und schraubt den Verschluss fest zu, dann kommen sie da nicht mehr raus. Juhu!“
„Aber dann sterben die Glühwürmchen doch.“
„Nein! Nicht, wenn ich Löcher in den Deckel bohre.“
Darya versuchte sich wieder zu beherrschen. Sie war nicht zu der Vogelfrau gekommen, um über das Rätsel mit dem Glas zu diskutieren. Sie war hier, um vor allem dieses dämliche Rätsel zu vergessen, weil es mit ihr zu tun hatte … und mit Mama. Und dem Grund, weshalb Mama gegangen war.
Darya mochte auch keine toten Glühwürmchen oder sonst etwas Totes. Die Vogelfrau war ein großer, fetter, gemeiner Kackvogel, um so etwas zu sagen.
Aber sie verstand sie ganz offensichtlich nicht, also erklärte Darya es ihr mit angespannten, hastigen Sätzen. Sie erzählte die ganze hässliche Geschichte. Als sie fertig war, sah sie das Mitleid in den Augen der Vogelfrau.
„Und das willst du vergessen?“, fragte die alte Frau.
„Ja. Das alles.“
„Bist du sicher? Es gibt ein altes Sprichwort, dass man vorsichtig sein sollte, was man sich wünscht, weil …“
„Weil es in Erfüllung gehen könnte“, vollendete Darya den Satz hitzig. „Ich weiß! Ich will ja, dass es in Erfüllung geht.“ Sie ballte die Fäuste. „Ich habe Ihnen ein Rätsel aufgegeben. Jetzt geben Sie mir den Zauberspruch!“
Die Vogelfrau musterte sie, und einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete Darya, dass sie sich weigern würde und ihr Wort nicht hielt. Dann räusperte sich die Vogelfrau und erklärte Darya Schritt für Schritt, was sie tun musste.
„Ich muss es tun? Ich dachte, Sie erledigen das.“ Darya schlenkerte mit den Fingern. „Sie wissen schon, Hokuspokus und Abrakadabra.“
„Kleines Mädchen, du bist ungeduldig, stur und neigst zu Gefühlsausbrüchen.“
„Stimmt doch gar nicht!“, schrie Darya und explodierte fast.
„Diese Eigenschaften könnten dich behindern – du weißt doch, was behindern heißt, oder? Aber damit der Zauber auch wirkt, musst du herausfinden, wie du diese Eigenschaften zu deinem Nutzen einsetzt. Und du musst es selbst tun.“
Darya stöhnte. „Das klingt wie Hausaufgaben. Dabei müssen wir in der ersten Klasse noch gar keine Hausaufgaben machen. Und ich dachte, das alles ist ganz einfach.“
„Wichtige Sachen sind selten einfach. Soll ich dir noch einmal erklären, was du tun musst?“
„Von mir aus.“
Die Vogelfrau hob die Brauen.
„Ja. Ja, bitte.“
Nachdem die Vogelfrau alles wiederholt hatte, ging Darya auf kürzestem Weg nach Hause und befolgte die Anweisungen ganz genau. Als Tante Elena wissen wollte, wozu sie den Klebstoff brauchte und was sie um Himmels willen mit dem Schuh vorhatte, log Darya und behauptete, etwas für den Kunstunterricht basteln zu müssen. Das hatte ihr die Vogelfrau für den Fall eingeschärft, dass jemand allzu neugierig wurde.
Als Darya fertig war, fühlte sie sich so benommen, als wäre sie nach einem langen Nickerchen gerade erst aufgewacht. Eine Weile starrte sie aus dem Fenster. Sie pflückte ein Staubknäuel auseinander und warf die Fäden in den Müll. Kurz darauf rief Tante Vera sie nach unten zum Abendessen. Spaghetti, die sie gern aß, und grüne Bohnen, die sie nicht mochte.
Die Welt bewegte sich weiter, und Darya merkte nicht, dass die Vogelfrau mit dem Zauber etwas sehr Schlaues bewirkt hatte. Die Erinnerung, die Darya unbedingt vergessen wollte, hatte sie verblassen lassen. Aber sie hatte ihr auch den Schlüssel gegeben, sich diese Erinnerung wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, falls sie eines Tages den Wunsch danach verspürte.

Über Lauren Myracle

Biografie

Lauren Myracle, 1969 in North Carolina geboren, lehrte mehrere Jahre Englisch und Kreatives Schreiben an der Universität und am College, bevor sie ihre Leidenschaft zum Beruf machte und sich ganz dem Schreiben widmete. Zahlreiche ihrer Kinder- und Jugendromane wurden zu Bestsellern.

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