WIR. GESTERN. HEUTE. HIER. — Inhalt
20 deutschsprachige AutorInnen beziehen Position. Sie blicken zurück in ihre Vergangenheit, um von persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Alle verbindet der Wunsch zu verstehen. Zu verstehen, was aktuell passiert mit und in Deutschland und wo die Wurzeln dafür liegen, was unsere Gesellschaft momentan umtreibt. So treten Verbindungen zwischen gestern und heute ans Licht, zwischen Wende und Rechtsruck, Tschernobyl und grünem Engagement, Landflucht und Gentrifizierung, Patriarchat und Gleichberechtigung, Erwartung und Status Quo.
20 aufrüttelnde, erhellende, anklagende, versöhnliche, nachdenkliche und engagierte literarische Texte, die zeigen, dass uns das Gestern nicht egal sein darf, wenn wir an heute denken.
Leseprobe zu „WIR. GESTERN. HEUTE. HIER.“
Vorwort des Herausgebers
Das politische Wertesystem Deutschlands ist dabei, sich radikal zu wandeln: Die Achtung der Menschenwürde, Toleranz, ein respektvolles Miteinander – für viele scheint selbst Grundsätzliches nicht mehr zu gelten. Auch die Grenze des Unsagbaren wird nach und nach verschoben.
Davon können nicht nur Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Geflüchtete berichten, die täglich Rassismus erfahren, oder Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die aufgrund ihres politischen Engagements angegriffen wurden und werden. Dennoch gibt es nicht [...]
Vorwort des Herausgebers
Das politische Wertesystem Deutschlands ist dabei, sich radikal zu wandeln: Die Achtung der Menschenwürde, Toleranz, ein respektvolles Miteinander – für viele scheint selbst Grundsätzliches nicht mehr zu gelten. Auch die Grenze des Unsagbaren wird nach und nach verschoben.
Davon können nicht nur Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Geflüchtete berichten, die täglich Rassismus erfahren, oder Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die aufgrund ihres politischen Engagements angegriffen wurden und werden. Dennoch gibt es nicht wenige, die sich unermüdlich für den Erhalt dieser Werte einsetzen: Ich denke an all die, die seit Jahren ehrenamtlich Flüchtlingshilfe leisten oder im Privaten dagegenhalten, sobald sie menschenverachtenden Äußerungen begegnen.
Parallel dazu haben im Schatten der Volksparteien Die Grünen und die AfD in den letzten Jahren erheblich an Zustimmung gewonnen. Diese Entwicklung steht sinnbildlich für die zwei gesellschaftlichen Pole, die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen – auf der einen Seite die Hunderttausende, die im Rahmen von Fridays for Future auf die Straßen gehen, und auf der anderen Seite diejenigen, die lange Zeit im Namen von Pegida marschierten und fremdenfeindliche Ressentiments schürten. Ich denke auch an die, die auf Anti-Corona-Demos Judensterne tragen, die große Verschwörung ausrufen und sich als Unterjochte einer umfassenden Diktatur begreifen.
Die regelmäßigen rassistisch motivierten Mordanschläge zeigen, dass der Wandel unserer Werte nicht folgenlos bleibt. Wer glaubte, die Anschlagsserie Anfang der Neunzigerjahre in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Hoyerswerda wäre der traurige Höhepunkt einer gesellschaftlichen Schieflage gewesen, wird mit Halle, Hanau und dem, was gegenwärtig an vielen anderen Orten passiert, in West und Ost, eines anderen belehrt – und ist mitten in unserer Gegenwart angekommen. Ein Blick auf die mitunter gewaltsamen Proteste, ausgelöst durch die von einem weißen Polizisten begangene Ermordung des Afroamerikaners George Floyd in den USA, genügt, um zu sehen, dass das Phänomen des strukturellen Rassismus ein globales ist.
Als sei dies noch nicht genug, droht auch die Klimakrise die Ambivalenz innerhalb unserer Landes zu befördern: Für die einen gibt es keinen Grund, etwas zu verändern. Für die anderen steht nichts Geringeres als das Fortleben der Menschheit auf dem Spiel. Ein Konsens, auf den beide Lager sich einigen, scheint kaum möglich.
Woher kommen diese unterschiedlichen Wertvorstellungen? Sind sie Ergebnis aktueller Ereignisse, oder gibt es Kontinuitäten über die Jahre und Jahrzehnte? Und wie lässt sich diese politische Entwicklung begreifen?
19 herausragende Autorinnen und Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur blicken in diesem Band zurück in ihre Vergangenheit – ausgehend von eigenen Erfahrungen setzen sie sich mit den drängenden Fragen der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage auseinander.
Auf ihrer Suche begeben sie sich u. a. nach Tschernobyl, beleuchten die Figur des Mohren beim Biedenkopfer Grenzgang, erzählen vom Aufwachsen im patriarchalischen München der frühen Siebziger und werden Mitte der Neunzigerjahre aus Schwedt hinausgebrüllt … Und immer wieder nehmen die Autorinnen und Autoren dabei Bezug auf die Wiedervereinigung, die in vielen Biografien den Wendepunkt schlechthin markiert und bis heute maßgeblich nachwirkt.
So zeichnen die in diesem Buch versammelten Texte ein Bild der jüngeren gesamtdeutschen Vergangenheit, in der Provinz sowie der Großstadt, erzählen von Ausgrenzung und Erfahrungen mit rechter Gewalt. Und sie zeigen uns, dass uns das Gestern nicht egal sein darf, wenn wir das Heute verstehen wollen.
Matthias Jügler, Leipzig, im August 2020
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