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Wo die Löwen weinenWo die Löwen weinen

Wo die Löwen weinen

Heinrich Steinfest
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Kriminalroman

Ein ganz und gar hinreißender Autor. - Denis Scheck

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Wo die Löwen weinen — Inhalt

Stuttgart, anno 2010: Ein Archäologe wittert die große Chance bei Probebohrungen im Schlossgarten. Einen Durchschnittsbürger macht die Wut über die Mächtigen zum Scharfrichter. Ein Münchner Kommissar kehrt – widerwillig, aber auf der Spur eines heiklen Falles – in seine schwäbische Heimatstadt zurück. Und ein rätselhafter Hund, der eigentlich nur sitzen kann. Sie alle führt das Schicksal mitten in die Bodenlosigkeit eines umkämpften Großprojekts …

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 17.09.2012
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-27406-7
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 17.09.2012
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95739-7
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Leseprobe zu „Wo die Löwen weinen“

Vorspann:
Die Dinge, Tiere, Personen und ihre Handlungen


Die Hauptmänner


Rosenblüt, der Kommissar. Ein in die Jahre gekommener Robert Redford und elitärer Kriminalist, der dem lieben Gott versprochen hat, nie wieder nach Stuttgart zu reisen. – Versprechen kommen in die Welt, um gebrochen zu werden.


Hans Tobik, der Stuttgartforscher. Ein Mann, der den Mächtigen die Angst zurückbringen möchte, auf daß sie sich wieder in Menschen verwandeln.


Wolf Mach, der Archäologe. Mach ist der Österreicher, denn für jede Geschichte braucht es einen Österreicher. Der [...]

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Vorspann:
Die Dinge, Tiere, Personen und ihre Handlungen


Die Hauptmänner


Rosenblüt, der Kommissar. Ein in die Jahre gekommener Robert Redford und elitärer Kriminalist, der dem lieben Gott versprochen hat, nie wieder nach Stuttgart zu reisen. – Versprechen kommen in die Welt, um gebrochen zu werden.


Hans Tobik, der Stuttgartforscher. Ein Mann, der den Mächtigen die Angst zurückbringen möchte, auf daß sie sich wieder in Menschen verwandeln.


Wolf Mach, der Archäologe. Mach ist der Österreicher, denn für jede Geschichte braucht es einen Österreicher. Der Österreicher symbolisiert das Leben und den Tod.


Kepler, der Hund. Vermutlich die Reinkarnation des Mischlingsrüden Lauscher, der einst den Detektiv Cheng begleitete. Dieser Kepler begleitet nun Rosenblüt. Wie Lauscher ist er, weil völlig untierisch, das perfekte Tier: philosophisch – ohne ein Wort zu sagen, ohne ein Zeichen zu setzen, ohne auch nur mit dem Schwanz zu wedeln, philosophisch dank purer Anwesenheit.


Die Hauptfrauen


Alicia Kingsley, Wolf Machs Aufpasserin. Ein lebendig gewordener Panzer von polarer Schönheit. Höchstwahrscheinlich englisch, höchstwahrscheinlich Androide. Jedenfalls gefährlich. Gefährlich für wen, das ist die Frage.


Teska Landau, Kriminalhauptmeisterin, Rosenblüts Assistentin. Eine kleine, blasse Person, die eine neue Stuttgarter Leidenschaft kultiviert: Courage. Und zwar eine kluge Courage.


Der Schloßgarten-Mechanismus, ein vorchristliches Artefakt.


Eine schlafende Maschine. Steckt unverrückbar in der Erde.


Die Nebenmänner


Felix Palatin, wie Kingsley womöglich Androide, aber keiner von der netten Sorte. Von der Stadt Stuttgart beauftragt, das Entfernen der schlafenden Maschine zu überwachen und die Dinge nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. – Aber welche Dinge halten schon am System der Ruder fest?


Lynch, Türke in München. Cineast und elitär wie Rosenblüt. Förderer einer Hip-Hop-Band. Vermittler krummer Geschäfte, die sowieso nie ein Ruder gesehen haben.


Sami Aydin, Lynchs Cousin in Stuttgart-Bad Cannstatt. Nicht minder elitär. Macht den Eindruck, trotz seiner Jugend genauso alt wie Cannstatt zu sein, Cannstatter Urgestein im eigentlichen Sinne. Logischerweise Waffenhändler.


Doktor Thiel, Rosenblüts ehemaliger Mitarbeiter in Stuttgart, dort jetzt Dezernatsleiter für Organisierte Kriminalität. Zyniker, aber reinen Herzens. Holt Rosenblüt zurück in die Landeshauptstadt, wie um einen Giftpfeil ins Herz der finsteren Mächte zu schießen.


Doktor Gotthard Fabian, emeritierter Professor der Geologie in Stuttgart. Haupt der Burschenschaft der Adiuncten – unnahbar, grandios, verdächtig. Ein Lodenanzug, ein Mann.


Doktor Christoph Uhl, Professor der Geologie in München. Der Überfall auf seinen Sohn Martin ruft Rosenblüt auf den Plan. Der Überfall ist die Wunde, die bis nach Stuttgart aufreißt und nicht zu bluten aufhört.


Die Nebenfrauen


Aneko Tomita, Rosenblüts Lebensgefährtin. Japanerin in München. Fotografin. Zeichnet sich durch die maskuline Eigenschaft aus, ständig unterwegs zu sein.


Doktor Ursula Procher, Rosenblüts Chefin als Leiterin des Kriminalfachdezernats 1 in München. Eine Frau, die auf ihre Zehen aufpaßt.


Die Unerklärlichen


„Ratcliffe“ (auch „York“), der Projektsprecher von Stuttgart 21. Ist niemals in dieser Geschichte sichtbar und dennoch das Ziel von Spott und Verachtung. Nicht zuletzt das Ziel einer Kugel.


Die weinenden Löwen, fünf an der Zahl. In deren Zentrum befindet sich der „Gott aus der Maschine“, der Deus ex machina der Geschichte. Dieser besitzt eine frappante Ähnlichkeit mit dem Schloßgarten-Mechanismus.


Die Stuttgart-21-Betreiber, darunter Stuttgarts politische Elite, die gerne das Herz der Stadt in Schutt und Asche legen würde mit dem nicht ganz unrichtigen Argument, es handle sich dabei um ein Infrastrukturprojekt. Eine Elite, die zudem bemüht ist, Gott in Schutt und Asche zu legen, auch wenn das kein Infrastrukturprojekt ist.


Teil I


Schächte! Warum sind es immer Schächte?
Sigourney Weaver in Dean Parisots Film Galaxy Quest – Planlos durchs Weltall


Was soll denn das hier? Ich versteh überhaupt nicht,
für welchen Zweck da so ein Haufen stampfender,
krachender Dinger mitten im Weg steht.
Ich meine, dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.
Das ist überhaupt nicht logisch. Wieso ist das da?


Nochmals Sigourney Weaver im selben Film, konfrontiert mit einer zwar funktionslosen,
jedoch mit lebensgefährlichen Elementen ausgestatteten Tunnelröhre


Der Autor, der diese Folge geschrieben hat,
sollte selbst da durch.


Abermals Sigourney Weaver nach der aufreibenden Überwindung jener Röhre


1Tränen


Ein erster warmer Strahl traf sein Gesicht. Ihm kam vor, als tippe ein Geist ihm gegen die Stirn, nicht unfreundlich, nicht aggressiv, sondern in der Weise, mit der man ein Aschenkreuz auf die Stirn gemalt bekommt. Gewiß, die Fastenzeit war längst vorbei, der Juni ging zu Ende, und ein heftiger Sommer – eine Entzündung von Sommer, eine lepröse Hitze – bestimmte das Leben der Stadt. Doch anstatt sich zu verstecken, strömten die Leute nach draußen, freilich wenige so früh wie er. Er liebte die Zeit der Morgendämmerung, wenn das Licht im Zweifel war und die Welt menschenleer.
Er war mit seinen fünfzehn Jahren ein wenig ein Misanthrop, aber keiner von der schlimmen Sorte. In seinem Köpfchen spukten keinerlei Gewaltphantasien, er war kein Außenseiter, kein Waffenfreak, er war bloß von schwächlicher Statur. Der Umstand einer frühen Geburt hatte sich über die ganze Zeit erhalten, nicht nur körperlich, auch geistig. Allerdings war er kein Depperl, sondern ein guter Schüler und höchst talentierter Schachspieler. Trotzdem – er empfand so vieles in seinem Leben als eine Verspätung. Und als einen Ausdruck falscher Verortung. Im Brutkasten statt im Bauch zu sein. Wenn er seine Mutter sah, ihre energische, vitale Art, mit der sie alles und jeden organisierte, dann wurde er das Gefühl nicht los, sie habe ihn mit Absicht so früh in die Welt entlassen, um eben diesen Bauch loszuwerden, diese Behinderung beim Organisieren. Natürlich ließ er seine Mutter dies nicht fühlen und glaubte auch gar nicht, diese gänzlich fremde „liebe Frau“ aus der Fassung bringen zu können. Er war der Sohn, sie die Mutter, mehr war da nicht zu sagen.
In erster Linie kam er so früh an die Isar, um Sport zu treiben. Nicht, daß er ein großer Freund der Körperertüchtigung war, aber er erkannte angesichts seiner knöchernen Gestalt die Notwendigkeit, Muskeln auszubilden, wenn die Muskeln schon nicht von selbst kamen. Er verhielt sich in dieser Hinsicht durchaus pragmatisch. Er war zu klein, und er war zu dünn. Ersteres mußte er dem lieben Gott überlassen, zweiteres konnte er selbst in die Hand nehmen. Und tat es eben, verzichtete jedoch auf eins dieser Studios in der Art von Hamsterställen. Da war es ihm lieber, seinen Wecker auf halb fünf zu stellen, in den Trainingsanzug zu schlüpfen und über die Brücke und hinunter zum Fluß zu laufen, den er bei sich immer nur das „Tiroler Wasser“ nannte. Er fühlte sich auf eine irrationale Weise mit dem österreichischen Ursprung der Isar verbunden, als sei dort die Welt besser. Kein Wunder, daß ihm der Ausdruck „heiliges Land Tirol“ gefiel. Allerdings war er noch nie in diesem heiligen Land gewesen. Er dachte manchmal, daß er dorthin zum Sterben gehen würde. Vielleicht stand Tirol für den Mutterbauch, den er zu früh hatte verlassen müssen.
Vor dem Sterben aber ist das Leben und sind die Liegestütze. Er kniete sich auf den noch kühlen, feuchten Boden, atmete mehrmals kräftig durch und ging dann in Parallelposition zur Erde. Zehn Stück, saubere zehn Stück, das mußte er hinbekommen. Bei jedem Abwärts-tauchen küßte er das Gras, verharrte einen Moment im Kuß und im Anhalten der Luft, bevor er sich kräftig ausatmend nach oben stieß. Ein Schmerz zog sich durch seine Arme. Jener Schmerz, der Muskeln produzierte. Also war es gut so.
Was nicht so gut war, war der plötzliche Druck auf seinen Schulterblättern. Seine Arme knickten ein, und sein Gesicht tauchte ins Gras. Zum Küssen kam er nicht mehr, statt dessen schmeckte er die Erde. Da unten war es noch tiefe Nacht. Einen Moment dachte er, etwas in der Art eines plötzlichen Herztodes hätte ihn ereilt als Strafe dafür, dümmliche Gymnastik zu betreiben. Aber er lebte. Jemand nannte ihnschwul. Jemand befahl ihm, sich umzudrehen. Er drehte sich um. Über ihm waren mehrere Gesichter, zinnoberrot im Licht der über München aufgegangenen Sonne.
Das war jetzt der Moment, da er sich wünschte, viel früher in seinem Leben mit dem Krafttraining begonnen zu haben. Wobei sehr fraglich war, ob eine noch so intensive Liegestützerei geholfen hätte, es mit diesen Gestalten aufzunehmen: fünf Burschen, junge Türken, die ärmellose Shirts trugen, damit man ihre Oberarme besser sehen konnte. Schöne Oberarme, geradezu poliert, braun, glänzend, Bronze im warmen Schein, heldische Gestalten, mit denen etwas ordentlich schiefgelaufen war. Auch die Silberkettchen und die Sonnenbrillen glänzten. Eine Gangstertruppe wie aus dem Bilderbuch von MTV, als würden sie gleich zu tanzen anfangen. Aber sie tanzten nicht, sondern redeten im Klang jener Sprache, die aus einem Rasenmäher zu kommen schien. Eine Sprache im latenten Zustand der Selbstverarschung. Die Jungs, aus deren stark verzogenen Mündern Worte wie „Arschnloch“ und „Scheißndreck“ behende schlüpften, vermittelten den Zustand einer zur Gänze materialisierten Karikatur. Und genau darin bestand ja ihre Macht: kein Theaterstück zu sein, keine Überhöhung, keine auf ein Blatt Papier gezeichnete Überzeichnung, kein Videoclip, sondern leibhaftig. Die Karikatur in Fleisch und Blut und Kult. Allerdings doch um einiges kunstvoller und verspielter, als ihre Freunde, die Neonazis, das hinbekamen. Was nun für Martin, der da im Gras lag und das Zittern seiner Beine nicht unter Kontrolle bekam, wenig von Bedeutung war: der gewisse Reiz dieser Selbstverarschung mittels eines Soziolekts. Er verstand kaum etwas von dem, was man ihm entgegenspuckte, zu rasch wurden die von sch-Lauten dominierten Salven abgeschossen. Aber wahrscheinlich sollte er sowieso nichts verstehen, das Bedrohliche ergab sich aus dem Geheul eben jenes Rasenmähers.
Das war tatsächlich der springende Punkt: wie sehr nämlich die Würde dieser Stänkerer und Schläger daraus erwuchs, beim anderen – dem „Bastard“, der „Mißgeburt“ – Angst hervorzurufen. Auf diese Weise bekamen sie den Respekt gezollt, den ihnen die Integrationsbeamten nicht hatten verschaffen können. Nur, daß der Respekt nicht ihrer orientalischen Aura galt, sondern dem Messer, das da aus ihrer Sprache ragte, genauer: dem Messer aus der Tasche. Dem Mörderblick, der Breitbeinigkeit, dem Kriegsschmuck. Ja, sie waren Krieger in einem ganz unheiligen Krieg, krasse Krieger, im Sinne der Verwandtschaft von kraß und gräßlich. Wenn sie sich gegenseitig fragten „Was geht ab, ey?“, dann hätte man das eigentlich wörtlich nehmen müssen. In der Tat ging ihnen etwas ab. Denn der Krieger, jeder Krieger, entwickelt sich aus einem Defizit, einer Lücke. Immer dort, wo ein Vakuum entsteht, ein Loch, eine Spalte, keimt der Krieger hoch.
Die anderen Jungs, die, welche so offenkundig deutsch aussahen, sollten sich fürchten. Davor fürchten, blöd in der Straßenbahn herumzustehen und in die falsche Richtung zu glotzen. Wobei mit „den“ Deutschen gar nicht die mit den Springerstiefeln gemeint waren, die ja derselben Gattung angehörten und bloß eine andere Varietät der Respekt-durch-Angst-Gruppe darstellten. Martin hingegen war ein braver Junge mit Rehaugen, „so ’n Spasti aus Villaville“, keiner von der Straße, sondern aus begütertem Haus: blaß, mit dünnen, blonden Haaren, androgyn, im Nobelghetto beheimatet, in den Privatschulen, dem Klavierunterricht, der Fürsorglichkeit putzfrauengeputzter Badezimmer.
Martin war in eine Elite eingesperrt, ohne dafür aber ein echtes Bewußtsein zu besitzen. Er verfügte im Grunde über keine Sprache, mit der er sich identifizierte, außer der Sprache des Schachspiels. Doch wer verstand die schon? Ein paar ältere Herren, mit denen er sich im Park traf, ein paar Leute, mit denen er über das Netz Kontakt hatte, aber bereits seine Eltern wußten nicht, was er meinte, wenn er eine bestimmte Lebenssituation mit der Robatsch-Verteidigung verglich. Ganz klar, dieses Schachzeug war nicht ihre Idee gewesen. Für sie war Schach wie Lyrik, beides ganz okay, da partikelhafter Teil einer höheren Bildung, jedoch nichts, mit dem man Furore machen konnte, wurde man nicht Schachweltmeister oder Büchnerpreisträger. Wobei seine Eltern im Grunde auch auf einen Büchnerpreisträger verzichten konnten, weil man das ja nur einmal wurde.
„Arsch hoch, Schwuchtelgoi!“ sagte der, der hier der Anführer zu sein schien und eine Spur älter wirkte, vielleicht siebzehnjährig.
Goi? Martin war irritiert. Hatte er sich verhört? Wie kam ausgerechnet ein Türkenjunge dazu, ihn einen Goi zu schimpfen? Nun, er war ja auch einer, dennoch ... Die fünf Kerle traten jetzt nahe an ihn heran, er spürte ihren Atem, stand da wie in einem warmen Gebläse. Einer griff ihm in die Seitentasche seiner Laufweste und zog das Handy heraus, ein anderer das kleine Portemonnaie mit Ausweis und etwas Geld darin und dem Schlüssel zur Wohnung.
„Lachscht du, du Penner? Willscht du was aufs Maul?“
Nein, er hatte ganz sicher nicht gelacht. Dennoch senkte er den Blick, starrte hinunter auf den Boden und dachte: „Verdammt, ich will mich nicht anpissen.“ Das war seine Angst: die Kontrolle über seine Blase zu verlieren. Nicht, weil ihm das schon mal passiert war, aber er war ja auch noch nie in einer derartigen Situation gewesen.
Als hätte einer von den Türkenjungs genau das vermutet, genau diese konkrete Angst vor einer Selbstverstümmelung mittels ungewollten Harnlassens durchschaut, wies er Martin an, sich auszuziehen. Martin rührte sich nicht. Ein anderer, der bisher im Hintergrund geblieben war, mischte sich ein. Mit Ruhe in der Stimme, einem fast wehmütigen Klang, frei vom Rasenmäherton der anderen, meinte er: „Komm, Goi, bring’s hinter dich, is’ ja nicht zu ändern.“
Doch Martin verharrte in seiner Versteinerung. Er war jetzt bereit, sich Schmerzen zufügen zu lassen. Lieber das, als sich nackt ausziehen. Er sagte: „Nein.“ Er sagte es in der gleichen Weise, mit der man in aussichtsloser Position ein Remis anbietet in der Hoffnung, der Gegner sei zu faul oder zu müde für ein anstrengendes Endspiel.
Aber das hier war ja nicht anstrengend, nicht für die Jungs, die nun begannen, Martin zu stoßen, gar nicht heftig, ein lässiges Anrempeln bloß.
„Ey, schieb mal den Wecker rüber!“ rief einer. Er meinte die Armbanduhr.
„Nein“, wiederholte Martin leise, tonlos. Das war jetzt kein Remis mehr, was er anbot. Er bot an, sich köpfen zu lassen. Seine Stimme war dünnes Papier, über das der Wind pfiff, der die Buchstaben verwehte.
Einer kam von hinten und legte seinen Arm um Martins Hals. Er zog die Armschlinge zu. Zwei andere fixierten den Oberkörper und drückten ihre Knie gegen Martins Schenkel, während ein dritter die Uhr vom Handgelenk löste. Eine schöne Uhr, die sein Großvater Martin geschenkt hatte. Seine Mutter hatte ihm geraten, die Uhr nicht zu tragen. Aber eine Uhr nicht zu tragen, war ihm so komisch erschienen wie die Leute, die Brot kaufen, um dann die Rinde wegzuschneiden.
Der letzte näherte sich, der mit dem ruhigen Tonfall, kniete sich vor Martin hin und ging daran, die Schnürsenkel seiner Sportschuhe zu öffnen. Er tat auch dies erstaunlich behutsam, kontrolliert, als wollte er Martin nicht verletzen. Vielleicht schonte er aber auch nur die Schuhe. Jedenfalls entfernte er ein Kleidungsstück nach dem anderen von Martins erstarrtem Körper. Es glich einem Zauberkunststück, wie er die Schuhe, Socken und Trainingshose von diesem menschlichen Fossil löste. Es war, als schäle er eine Orange. Wozu gleichermaßen gehörte, daß er mit einem Messer Martins Sweater von unten nach oben aufschnitt. Auch dies bedächtig, sorgsam, geometrisch. Auf die gleiche Weise entfernte er abschließend noch die Boxershorts, fügte alle Teile zu einem Pakken zusammen und schmiß ihn in hohem Bogen in die Isar.
Von fern sah Martin einen Jogger. Aber er war zu weit weg. Und Schreien ging nicht.
Nach einer Weile wurde er losgelassen, die Angreifer traten zur Seite. Martin war nun völlig nackt. Der Orangenschäler hob sein Messer an, richtete es auf Martins kleines Glied und bemerkte: „Oh fick dich, Mann, der is’ schon beschnitten!“
Alle fünf lachten. Einer erklärte, Martin habe ein Scheißglück, seine Vorhaut bereits los zu sein. Da könne man sich das sparen. Schade drum. Ein anderer meinte was von wegen „dann schneid dem Spasti halt ganze Schwanz runter“. Woraufhin sie sich in einer Weise angrinsten, in welcher der Ernst und der Spaß sich verschränkten und es für das Opfer keine Möglichkeit gab, die beiden auseinanderzuhalten. Das Grinsen der fünf glühte kreiselnd. Doch gleich darauf, mit einer unerwarteten Plötzlichkeit, wandten sie sich um und gingen.
Es war kaum anzunehmen, daß sie ernsthaft vorgehabt hatten, eine spontane Zirkumzision vorzunehmen. Es war allein um die Demütigung gegangen, eine Demütigung, die sich jetzt fortsetzte, indem Martin frierend und nackt im Gras stand, minutenlang unfähig sich zu bewegen, völlig in seiner Scham eingeschlossen. Die so lange zurückgehaltenen Tränen flossen nun rasch. Gläserne Perlen, wie auf diesem Foto von Man Ray, schmerzhaft groß, Tränen, die beim Rinnen ein rollendes Geräusch verursachten. Tonnen von Tränen. Lauter als das Schluchzen aus dem Mund. Er empfand eine große Leere dort, wo einst seine Armbanduhr gewesen war. Geradezu durchtrennt. Er konnte die Hand kaum noch fühlen. Dafür jedoch den warmen Urin an seinen Beinen. Er wäre jetzt gerne für einen Moment tot gewesen. Fünf oder zehn Minuten. Wie am Ende eines Schachspiels, wenn die Figuren mit einem Handstreich vom Brett befördert werden. Aber das spielte es nicht. Der Tod verschenkt keine Zeit.
Kurz darauf wurde er von zwei Joggern entdeckt. Sie zogen ihre Jacken aus und hüllten den Jungen ein, dann riefen sie die Polizei.


2Ein Lauscher namens Kepler


Rosenblüt hatte eigentlich beschlossen gehabt, Stuttgart für immer hinter sich zu lassen. Ein frommer Wunsch! Obgleich einige Jahre ja alles gutgegangen war. Nicht, daß er ein richtiger Freund von München geworden wäre. Die Stadt war ziemlich abhängig vom Wetter beziehungsweise schien sie in einem chamäleonartigen Gleichklang mit dem Wetter zu sein. Lachte die Sonne und strahlte der Himmel, dann auch die Stadt. War das Wetter beschissen, dann München dito. Das war schlimmer als in den anderen Städten, die sich ja oft gegen schlechtes Wetter wenigstens zu wehren versuchten, bemüht waren, sich vom Wetter nicht völlig herunterziehen zu lassen. München aber ... egal. Er war hier gut aufgehoben, bewohnte eine Dachgeschoßwohnung nahe dem Englischen Garten, war mit einer japanischen Fotografin liiert und wurde von den Kollegen im Kriminalfachdezernat 1 respektiert, mitunter sogar geschätzt.

Heinrich Steinfest

Über Heinrich Steinfest

Biografie

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und...

Medien zu „Wo die Löwen weinen“
Pressestimmen
Denis Scheck

Ein ganz und gar hinreißender Autor.

Deutschlandfunk

Ein phantastisch gelungenes Stück engagierter Literatur.

Kommentare zum Buch
Es möge...
Markus F am 22.06.2017

...vielfach gelesen werden. Ein wunderbarer Roman, der geeignet ist, das Bewusstsein zu erweitern.   Und S21 ist und bleibt Schmarrn. :)

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