Wenn unsere Welt zerspringt
Roman
„Samira Sedira hat einen aufwühlenden, kraftvollen Roman geschrieben.“ - Kleine Zeitung
Wenn unsere Welt zerspringt — Inhalt
Ein fesselnder Roman nach einer wahren Begebenheit: Tiefgründig und sensibel beschwört die französische Schriftstellerin Samira Sedira die Schönheit eines kleinen Bergdorfs herauf – und die schockierenden Taten seiner Bewohner.
Die Tage sind ruhig in Carmac, dem abgelegenen französischen Bergdorf, in dem Anna mit ihrem Mann Constant und den beiden Töchtern lebt. Bis die fünfköpfige Nachbarsfamilie Langlois grausam ermordet wird. Der Täter: Constant. Fassungslos versucht Anna zu begreifen, wie ihr Mann zu einer solchen Tat fähig sein konnte. Die neuen Nachbarn fielen auf im Dorf, durch ihren Reichtum und ihre Hautfarbe. Das Verhältnis zu ihnen war geprägt von Faszination und Bewunderung, aber auch von Neid und Rassismus. Anna muss sich die Frage stellen, ob sie die Tragödie hätte verhindern können …
„Aufwühlend und kraftvoll. Auf subtile Weise erforscht der Roman die Themen Eifersucht und Rassismus.“ Leila Slimani
„Voller Empathie.“ Le Nouveau Magazine Littéraire
„Absolut bewundernswert. Eines der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.“ Europe 1
„Sedira holt mit ihrem Roman zu einem kraftvollen Schlag aus.“ Kirkus Reviews
„Sediras packende Erzählung zeigt, wie die Realitäten von Rasse und sozioökonomischem Status die nationalen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einer isolierten französischen Gemeinschaft auf tragische Weise zu Fall bringen.“ Booklist
Leseprobe zu „Wenn unsere Welt zerspringt“
In Carmac gibt es keinen Friedhof. Die Toten werden in den Nachbargemeinden begraben. Tierkadaver, das geht. Am Fuß eines Baumes oder in der Ecke eines Gartens. Hier sterben die Tiere, wo sie gelebt haben, die Menschen haben dieses Glück nicht.
Die kleine Kapelle im Schatten einer Allee mit hundertjährigen Platanen wird nicht mehr oft benutzt. Dorthin flüchtet man sich im Sommer, wenn die Luft regelrecht zum Schneiden ist. Sie ist ein Ort der Stille, der Frische und des Schattens. Dank der feuchten, kalten Steine atmet man im Inneren, als stünde man in [...]
In Carmac gibt es keinen Friedhof. Die Toten werden in den Nachbargemeinden begraben. Tierkadaver, das geht. Am Fuß eines Baumes oder in der Ecke eines Gartens. Hier sterben die Tiere, wo sie gelebt haben, die Menschen haben dieses Glück nicht.
Die kleine Kapelle im Schatten einer Allee mit hundertjährigen Platanen wird nicht mehr oft benutzt. Dorthin flüchtet man sich im Sommer, wenn die Luft regelrecht zum Schneiden ist. Sie ist ein Ort der Stille, der Frische und des Schattens. Dank der feuchten, kalten Steine atmet man im Inneren, als stünde man in einer Grotte. Im August verbrennt in Carmac immer alles. Das Gras, die Bäume, die milchweiße Haut der Kinder. Die Sonne gönnt einem keine Verschnaufpause. Auch den Tieren hängt die Zunge heraus, die Kühe geben weniger Milch, die Hunde beschnuppern ihr Futter, ehe sie sich, fast angewidert, davon abwenden und in den Schatten zurückkehren.
Im Winter hingegen gefriert alles. Der Trub, der Fluss, der durch das Tal fließt, verdankt dieser Eigenheit seinen Namen: durchscheinend und dahineilend im Sommer, trüb und vereist im Winter.
Das Dorf ist zu beiden Seiten des Wasserlaufs erbaut, den eine Steinbrücke überquert (die Brücke der beiden Esel). Es gibt dort einen Lebensmittelladen, eine Post, ein Rathaus, einen kleinen Busbahnhof, eine Bäckerei, ein Café, einen Fleischerladen und einen Friseur. Außerdem steht dort ein altes Sägewerk, dessen Maschinen schon seit über zwanzig Jahren keinen Ton mehr von sich gegeben haben. Es dient inzwischen den Wildkatzen als Unterschlupf, wenn es schneit oder wenn sie ihre Jungen zur Welt bringen.
Nähert man sich dem Dorf über die Straße an der Hügelflanke, verschwindet es hinter dem riesigen Nadelwald und enthüllt sein eingekesseltes Tal erst an der letzten Kurve.
Die friedlichste Zeit ist der Herbst, wenn der Westwind die letzte Lauheit des Sommers hinfortweht. Ab September poliert der schneidende Wind das Gestein und fegt durch das Unterholz. Endlich atmet das Tal. Herbstentschlackung. Weißer Himmel, wolkenlos, ohne Aufruhr. Nur der Geruch des nassen Grases verweilt, ein Duft nach dem Anbeginn der Welt, durchsetzt von Harzschwaden. Im Morgengrauen kündigen die Scheinwerfer des Schulbusses einen neuen Tag an. Verfrorene, schläfrige Jugendliche drängen sich hinein. Ein paar Kilometer geht es am Fluss entlang, ehe der Bus an der Kreuzung, beim ersten Anzeichen städtischer Geschäftigkeit, abbiegt. Zu dieser Stunde gehen die Jüngeren in die Dorfschule, und die Erwachsenen machen sich zur Arbeit auf. Nur zwei Bauernfamilien sind dann noch im Ort, alle anderen fahren jeden Tag von dort weg.
Das Leben in Carmac verläuft friedlich, ruhig und geordnet. Was hier jedoch – bei Winteranbruch – am meisten beeindruckt, ist die Stille. Eine Stille, die sich über alles legt. Eine angespannte Stille, in der auch das leiseste Geräusch zu hören ist: die Schritte eines streunenden Hundes, der über welkes Laub läuft, ein Tannenzapfen, der zwischen trockenen Nadeln nach unten fällt, ein ausgehungertes Wildschwein, das fieberhaft die Erde aufwühlt, die kahlen Äste eines Kastanienbaumes, die beim kleinsten Windhauch oder beim Auffliegen einer Krähenschar gegeneinanderschlagen … All diese Geräusche werden auch noch über mehrere Kilometer bis zu uns getragen. Spitzt man nachts aufmerksam die Ohren, hört man mitunter, wie Geröll vom erodierten Berg nach unten stürzt, hinein in die kleinen türkisfarbenen, milchigen Seen, so trüb wie die Augen von Blinden.
Wird es Abend, zu der Stunde, zu der sich die Schwaden des Nebels und der abgebrannten Stoppelfelder vermischen, zu der sich alles von draußen zurückzieht, füllen sich die Häuser mit Lärm. Man unterhält sich über mehrere Zimmer hinweg, erzählt sich von seinem Arbeitstag, die Stimmen werden lauter, übertönen das Gluckern der Spülmaschine, das Brutzeln der Zwiebel, das Weinen des Kindes, das sich vor dem Moment für die Wanne und vor der Nacht fürchtet, in der ein jeder allein ist.
Vielleicht hat wegen dieses Geräuschpegels niemand an jenem Abend etwas gehört, als sie umgebracht wurden. Es heißt, es sei geschrien worden, Schüsse seien abgefeuert und flehentliche Bitten ausgestoßen worden. Doch das Gemäuer des Landhauses hat alles verschluckt. Ein Blutbad hinter verschlossenen Türen. Keiner da, der sie hätte retten können. Dabei regte sich draußen kein Lüftchen. Da war nichts als die endlose Stille des Winters.
WÄHREND DES ersten Monats weinte ich, konnte gar nicht damit aufhören. Lange habe ich zu verstehen versucht, was passiert war. Noch heute kommt es vor, dass ich die Geschichte vom Anfang bis zum Schluss durchgehe, wobei ich mich bemühe, kein Detail auszulassen. Manchmal stoßen sich meine Gedanken an einem Bruchstück der Geschichte, so sehr, dass ich über mehrere Nächte hinweg keinen Schlaf finde. Ein Detail, das ich durchgehe, analysiere, bis zum Wahnsinn auseinandernehme und das mir doch zwischen den Fingern zerrinnt, sobald ich bereit bin, das Geheimnis zu lüften. Dennoch kündigen sich diese Grübeleien jedes Mal an, als wären es die letzten, zumindest will ich das glauben, aber dann empfängt mich die Nacht, im Kopf der Schmerz, der die Erinnerung hervorbringt und mich zurücklässt, allein, im Morgengrauen, in einer kalten Ecke des Bettes.
So auch in der letzten Nacht, eine sich endlos wiederholende Frage, ein unlösbares Problem, das ich im klammen Verstreichen der Stunden wieder und wieder wälzte. Diese Frage, die mich die ganze Nacht wach hielt, die ich unablässig durchging, ohne eine Antwort darauf zu finden, obwohl der Staatsanwalt im Gerichtssaal sie dir ganz vernehmlich gestellt hatte: Warum haben Sie sich die Hände im eiskalten Fluss gewaschen, nachdem Sie alle Angehörigen der Familie Langlois brutal ermordet hatten? Er liegt über fünfhundert Meter vom Tatort entfernt. Warum haben Sie nicht eines der vielen Waschbecken im Haus benutzt? Jeder andere hätte das so gemacht, das wäre logisch gewesen. Jeder andere hätte das Waschbecken im Badezimmer, das Spülbecken in der Küche oder aber auch das Wasser im WC benutzt! Nicht so Sie. Sie sind wie ein Wahnsinniger losgerannt, ohne zu befürchten, gesehen zu werden, und haben dann, beim Fluss angekommen, ganz verbissen auf das Eis eingeschlagen, denn, wie Sie während Ihrer Aussage angegeben haben, wollten Sie sich ganz unbedingt die Hände waschen. Sie müssen zugeben, dass das etwas eigenartig ist, warum ausgerechnet der Fluss?
Angesichts deines gehetzten Gesichtsausdrucks war er gereizt geworden: Hören Sie auf, mich so anzustarren, Monsieur Guillot, und antworten Sie bitte!
Seine Stimme hatte eine große Reichweite, das war ganz natürlich bei ihm, mit einem Tonumfang, den er mühelos hielt. Du hingegen schwiegst, starrtest ihn nur hartnäckig an, einzig deine Lippen zuckten.
Das Schweigen als Einladung, dein Gewissen zu erleichtern, steigerte dein Unbehagen nur noch mehr. Widersprüchliche Gefühle wechselten sich in dir ab: Das Verlangen, etwas zu sagen, führte unweigerlich zur Unfähigkeit, mit der geringsten Erklärung aufzuwarten. So in die Enge getrieben fandest du keinen anderen Ausweg, als dümmlich zu lächeln. Tatsächlich hattest du keine Antwort für ihn, dein Schweigen hallte wie jene Verzweiflung nach, die schreckliche Katastrophen begleitet. Zum ersten Mal seit Beginn der Verhandlung hatte ich Mitleid mit dir.
Der Staatsanwalt, der deine Reaktion als eine persönliche Kränkung auffasste (damit war zu rechnen), stand umgehend auf: An Ihrer Stelle und in Ihrem eigenen Interesse würde ich davon absehen zu lächeln, Monsieur Guillot!
Seine tiefe Stimme, der eine natürliche Autorität innewohnte, war einem Donnern gleich hervorgebrochen und hatte alle dazu genötigt, sich auf ihrem Platz abrupt aufzurichten.
Bei diesen Worten erlosch dein Lächeln unvermittelt. Der Staatsanwalt schluckte, ehe er fortfuhr: Sie sind nach draußen gerannt, so haben Sie es den Gendarmen erzählt, und Sie haben, ich zitiere: „einen Sprint bis zum Fluss hingelegt“.
In diesem Moment hob der Staatsanwalt die Arme, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet, und schürzte die Lippen. Ein Sprint!? Er legte eine Pause ein. Wer …? Er legte eine zweite Pause ein … einen Sprint hinlegen, mitten im Winter, bei Temperaturen von annähernd minus zehn Grad, um sich die Hände zu waschen, die mit dem Blut der Opfer verschmiert sind, für die man verantwortlich zeichnet? Wovor genau sind Sie weggelaufen? Pause. Er wiederholte: Wovor sind Sie weggelaufen?
Seine Frage verlangte nach keiner Antwort, denn er blieb einen Moment lang reglos stehen, auf seine eigenen Gedanken konzentriert, ohne dich anzusehen, dann sagte er: Der Fluss war vereist, aber das hat Sie nicht abgehalten, Monsieur Guillot. Wie ein Wahnsinniger haben Sie auf die Eisschicht eingeschlagen, zunächst mit dem Schaft Ihres Gewehres, schließlich mit den Fäusten, bis das Eis brach. Eine zehn Zentimeter dicke Eisschicht! Es braucht einiges an Wut, um zehn Zentimeter dickes Eis zu zerschlagen, und Sie hatten gerade eine ganze Familie mit einem Baseballschläger ermordet! Sie schlugen so fest darauf ein, dass Ihre Hände aufgeplatzt sind, „Das Blut hat nur so gespritzt“, das sind doch Ihre Worte?
Der Staatsanwalt verließ seinen Platz, seine Arme hingen wieder zu beiden Seiten herunter, er war leicht außer Atem und baute sich vor dir auf.
Die hinter ihm sitzenden Geschworenen hörten ihm ernst zu. Er wusste, dass nichts von dem, was er sagte, ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde und ein einziges Wort ausreichte, um ihre endgültige Entscheidung kippen zu lassen. In seiner Eigenschaft als Mann des Gesetzes war er für die Gewissen aller verantwortlich.
Unvermittelt starrte er dich an und fragte: Erinnern Sie sich an das, was Sie sagten, als Sie Ihre Aussage machten? Du zucktest mit den Schultern, leicht verloren. Nun, ich werde es Ihnen sagen. Sie haben gesagt: „Mein Blut hat sich mit ihrem vermischt, das habe ich nicht ertragen.“
Wieder schüttelte er den Kopf, von links nach rechts, von oben nach unten, und mit einer Miene, die Fassungslosigkeit vortäuschte, wiederholte er etwas leiser und mit einer überdeutlichen Betonung auf jedem Wort: „Mein Blut hat sich mit ihrem vermischt, das habe ich nicht ertragen.“
Genau in diesem Moment lachte er höhnisch auf. Das war seltsam, unangebracht. Auch ihm musste das aufgefallen sein, denn er lief rot an. Um sich nicht von Verlegenheit übermannen zu lassen, fasste er sich umgehend wieder und lenkte mit einem knappen Heben des Kinns die Aufmerksamkeit abermals auf dich: Und dann haben Sie als Erläuterung für Ihre Abneigung noch hinzugefügt: „Ich habe meine Frau nicht zu den Entbindungen begleitet, ich fühle mich unwohl im Krankenhaus, und wenn ich Blut sehe, kippe ich um.“
Das lange Schweigen, das folgte, ließ die Zuhörer in eine Mischung aus Entsetzen und eisiger Erstarrung verfallen. Er hatte dich in eine Sackgasse getrieben. In die Falle gelockt wie eine Ratte. Er konnte nicht glauben, dass du zu der Sorte Mann gehörtest, der Angst vor Blut hatte. Für ihn war das eine List, dazu gedacht, die Geschworenen milde zu stimmen. Denn wie sollte jemand, der in der Lage war, fünf Menschen zu töten, beim Anblick von Blut erzittern? Das erschien grotesk, unvorstellbar. Und dennoch. Dich grauste tatsächlich vor Blut. Nicht einmal den Anblick des kleinsten Blutstropfens ertrugst du. Schlug sich eine unserer Töchter das Knie oder die Hand auf, warst du wie erstarrt, sahst zu, wie sie wimmerte, konntest jedoch keinen Finger rühren, und unabänderlich riefst du letztlich nach mir, damit ich die Wunde versorgte. Ein Psychiater sollte später bestätigen, dass einen die Angst vor Blut nicht vom Töten abhielt: Es sind schon Soldaten mutig an die Front gezogen, die dennoch beim Anblick einer Spritze ohnmächtig wurden!
Doch zu diesem Zeitpunkt des Prozesses wollte das niemand glauben. Mit gesenktem Kopf und blassem Gesicht presstest du die Zähne aufeinander.
Aus einem Grund, den ich mir nach wie vor nicht erklären kann, wandte sich der Staatsanwalt unvermittelt zu mir um, als wäre das ein letzter Ausweg, und sagte, wobei er jedes einzelne Wort wieder überdeutlich betonte: Für jemanden, der den Anblick von Blut nicht erträgt, kann man bei Ihnen sagen, dass Sie Ihre Aversion mit Leichtigkeit überwunden haben. Gelächter im Saal. Dabei starrte er mich unumwunden an, zumindest glaubte ich das, bis mir bewusst wurde, dass er mich tatsächlich gar nicht sah. Sein Blick war zufällig an dieser Stelle hängen geblieben, und leider war das in meiner Richtung gewesen. In diesem Aufruhr, der mich erfasst hatte, fühlte ich mich ebenso schuldig, wie du es warst. Als würde mir schon allein die Tatsache, deine Frau zu sein, zur Last gelegt. Umgehend stiegen mir Tränen in die Augen. Die vorgetäuschte Gefasstheit, die ich bis dahin an den Tag gelegt hatte, wenngleich sie beträchtlicher Anstrengungen bedurfte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich war nur noch ein zitterndes Stück Menschheit. Eine Mörderin per procura.
Alles wird der Frau eines Mörders vorgeworfen: ihre Selbstbeherrschung, wenn sie Mitgefühl zeigen sollte, ihre Hysterie, wenn Zurückhaltung von ihr erwartet wird, ihre Anwesenheit, wenn sie nicht zugegen sein sollte, ebenso ihr Nichterscheinen, wenn es sich geziemt hätte, sich sehen zu lassen … Jener, die von einem Tag auf den anderen zur „Frau des Mörders“ wird, bürdet man eine Verantwortung auf, die fast schon erdrückender ist als die dem Mörder zugeschriebene, schließlich hat sie nicht frühzeitig genug erkannt, was für eine widerliche Bestie in ihrem Gatten schlummert. Es mangelt ihr an Scharfsinn. Genau das ist der Grund, weshalb sie in Ungnade fallen wird, ihr unsäglicher Mangel an Scharfsinn.
Der Staatsanwalt wandte schließlich den Blick ab und starrte leicht gereizt zu Boden. Seine Lippen bewegten sich. Ich meinte zu hören, wie er murmelte: Fahren wir fort, fahren wir fort.
Es schien ganz so, als hätte ihn alles, was bislang gesagt worden war, plötzlich in große Verwirrung gestürzt. Er ließ die Schultern hängen. Der mächtige Mann, als der er erscheinen wollte, machte einem gewöhnlichen Mann Platz, den das große Rätsel des menschlichen Wesens ebenso verwirrte wie alle anderen. Er stand inmitten all der Sitzenden, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, als mir seine schwarzen, perfekt gewichsten Schuhe auffielen, ob er sie wohl selbst polierte oder ob das jemand anderes für ihn machte.
Später, während einer Anhörung (ich habe die Chronologie nicht mehr im Kopf), bat der Vorsitzende dich, den Abend der Bluttat zu schildern und möglichst nichts auszulassen. Alles. Alles, was du den Gendarmen bereits gesagt hattest. Die Fakten, nichts als die Fakten. Die Worte kamen dir nicht sofort über die Lippen, sie mussten angeschubst, von hinten angeschoben werden. Doch sowie sie befreit waren, platzten sie aus dir heraus, kalt, monoton, gefühllos. Nichts von all dem schien dich zu betreffen, als hätte ein „anderer“ die dreckige Arbeit erledigt. Oder als läsest du einen Text von einem Teleprompter ab. Gemäß deiner Logik des Ausweichens überließest du das Sprechen diesem anderen: der andere, der Vollstrecker. Später sollte der Psychiater, der in den Zeugenstand gerufen worden war, erklären, nicht dein „bewusstes Ich“ habe getötet. Um seine Erläuterung zu veranschaulichen, zitierte er Nietzsche: „Das habe ich getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kann ich nicht getan haben“, sagt mein Stolz.
Nein, nichts von alldem schien dich zu betreffen. Noch heute begleitet mich die Erinnerung deiner Beichte überallhin wie eine schwarze Wolke über dem Kopf. Ich erinnere mich an jedes einzelne deiner Worte, ganz deutlich, an jedes einzelne Zögern:
Ich habe den Griff des Baseballschlägers mit beiden Händen umfasst, so, dann habe ich ihm einen heftigen Schlag in den Nacken verabreicht. Der Jüngste hat gerade seinen Nachmittagssnack am großen Tisch zu sich genommen, eine heiße Schokolade in einer weißen Schale. Ein heftiger Schlag in den Nacken, so, mit beiden Händen. Ich glaube, da sind ihm die Milchzähne ausgefallen … Die Gendarmen haben mir gesagt, dass sie zwei Zähne auf den Dielen gefunden haben. Milchzähne, haben sie gesagt … Sein Kopf ist … sein Kopf ist auf den Tisch geknallt, mit einem Geräusch, einem lauten Geräusch, einem Knacken … ganz schrecklich. Die Schale ist auch runtergefallen, lauter Scherben überall. Da habe ich mich das erste Mal übergeben, die Übelkeit, das konnte ich nicht zurückhalten. Er war auf der Stelle tot, das schwöre ich. Ich sage das für die Familie. Er hat nicht gelitten, das schwöre ich. Die Älteste ist laut meckernd die Treppe runtergekommen, die war ziemlich genervt: „Was soll der Lärm? Nono, was hast du jetzt wieder kaputt gemacht? Nie kann ich meine Hausaufgaben in Ruhe erledigen!“ Dabei hat sie mit den Armen gefuchtelt, ganz wild und gereizt. Dann standen wir einander im Wohnzimmer gegenüber, und sie hat zuerst noch gelächelt. Eigenartig, dachte ich, warum sie wohl lächelt, die Kleine. Dann hat sie das Blut am Schläger gesehen, und ihre Augen sind dunkel geworden, richtig schwarz, und ihr Mund hat gezittert. Sie hat sich umgesehen. „Wo ist Nono?“, hat sie gefragt. Ihr Blick war ganz ängstlich, die Augen wie von einem gehetzten Tier … ich habe nichts gesagt. Und dann hat sie ihn gesehen. Seinen Kopf auf dem Tisch. Das Blut. Die Schale auf dem Boden. Sie hat verstanden. Weinend hat sie gerufen: „Was ist los mit Nono, warum bewegt er sich nicht mehr?“ Sie hat die Arme gehoben und immer wieder gesagt: „Ich habe nichts gemacht, das ist ein Witz, oder?, sag, dass es ein Witz ist, Constant, das stimmt doch?“ Entschuldigung, ich … sind diese ganzen Details wichtig? Für die Familie ist das … Mit einem Nicken forderte der Vorsitzende dich auf fortzufahren. Tja, also … wo war ich, ich sagte, sie weinte, sie schrie: „Bitte nicht, Constant, bitte, Mama, ich will zu meiner Mama, ich will Mama“, sie wiederholte immer wieder Mama, in Endlosschleife, als hätte sie den Verstand verloren, immer wieder. Ich habe den Schläger über sie gehalten, dann habe ich mich noch mal übergeben. Sie ist nicht abgehauen, nichts, hat einfach nur die Arme über der Stirn gekreuzt, sich vor mich hingekauert, und Mama, immer wieder, ich will Mama, Mama, in Endlosschleife. Ich habe die Augen zugemacht, damit ich es zu Ende bringen konnte. Dann habe ich draufgeschlagen. Immer. Wieder. Draufgeschlagen. Ich … ich habe die Augen wieder aufgemacht, Blut, ganz viel Blut … sie … sie war tot. Ich habe mich übergeben. Dann habe ich oben nach der dritten gesucht. Sie hatte sich zwischen der Toilette und einem kleinen Möbelstück im Bad versteckt und am Daumen gelutscht. Ich habe ihr gesagt, sie soll rauskommen, sich umdrehen, und das hat sie gemacht, ohne zu weinen, einfach so. Dann habe ich den Schläger richtig hochgehalten und wieder in den Nacken. Sie war auf der Stelle tot, wie der Erste. Ich habe mich ein letztes Mal übergeben, dann habe ich nachgesehen, wie spät es ist. Die Eltern würden bald nach Hause kommen, und ich dachte, dass es mit dem Schläger nicht gehen würde, der Vater ist kräftig. Ich bin zu meiner Garage gerannt, habe das Gewehr geholt, eine doppelläufige Flinte, Munition reingesteckt und bin wieder zu ihnen zurückgegangen. Die Straßen waren ganz verwaist. Bei dem Wetter geht keine Menschenseele raus. Ich habe auf sie gewartet, versteckt hinter der Tür. Es ist Abend geworden. Im Winter wird es hier schnell dunkel. Diese Stille, dann noch die Toten neben mir, das … das hat mir Angst gemacht. Ich hörte sie atmen. Ein Leichnam atmet nicht, sagte ich mir, aber nichts zu machen, ich habe es trotzdem gehört. Und der Geruch nach Blut … Fast hätte ich mich noch mal übergeben, aber dieses Mal habe ich mich zurückhalten können. Dann endlich Motorengeräusche, die habe ich erkannt, das waren sie. Türen wurden zugeschlagen. Ich habe mich an die Seite gestellt, um den Eingang nicht zu versperren, sie konnten mich nicht sehen. Die Mutter kam als Erste rein, mit den Einkäufen. „Kinder, wir sind da!“, hat sie gerufen. Der Vater kam hinter ihr rein, ich hab nicht nachgedacht, die Tür mit einem Tritt zugestoßen und auf ihre Rücken geschossen. Zuerst ihm, dann ihr. Sie sind zu Boden gegangen, ohne etwas zu begreifen, ohne den Reflex zu haben, sich umzudrehen. Es war vorbei. Ich habe sie angestarrt, konnte mich nicht rühren. Ich habe gezittert. Außer Zittern konnte ich nichts tun. Ich hörte gar nicht mehr damit auf. Ich dachte schon, das würde nie wieder aufhören. Dann habe ich aus dem Fenster nach draußen gesehen, niemand da. An meinen Händen Blut und ein Geruch nach … ein Geruch nach … das war der Tod. Da ist mir die Idee gekommen, mir die Hände im Fluss zu waschen, ich habe nicht an die Kälte gedacht, auch nicht an das Eis, die Entfernung oder ob mich vielleicht jemand dabei sehen könnte. An nichts von all dem habe ich gedacht, nur daran, dass ich zitterte, dass meine Hände voller Blut waren und ich es irgendwie schaffen musste, meine Beine zu bewegen, um bis zum Fluss zu rennen, mich zu waschen und …«
Du konntest deinen Satz nicht zu Ende bringen, ein gewaltiger Schrei der Verzweiflung und des Entsetzens, gefolgt von einem grauenvollen Poltern ließ alle erstarren. Die Mutter von Sylvia war gerade in den Zuschauerreihen ohnmächtig geworden. Ihr Ehemann, rittlings über seiner Frau, bemühte sich darum, dass sie wieder zu sich kam, indem er ihr über die Stirn streichelte, als wäre das ausreichend. Diese groteske Position der Frau und des Mannes, die binnen einer Nacht alles verloren hatten, was ihr Leben mit Sinn erfüllte, verlieh dieser Szene etwas Pathetisches, als wären sie Protagonisten in einem schlechten Traum und wir die erschauernden Zeugen. Die Anhörung wurde unterbrochen, ich eilte überstürzt nach Hause, den Kopf eingewickelt in einen dicken Schal, verfolgt von dem, was du soeben erzählt hattest. In der Nacht, allein in meinem Bett, während ich mit der Angst rang, schreckte ich jede Stunde aus dem Schlaf hoch, und jedes Mal hallte in meinem Schädel der endlose Schrei aus den Zuschauerreihen wider.
Im Lauf dieser schrecklichen Nacht wurde mir bewusst, dass du untrennbar mit mir verbunden warst, weil ich dich eines Tages geliebt und sich die Geschichte deines Lebens durch ein unwiederbringliches Unglück mit der meines Lebens verbunden hatte.
ANGEFANGEN hatte alles an einem Samstag im Juli 2015. Ein schreckliches Jahr, markiert von den Terroranschlägen, deren Aufnahmen im Fernsehen uns in einen Zustand tiefster Betroffenheit gestürzt hatten. Wir sahen sie uns in Endlosschleife an, sprachlos, ohne dass wir uns dazu durchringen konnten, sie als wahr zu erachten. Tatsächlich brachte die Angst unsere Gewissheiten zusammen mit unseren Beinen ins Wanken. Um uns zu beruhigen, trösteten wir uns damit, dass das Leben in der Stadt eindeutig nicht für uns gemacht sei und wir von Glück sagen konnten, an dem Ort zu leben, wo wir lebten.
Mit dem Beginn des Sommers schien auch die Ruhe zurückgekehrt zu sein. Benommen vom zweiten Schnitt und dem Duft des Flieders hatten wir den markerschütternden Horror, in den wir wenige Monate später erneut eintauchen sollten, nicht vorhergeahnt oder ihn uns auch nur vorgestellt. Nicht nur lebten wir quasi abseits der Welt, wir waren noch dazu taub für ihre Erschütterungen.
An jenem wunderschönen Julisamstag heiratete Simon seine Lucie. Die Feier fand im Innenhof des elterlichen Bauernhofs statt, im Schatten eines großen Zedernbaumes, unter den langen, tief sitzenden Ästen, die bis auf den Boden reichten. Ich kannte Simon von klein auf, und zu wissen, dass er mit seinen knapp siebenunddreißig Jahren endlich zu einem rechtschaffenen Ehemann wurde, freute mich ebenso sehr wie seine Eltern, die seit der Ankündigung der Hochzeit ein verzagtes, einfältiges Lächeln zur Schau stellten, als erwarteten sie jeden Moment einen Widerruf oder Sinneswandel, der sie dazu zwang, die Hochzeitsfeier abzusagen und alle nach Hause zu schicken. Simon war ein liebenswerter Mann, allerdings hatte sein jugendlicher, ungezügelter Charakter seinen Eintritt in die Welt der Erwachsenen verzögert. Bis zu jenem Tag war sein Leben an zwei Hauptachsen ausgerichtet gewesen: zum einen an der Arbeit auf dem Hof, der er überaus ernsthaft an der Seite seines Vaters nachkam, zum anderen an den Saufgelagen am Wochenende, denen er mit seinen Freunden in Bars frönte, die mit Sägemehl ausgelegt waren. Aus irgendeinem ominösen Grund schien das Eheleben für ihn einen Graus darzustellen und kam in seiner Vorstellung einer gefängnisartigen Hölle gleich.
Lucie, Simons Frau, war auf wundersame Weise da erfolgreich gewesen, woran andere sich die Zähne ausgebissen hatten, doch wie genau sie das angestellt hatte, blieb für uns alle ein Rätsel.
Das Wetter war wunderschön, ein von Sonnenstrahlen gefluteter Tag. Am frühen Abend hatten die Männer, trunken von Hitze und Schnaps, zwei kastrierte Eber von dem Trog weggerissen, an dem sie sich gerade den Bauch vollstopften, und sie frei zwischen den Tischen laufen lassen. Grunzend rannten die riesigen Tiere kreuz und quer umher, verfolgt von einer Schar rotbäckiger Kinder, deren zunehmende Begeisterung, geschürt vom Gelächter und Geschrei der Erwachsenen, fast etwas Hysterisches hatte. In ihrer panischen Flucht sprangen die Schweine mit feuchten, mit frischer Gerste verschmierten Rüsseln schwerfällig umher und warfen alles um, was ihnen im Weg stand.
Simons Frau, die sich gerade mit freudestrahlendem Gesicht auf den Brettern der Tanzfläche wiegte, fand sich urplötzlich, nachdem sie von einem der beiden Schweine umgerannt worden war, auf dem Boden wieder, die Beine unter dem weiten Rock gespreizt. Ihre kleinen Füße, die unter dem mit trockenen Kletten versehenen Taft hervorblitzten, waren barfuß, und ihr rechter großer Zeh, etwas kürzer als die vier anderen, blutete leicht. Sie lachte, bekam Schluckauf und lachte wieder, dann schüttelte sie mit gerunzelter Stirn dümmlich den Kopf. Ihre Mutter, die durch den Alkohol das Stammeln anfing und deren hochgesteckter Dutt ihr jämmerlich in die Stirn hing, beugte sich zu ihr und bat sie mit ausgestreckter Hand, wieder aufzustehen, denn, Also w-w-w-wirklich, eine Braut auf g-g-gleicher Höhe mit den M-m-maden, das geht g-g-gar nicht …
Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Feier alle in der allgemeinen feuchtfröhlichen Stimmung alles und jeden miteinander verwechselten und sich die Etikette, schon durch das erste Glas Champagner in Mitleidenschaft gezogen, längst vom Acker gemacht hatte.
Die Braut war für niemanden mehr ein Hingucker, und das trotz ihres glückseligen Strahlens und des langen weißen Schleiers, in dem sie sich regelmäßig verhedderte.
Selbst Simon achtete nicht weiter auf sie. Er stand auf einem Stuhl vor einem rein männlichen Publikum und erhob die Stimme zum Refrain der Marseillaise, indem er eine Faust zu den höchsten Ästen des Zedernbaumes reckte und alle dazu aufforderte, mit ihm zu singen: Die Hosen an die Knie, den Lümmel rausgeholt, rein-raus, rein-raus, mit ordentlichem Strahl, macht voll die Dickmadam! Das war ein schreckliches Konzert voll falscher Töne, Gejohle und Krakeel. Die alte Marie, die die jungen Leute im Dorf Muttchen 92 nannten (weil sie zweiundneunzig Jahre alt war, sie wurde im Übrigen jedes Jahr von ihnen umbenannt), hielt sich die Ohren mit ihren beiden knochigen Händen zu und murmelte, während sie am Zahnfleisch saugte: Ach, du meine Güte, was für ein Krawall!
Bis zum Abend waren wir mit Trinken und Essen beschäftigt. Aufgetischt wurden Lammkeule, Rehbraten, in Gänsefett geschwenkte Kartoffeln, dicke Hartwurstscheiben, Knoblauchbutter, Salami, geräucherter Speck, Vollkornbrot, frische Walnüsse, wilder Spargel und Kohlrouladen. An Alkohol gab es so viel und alles Mögliche, dass ich gar nicht mehr weiß, was wir getrunken haben, und noch weniger, in welcher Reihenfolge. Wir waren betrunken, noch ehe wir satt waren. Bei Tisch, durch die Äste der Zeder vor der Sonne geschützt, hatten wir aus vollem Hals und mit vollem Mund gesungen. Die Kinder lachten, als sie sahen, wie wir zurück in die Kindheit verfielen. Wir waren in so überschwänglicher Stimmung über unser Zusammensein, dass uns ein Nichts begeistern konnte, und jedem stand der Sinn danach, sich unvermittelt von Rührung übermannen zu lassen. Immer mal wieder stand einer von uns auf und erleichterte sich in dem Wäldchen mit Kamille und Flieder hinter dem Hof. In der vom durchdringenden Muhen der Kühe unterbrochenen Stille tanzte die Schotterstraße vor unseren Augen, und das Wohlbefinden, das uns diese körperliche Erleichterung brachte, ließ unsere Verzückung nur weiter anwachsen.
Ich weiß noch, dass ich mich, als es dunkel wurde und die nächtliche Frische unsere Geister besänftigte, auf einen Stuhl an dem großen verwaisten Tisch gesetzt hatte. Es war Mitternacht, vielleicht auch später. Die Luft war noch immer lau. Mir war leicht schwindlig, und meine Zunge lag so starr wie ein Stück Karton in meinem trockenen Mund. Ich hatte zu viel gegessen, zu viel getrunken und zu viel geredet.
Euch hatte ich aus den Augen verloren, die Mädchen und dich, schon seit dem späten Nachmittag. Ich erinnere mich daran, gesehen zu haben, wie eine Traube Kinder herumrannte, vom Hof in den Getreidespeicher, vom Getreidespeicher in die Scheune, unermüdlich. Ich nahm an, dass sie alle vermutlich irgendwo eingeschlafen sein mussten, und unsere Kinder mit ihnen, alle dicht an dicht, im Heu, wie ein Wurf Kätzchen, ermattet von der frischen Luft.
Ich wusste nicht, wo du warst, aber das besorgte mich nicht weiter. Ich stellte mir vor, wie du mit anderen unter der Linde oder am Ufer des Flusses plaudertest, umgeben vom Quaken der Frösche.
Liebe Samira Sedira, bitte beschreiben Sie ein wenig Ihren Weg zur Literatur. Wie sind Sie Schriftstellerin geworden?
Eigentlich hat mich nichts für die Literatur oder für meinen Beruf als Schauspielerin prädestiniert. Im Gegenteil. Meine Eltern waren Analphabeten. Nur in der Schule hatte ich Zugang zur Kultur. Wie alle Exilanten kultivierten meine Eltern die Kunst des Schweigens. Sie sprachen nie über die Schwierigkeiten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert waren. Ich denke, das ist es, was mich zum Schreiben gebracht hat: Ich schreibe, um die Sprache wiederherzustellen, um die Stille meiner Eltern zu füllen, um sie zum Klingen zu bringen.
Als Schauspielerin musste ich die Erfahrung machen, nach zwei Jahrzehnten am Theater plötzlich arbeitslos zu sein. Ich war gezwungen, eine Tätigkeit als Reinigungskraft anzunehmen. In gewisser Weise wurde ich dadurch Teil der Vorgängergeneration, die in den Sechzigerjahren mit den Jobs auskommen musste, die niemand sonst machen wollte. Es ist eine traumatische Erfahrung, sich einer Generation anzuschließen, die nichts mit der eigenen zu tun hat, und deren Erwartungen unweigerlich zu enttäuschen. Ich gehörte doch zu denen, die es besser haben sollten als ihre Eltern. In dieser Zeit habe ich zum Schreiben gefunden. Indem ich mich schriftstellerisch mit meinen Erfahrungen und mit der Unsichtbarkeit einer Gruppe von prekär Beschäftigten befasste, wurde wieder sichtbar.
Ihr Roman „Wenn unsere Welt zerspringt“ ist von einer wahren Geschichte inspiriert. Können Sie uns etwas über die „Affaire Flactif“ erzählen?
Die „Affaire Flactif“ ist wohl einer der schrecklichsten Kriminalfälle, die Frankreich je erlebt hat. Zum einen, weil eine fünfköpfige Familie auf grausame Weise getötet wurde, zum anderen, weil das Motiv des Mörders ein scheinbar lächerliches ist. Laut Polizei und Medien wurde die Familie wegen eines Chalets ermordet. Dabei ist die Sache weitaus komplexer.
Durch eine Kleinanzeige angelockt, kaufte David Hoytat, der Täter, zu einem unglaublich günstigen Preis ein Landhaus im schönen Bergdorf Le Grand-Bornand. Doch als er mit seiner Frau und den drei Kindern im Ort ankam, erkannte er, dass er betrogen worden war: Xavier Flactif, der Bauträger, hatte zwar das Geld kassiert, dann aber die Bauarbeiten abgebrochen und ein halbfertiges Chalet zurücklassen. Xavier Flactif prahlte mit seinem Reichtum, während die Hoytats ihr Erspartes verloren hatten und nie in das Haus ihrer Träume einziehen konnten.
Wenn man nur den Neid von David Hotyat als Motiv anerkennt, schließt man Rassismus als Ursache aus. Xavier Flactifs Eltern kamen aus dem Tschad und aus Guadeloupe, er wurde im Alter von drei Jahren in Frankreich adoptiert. Doch kein Journalist hatte den Mut, den zugrundeliegenden, offensichtlich rassistischen Hass zu erwähnen, der in dem Fall durchaus eine Rolle spielte, obwohl er beispielhaft für die Gewalt ist, die der materielle Erfolg eines Franzosen ausländischer Herkunft bei manchen Menschen in Frankreich auslösen kann.
Wie hat die „Affaire Flactif“ Sie persönlich berührt? Was waren Ihre Beweggründe, das Thema literarisch zu bearbeiten?
Es waren die schrecklichen Details, die mir halfen, die Geschichte zu entwickeln. Zunächst habe ich sehr viel recherchiert. Danach habe ich aber nicht sofort angefangen zu schreiben. Ich ließ ein paar Monate verstreichen, um alles zu vergessen, was ich erfahren hatte. Ich wollte keine exakte Rekonstruktion des Flactif-Falles, das war nicht mein Ziel. Nach einer Zeit der Reifung machte ich mich ans Schreiben und beobachtete, was ich erinnerte. Ich arbeite oft auf diese Weise: Wenn mir bestimmte Elemente auch nach langer Zeit noch im Gedächtnis bleiben, dann deshalb, weil sie wichtig genug sind, um sie in meine Geschichte aufzunehmen.
Was mich an dem Fall besonders beschäftigt hat, war die Überschneidung von Rassen- und Klassenkonflikten. Hier ist der schwarze Mann mächtig und der weiße Mann unterwürfig. Hier steht ein Weißer im Dienst eines Schwarzen. Hier ist das Opfer ein Gauner und der Mörder ein Opfer.
Natürlich ist das eine starke Vereinfachung, aber sie erlaubt uns zu sehen, dass die gesellschaftlichen Konstellationen, denen wir begegnen, meistens umgekehrt sind. Diese – für manche unerträgliche –Umkehrung der Verhältnisse war zweifellos der Ursprung der Tragödie.
Warum spielt die Geschichte Ihres Romans 2015 und nicht 2003, zur Zeit des wahren Falls?
Ich habe die Geschichte bewusst im Jahr 2015 angesiedelt, zur Zeit der Anschläge in Paris, um das Gefühl der Isolation des Handlungsortes zu verstärken. Die Bewohner des kleinen Dorfes beobachten die Gewalt in Paris mit einer gewissen Gleichgültigkeit, als ereigneten sich die Anschläge in einem fernen Land. Durch die im Roman verübte Bluttat gelangt die Gewalt schließlich auch ins Dorf, in diesen abgelegenen, sich selbst überlassenen Winkel Frankreichs, und bringt alle Spannungen deutlich zum Vorschein.
Was hat Sie dazu bewegt, den Roman aus Sicht von Anna, der Frau des Mörders, zu schreiben?
Anna ist am besten dazu geeignet, zu uns zu sprechen. Ihr Blickwinkel, ihre Position, selbst ihre Verwirrung machen sie zu einer beeindruckenden Sympathieträgerin. Sie ist von so vielen unterschiedlichen Gefühlen erfüllt – Wut, Demütigung, Unverständnis für das Geschehene –, dass sie eine von uns sein könnte. Sie ist uns ähnlich, sie ist uns nah, und das macht die Stärke ihrer Figur und ihrer Erzählstimme aus.
Bei der Lektüre Ihres Romans wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwommen sind: Niemand ist ohne Schuld. Umgekehrt ist selbst der Mörder, der eine furchtbare Tat begangen hat, im Grunde seines Herzens kein schlechter Mensch. War dies eine bewusste Entscheidung Ihrerseits oder eine Entwicklung während des Schreibens?
Es war eine bewusste Entscheidung. Ich versuche nicht, Partei zu ergreifen oder Recht zu sprechen, das ist nicht meine Aufgabe. Urteilen ist hinderlich, wenn man die Welt verstehen will. Romanautoren sind weder Richter noch Hüter der Ordnung. Sie suchen, sie hinterfragen, sie wühlen auf, sie respektieren nichts. Dies ist das Werk eines jeden Künstlers, unabhängig von seiner Disziplin. Man kann nichts entdecken, wenn man nicht subversiv ist.
Als Schriftstellerin war ich schon immer vom Scheitern, von der „Wunde“ fasziniert. Sie ist der Ursprung der Mythologie und aller Geschichten: In einer geordneten Welt bricht eines Tages etwas den Lauf der Dinge. Der Mensch mit seiner verzweifelten Hartnäckigkeit, trotz aller Widrigkeiten am Leben zu bleiben, hat etwas Rührendes an sich. Wir alle gehören zu dieser zitternden Menschheit. Es ist immer eine Wunde, die den Ursprung des Menschen und der Welt ausmacht
„Absolut bewundernswert. Eines der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.“
„Sedira holt mit ihrem Roman zu einem kraftvollen Schlag aus.“
„Voller Empathie.“
„Aufwühlend und kraftvoll. Auf subtile Weise erforscht der Roman die Themen Eifersucht und Rassismus.“
„Sedira (…) führt den Leser – mit enormer Detailfülle und einem sehr feinen Gespür für Sprache – aus dem Idyll der Natur in die zerklüftete Welt des Sozialen bis an den Abgrund des Unerklärlichen der Bestie Mensch.“
„Das kompakte Buch bietet mit seinem rätselhaften Kriminalfall und erschütternden Einblicken in die menschliche Psyche ein ungewöhnliches Leseerlebnis.“
„Ein packender und beeindruckender Roman, der auf subtile Weise menschliche Schwächen offenbart, mit Klischees spielt und ungewöhnlicherweise der Frau des Täters Gehör verleiht. Sprachlich mit Bravour gemeistert.“
„Ein unheimlich beeindruckendes Buch.“
„Das vorliegende Werk ist große Literatur.“
„Fesselnd geschrieben“
„Kraftvoller Roman“
„Samira Sedira hat einen aufwühlenden, kraftvollen Roman geschrieben.“
„Diese für den überschaubaren Umfang des Buches erstaunliche Detailfülle liest sich wie eine emotionale Inventur, ein Versuch, die zuerst durch die Ankunft der Familie Langlois und dann endgültig durch die Morde zerstörte Ordnung wiederherzustellen.“
„Es ist nicht nur ein gutes Buch, weil es eine feinfühlige Sprache hat mit der wir wirklich in die Gedankenwelt des Täters, aber eben auch der Opfer eintauchen können, sondern die Autorin Samira Sedira lässt auch die Grenzen so zwischen Gut und Böse verschwimmen.“
„Samira Sediras Roman ›Wenn unsere Welt zerspringt‹ ist aufwühlend und fesselnd, er ist kurz und dicht, tiefgründig, aber subtil.“
„Fesselnd.“
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