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Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein MeerWenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer

Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer

Tabea Hertzog
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"nachdenklicher, aufrichtiger und mutiger Debütroman" - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer — Inhalt

„Guten Tag, Leben!“

Eine junge Frau erhält kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag eine Diagnose, die alles verändert: Chronische Niereninsuffizienz. Alle Zukunftspläne sind plötzlich hinfällig. Dann verschlechtern sich die Nierenwerte, sodass sie dreimal pro Woche zur Dialyse muss. Bald wird klar: Ein neues Organ muss her. Krankheit und Spendersuche werfen sie auf ihre Familie und Vergangenheit zurück. Bei der Mutter aufgewachsen hat sie zum Vater erst seit Kurzem vorsichtigen Kontakt. Im Krankenhaus treffen alle erstmals wieder aufeinander. Während die Mutter sich entzieht, ist der Vater sofort zur Spende bereit. – Tabea Hertzogs eigene, wahre Geschichte, ihre Beobachtungen aus der Welt der Kranken und der der Gesunden sind voller Empathie und Tragik, Lakonie und Humor und fügen sich zu einem ganz besonderen literarischen Debüt.

„Von einem Schicksalsschlag mit dieser schönen Leichtigkeit zu erzählen! Tabea Hertzog hat mich ganz zart und fast fröhlich mitgenommen in so einen großen existenziellen Moment – und auch in das Glück eines wiedergeschenkten Lebens.“
Moritz Rinke

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 01.03.2019
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1390-3
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.03.2019
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7987-9
Download Cover
"nachdenklicher, aufrichtiger und mutiger Debütroman"
Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Detailliert und mit grimmigen Humor schildert die Autorin den Krankenhausalltag, die Atmosphäre bei der Dialyse, aber auch die Reaktion von Freunden und Verwandten."
Hannoversche Allgemeine
„Tabea Hertzog erzählt ihre eigene, wahre Geschichte und schildert ihre Beobachtungen aus der Welt der Kranken und Gesunden.“
Grazia Online

Leseprobe zu „Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer“

1

Das, was am meisten zerrt in diesem Augenblick? Dass alle Pläne anders gefasst werden müssen. Dass Dinge, die ich jetzt machen wollte, nicht gemacht werden können. Ein Kurztrip in den Norden Frankreichs, aufs Land, eine Freundin besuchen. Das Stipendium in Teheran. Iran? Da können Sie auf keinen Fall hin. Es fühlt sich an wie Stillstand.

 

Auf der Nephrologie-Station sagt Frau Bönsch: Sie sind noch so jung.

Am Donnerstag werde ich dreißig, sage ich.

Dreißig? Ich dachte, Sie sind Anfang zwanzig.

Wir sprechen nicht darüber, was wir haben, klar ist, hier hat [...]

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1

Das, was am meisten zerrt in diesem Augenblick? Dass alle Pläne anders gefasst werden müssen. Dass Dinge, die ich jetzt machen wollte, nicht gemacht werden können. Ein Kurztrip in den Norden Frankreichs, aufs Land, eine Freundin besuchen. Das Stipendium in Teheran. Iran? Da können Sie auf keinen Fall hin. Es fühlt sich an wie Stillstand.

 

Auf der Nephrologie-Station sagt Frau Bönsch: Sie sind noch so jung.

Am Donnerstag werde ich dreißig, sage ich.

Dreißig? Ich dachte, Sie sind Anfang zwanzig.

Wir sprechen nicht darüber, was wir haben, klar ist, hier hat jeder etwas an den Nieren. Die Schwester kommt und misst unseren Blutdruck. Immer noch ein bisschen zu hoch, sagt sie zu mir, als sie den Klettverschluss von meinem Arm löst, 160. Wie ’ne Zwanzigjährige, sagt sie ein paar Minuten später zu Frau Bönsch, 125.

 

Eine Schwester, die ich noch nicht kenne, kommt herein, schiebt mein Frühstückstablett auf den Tisch. Auf dem Tablett liegt ein Zettel: Georg Kühn – Rotkohl, Boulette in Pilzrahmsoße. Zum Nachtisch ein Dany Sahne Vanillepudding. Ich starre auf den Zettel. Frau Bönsch versteht sofort meinen Blick.

Sie haben das Essen von jemandem, der wieder entlassen ist, sagt sie. Ich habe auch schon des Öfteren nicht das bekommen, was ich angegeben habe. Entweder die sortieren zusammen, oder die vergessen.

 

Ich würde dir gern meine Niere einpacken, aber das geht ja nicht, sagt meine Mutter am Morgen meines dreißigsten Geburtstags am Telefon.

Schon okay, sage ich, bis nachher, und lege auf.

Manchmal bin ich dankbar für ihren Humor, der uns gemeinsam ist und mit dem sie jetzt versucht, mich möglichst schnell mit dieser Situation vertraut zu machen.

 

Alles Gute wünsche ich dir, schreibt J. Wenn du feierst, lad mich ein!!

Gerade weil er nicht weiß, dass ich im Krankenhaus liege, finde ich seine Nachricht lustig. Vor vier oder fünf Jahren habe ich einen Kurs in seinem Fotolabor mitgemacht. Seitdem sind wir uns hin und wieder bei Einladungen von gemeinsamen Freunden begegnet.

 

Es klopft, und mein Vater kommt mit einem Käsekuchen herein. Daran baumelt einer dieser großen Jahrmarktluftballons, die an Kindheit erinnern. Darauf eine 30.

Es ist das erste Mal, dass ich gebacken habe, sagt er.

Er verstaut die Kuchenform in einer Karstadt-Plastiktüte, hängt sie über die Lehne des Stuhls. Vor der Cafeteria treffen wir auf meine Oma.

Guten Tag, sagt sie.

Lange nicht gesehen, sagt er.

Hast dich kaum verändert, sagt sie, vielleicht ’n bisschen mehr graue Haare, aber sonst …

Beide wollen sie meinen Kaffee bezahlen. Am Tisch platziert meine Oma eine Tüte mit Kuchen.

Alles Dinkel, sagt sie.

O Gott …, kommt es von meinem Vater.

Bio, ergänzt sie.

Und ich habe den Quark von A & P gekauft, ich hoffe, er schmeckt trotzdem.

Ich nicke nur. Vollkornprodukte sind jetzt eh nicht mehr gut, sage ich.

Was du essen darfst und was nicht, musst du mir noch mal in Ruhe erklären, erwidert meine Oma.

Heute ist das egal.

 

Am Abend kommen meine engsten Freunde. Sie bringen selbst gebackenen Mohnkuchen mit, den habe ich mir gewünscht. Wieder in der Cafeteria, lade ich sie zum Tee ein.

 

Die Frau schaut mich an, als würde ich nicht dazugehören. Unter meinem Kleid sieht sie nur Junges und Schönes, sie ist geneigt, den Blick darüber hinwegschweifen zu lassen. Und dann schaut mich die blonde Ärztin mit dem grünen Kittel ein zweites Mal an, sagt zu der anderen mit der Mappe in der Hand: Sie, die junge Frau mit der Nummer zwölf, ist die Nächste, und meint mich. Ich nicke.

 

Es gibt Schlimmeres. Es gibt immer Schlimmeres, sagt ein Freund, und du weißt, wie ich das meine.

Was sagt man, was sagt man nicht?

 

Meine Schwester kommt einen Monat früher als geplant aus Asien zurück. Sie hat keine Wohnung, keine Krankenkasse, keinen Job.

Aber das ist nicht wichtig, sagt sie.

 

Frau Bönsch sagt: Es tut mir ja leid, dass ich schon wieder auf den Topf muss, aber entweder Sie essen, oder Sie haben Besuch da.

Ich sage: Machen Sie sich keine Sorgen, ich klingle auch gern für Sie, wenn Sie an Ihren Knopf wieder nicht herankommen.

Frau Bönsch stoppt gern mal die Zeit, wenn sie den Knopf drückt. Wir warten dann, bis die Tür aufgeht und entweder der faule Jörg, wie sie ihn nennt, hereinkommt oder Schwester Martha und Frau Bönsch direkt fragt: Haben Sie mich gerufen?

Ein, zwei Mal haben Frau Bönsch und ich wohl gleichzeitig geklingelt, und als die Schwester den Kopf zur Tür reinsteckte, hatte ich gar keine Möglichkeit, mich bemerkbar zu machen, weil Frau Bönsch schneller war und mein Bett hinter der Tür steht. Chance verpasst, habe ich da gedacht und eine weitere halbe Stunde gewartet, bis ich mich wieder getraut habe, den roten Knopf zu drücken.

 

Gerade ziehe ich den Löffel aus der Serviette, da geht die Tür auf, und einer von den Gelben schiebt einen Rollstuhl herein.

Mit dem Frühstück müssen Sie noch warten, ich habe jetzt anderes mit Ihnen vor.

Ich lege den Löffel in die Serviette zurück, rolle sie wieder zusammen, weil es mir schwerfällt, loszulassen und einfach aufzustehen.

Man hat Ihnen nichts gesagt, ich seh schon, sagt der Mann, der kurz zu Frau Bönsch schaut, dann erneut zu mir, ich blicke schnell wieder auf die zerknitterte Serviette, trotzdem fühle ich, wie die Bönsch mein Gesicht fixiert. Sie schüttelt den Kopf.

Ich fahr Sie zur Lungenendoskopie in den dritten Stock. An sich geht das fix, ich hol Sie dann auch wieder ab, und in drei Stunden dürfen Sie Ihr Frühstück nachholen.

 

Wir stehen vor dem Fahrstuhl, die Metalltüren öffnen sich, und zwei Männer in blau-roten Anzügen steigen aus. Sie tragen irgendwelche Gerätschaften unter den Armen. Sie grüßen den Gelben, bleiben dicht gedrängt an der Wand stehen. Der Gelbe schiebt mich in den Fahrstuhl, die Türen schließen sich.

Kennen Sie die?, fragt er mich. Ich kann ihn nicht sehen, weil er hinter mir steht. In seiner Stimme spüre ich, dass er die beiden merkwürdig findet.

Wer sind die?, frage ich.

Das sind die Papierauswechsler.

Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass er die Papierkästen in den Toilettenräumen meint.

Die sind verrückt, fährt er fort. Steigen immer aus, wenn jemand anders zusteigt, haben Angst, zu viele zu sein.

Verstehe, sage ich.

So, da sind wir, sagt er, ich melde Sie an.

Alles Gute, wünscht er mir, bevor er zum Fahrstuhl zurückläuft. Auf seinem Display liest er den nächsten Abholort ab, der nächste Patient.

 

Manchmal bin ich dankbar für den kurzen Moment der Vertrautheit, weil alles so eindeutig ist.

 

Der Arzt kommt mir sehr klein vor, obwohl er über mich gebeugt ist und dazu erhöht steht. Ich liege auf dem Rücken, die Arme an den Körper gepresst.

Ich fahr Sie mal noch ein Stück weiter runter, sagt er. Es tut mir leid, dass wir Sie so überfallen haben. Eigentlich sollte die Aufklärung in Ruhe erfolgen, doch dann hätten wir Sie erst morgen untersuchen können, und das wäre ein verschenkter Tag gewesen.

Ich verstehe sofort, was für ein Arzt er ist. Einer, der die Dinge lieber schnell erledigt.

Deshalb machen wir das jetzt, und Sie müssten dann noch unterschreiben.

Okay, sage ich.

Sie wissen, weshalb Sie hier sind?, fährt er fort und knipst die Lampe über meinem Kopf an. Wegen der schwarzen Flecken auf Ihrer Lunge, die schauen wir uns jetzt mal genauer an.

 

Unzweifelhaft bin ich die Jüngste auf der Station.

 

Seit wann hast du denn Kontakt zu deinem Vater?, fragt meine Mutter.

Seit einem Jahr, sage ich.

 

Der Arzt lädt meine Eltern ein, um über eine mögliche Nierenspende zu sprechen. Früher oder später müsse man sich darüber Gedanken machen. Er sagt: Besser ist es, von Anfang an offen über alles zu sprechen. Später wird es meist viel schwieriger.

Hallo, sagt mein Vater.

Und? Wie geht’s?, fragt meine Mutter, eine Mischung aus Vorwurf und aufgesetzt guter Laune liegt in ihrer Stimme.

Mehr sagen sie nicht, nach zwanzig Jahren. Meine Mutter ist wieder zu spät, es gehört zu ihrem Auftritt.

Was hat der Arzt gesagt?, fragt sie später, als wir drei um den Zimmertisch sitzen.

Dass wir es uns emotional gut überlegen müssen, sagt mein Vater.

Das ist meine Tochter, natürlich sage ich Ja. Sie versucht, die Starke zu spielen, und schaut ihn dabei direkt an.

Ich sage: Mama, natürlich ist das eine emotionale Sache.

Kurz sind alle still.

Frau Bönsch sitzt die ganze Zeit aufrecht im Bett, ein bisschen ist sie vielleicht wie meine Großmutter, die über uns wacht. Als meine Eltern gehen, schaue ich Frau Bönsch nicht an, es ist nicht notwendig, sie weiß, was ich weiß, und ich weiß, was sie weiß. Ich bin dankbar dafür, wie sie ist. Sie ist weder unsicher, noch fragt sie nach. Worte sind einfach nicht notwendig.

Frau Bönsch tut immer beschäftigt, bis sie merkt, dass man sich beobachtet fühlt, dann holt sie ihr rotes Notizheft heraus, geht die Kalendertage durch. Ich weiß nicht, ob sie sich Vergangenes anschaut oder Zukünftiges, wonach sie sich sehnt. Manchmal kritzelt sie auch etwas hinein.

 

Soll ich später Ihren Essenswunsch mit durchgeben?, frage ich und meine, wenn sie mit der Therapeutin zum Spaziergang draußen ist.

Gern, sagt Frau Bönsch, wissen Sie denn schon, was Sie essen wollen?

Ich dachte, Seelachsfilet.

Ja, Seelachs ist nicht schlecht.

Dazu Erbsen und Kartoffelpüree?

Das ist gut, sagt sie. Ich vermerke es.

Zum Nachtisch Apfelmus. Frühstück und Abendessen kann bleiben.

In Ordnung, sage ich.

 

Frau Bönschs Nichte ist da. Sie hat ihr diverse Joghurtsorten mitgebracht, die ganze Palette von Nuss bis Obst. Ich denke, Frau Bönsch sind die vielen Verpackungen unangenehm, sie lässt sie schnell in der Schublade ihres Tischchens verschwinden. Die leere Palette schiebt sie auf die Platte zurück.

Kann man Blumentöpfe reinstellen, sagt sie und sieht die Nichte an.

Die sagt nichts, starrt bloß die ganze Zeit auf ihr Handy.

Später erzählt sie von der Schule, von einer Klassenarbeit in Mathe. Frau Bönsch sagt nicht viel dazu, schaut nur zur Nichte, zum Handy, wieder zur Nichte und zum Handy, dann zu mir, weiß gar nicht, wohin mit ihrem Blick.

 

Frau Bönsch bekommt Fieber, keiner weiß, woran es liegt. Sie spricht jetzt viel, wird ängstlich, und ich versuche, für sie da zu sein, ihr die Angst zu nehmen. Ich höre ihr zu, achte auf jede ihrer Bewegungen. Ich beginne nun auch öfter das Gespräch, was ich nicht getan habe, als es ihr gut ging. Sie schläft am Nachmittag, als der Reis mit Hühnerfleisch kommt. Sie schläft auch am Abend, als ich den Bildschirm des Fernsehers über ihr anschalte, die Kopfhörer aufsetze.

 

Das Fieber geht zurück. Und dann darf ich vor ihr das Krankenhaus verlassen. Ich kann es in ihrem Blick lesen: Jetzt dürfen Sie doch vor mir gehen! Keine von uns hat das erwartet.

Ich hole gleich den Rest meiner Sachen, sage ich zu ihr und greife nach den ersten beiden Taschen.

Wer wohl Ihre Nachfolgerin sein wird?, fragt sie besorgt, den Blick ins Leere gerichtet.

Sie kriegen das schon hin, erwidere ich und schiebe die Vase mit den Blumen näher auf ihre Seite des Fensterbretts. Die lasse ich Ihnen da.

 

Im Aufenthaltsraum warte ich auf meine Mutter. Da ich vier volle Taschen nicht alleine tragen kann, habe ich sie gebeten, mich abzuholen. Das Gepäck besteht größtenteils aus Geburtstagsgeschenken meiner Freunde. Vor allem Bücher haben sie mir mitgebracht. In eine Zimmerecke geschoben steht ein trostlos aussehender Gummibaum. Wie viele dieser Pflanzen in Behörden und Ämtern scheint auch er zur Raumausstattung zu gehören. Als pflegeleicht und anspruchslos verkauft, zeigen sich die Spuren der Vernachlässigung erst nach einer ganzen Weile. Wie aus einem Reflex ziehe ich den Topf vor das Fenster und drehe ihn um hundertachtzig Grad, sodass die Äste des schiefen Bäumchens in den Raum ragen. Es war das Erste, was meine Mutter mir über Pflanzen beibrachte: Sobald sie sich zu sehr dem Licht zuneigen, ist es wichtig, sie zu drehen. Als Kind habe ich mich nicht für Pflanzen interessiert. Ich kann die typischen mitteleuropäischen Bäume benennen, deren Namen jedes Kind in der Schule lernt. Darüber hinaus wird es schwierig. Meine Mutter hat uns oft mit in den Wald genommen. Mir fällt ihre Begeisterungsfähigkeit beim Entdecken einer Pflanze oder Blüte ein, das Wissen darüber, das sie mit uns teilen wollte. Wir interessierten uns wenig für ihren Blick auf die Dinge. Jetzt erscheint mir diese Begeisterung wie eine verpasste Chance.

Ich habe dich überall gesucht, sagt sie und steht plötzlich im Türrahmen. Ihr hellbraunes langes Haar trägt sie zum Zopf geflochten.

Du bist sehr spät, antworte ich.

Dass ihr schon schlecht vor Hunger sei und ihr Lebensgefährte außerdem keinen Parkplatz gefunden habe, kommt es sofort von ihr zurück. Ich schweige und reiche ihr zwei Taschen entgegen. Wir müssten uns beeilen, sagt sie, das Auto stehe in der Feuerwehreinfahrt.

Der Lack des schwarzen SUV glänzt schon von Weitem in der Sonne, als wäre das Fahrzeug gerade in der Waschanlage gewesen. Die Windschutzscheibe reflektiert so stark, dass ich das Gesicht dahinter nicht erkenne, trotzdem hebe ich einen Arm und winke, denn wer sonst als ihr Lebensgefährte sollte am Steuer sitzen. Der Motor startet, und der Jeep rollt uns langsam entgegen. Meine Mutter beginnt in scharfem Ton Worte zu sprechen, die für mich unverständlich bleiben. Manchmal denke ich, man soll sie gar nicht verstehen. Sie hastet zum Auto. Abrupt bleibt das Fahrzeug stehen, das Motorengeräusch bricht ab. Meine Mutter hat eine Gabe, sich in den Mittelpunkt zu drängen, auch vor einem Auto schreckt sie nicht zurück. Sie reißt die Beifahrertür auf: Warum er denn so schnell machen müsse, fragt sie in genervtem Tonfall ins Auto hinein. Noch immer kann ich niemanden sehen. Dann höre ich die vertraute Stimme. Er habe uns lediglich entgegenkommen wollen. Als müsste er sich für seinen gut gemeinten Versuch entschuldigen. Ich stelle mich neben meine Mutter und hebe die Hand zum Gruß, dabei bücke ich mich ein wenig, damit wir uns in die Augen sehen können.

Hallo, sagt er ruhig und aufmerksam, als er mich sehen kann.

Ich sterbe vor Hunger, sagt meine Mutter, um sich die Aufmerksamkeit zurückzuholen. Ich lege die Taschen auf die Rückbank und setze mich daneben.

Wie ich mich fühle, fragt er, als das Auto an einer roten Ampel steht. Bevor ich eine Antwort geben kann, kommt meine Mutter mir zuvor. Wie es jetzt eigentlich weitergehe, fragt sie und lässt die Fensterscheibe nach unten fahren. Bei etwa der Hälfte lässt sie den Knopf los. Ganz übel ist mir, sagt sie.

Nächsten Montag muss ich das erste Mal in die Ambulanz der Nephrologie, sage ich. Da werde ich nun regelmäßig zur Kontrolle sein. Wie es wirklich weitergeht, weiß ich auch noch nicht.

Es werde schon alles gut werden, sagt meine Mutter. Ich frage mich, was alles heißt, vor allem aber was gut.

 

Rufst du an?, fragt sie und ergänzt in ernstem und doch liebevollem Tonfall: Hörst du?, als wäre ich wieder Kind und sie kämpfe um meine Aufmerksamkeit. Sie blinzelt, im einfallenden Licht des Hausflurs scheinen ihre grünen Augen wässrig.

Mach ich.

Aber tu es wirklich!

Dann zieht meine Mutter die Wohnungstür hinter sich zu und eilt die Stufen nach unten. Im Hof verhallt das Geräusch ihrer Schritte. Ich bleibe im dunklen Flur stehen, bis die Tür des Vorderhauses ins Schloss gefallen ist. Jetzt erst kommt mir der Gedanke, dass sie zum ersten Mal in meiner Wohnung war. Eingeladen hatte ich sie immer mal wieder, bis ich es aufgab. Ich finde das allein doch nicht, hatte sie immer gesagt, komm lieber raus nach Köpenick, dann bestellen wir uns was zu essen und sitzen im Garten.

In der Küche fällt mein Blick auf die Taschen. Von außen betrachtet, könnte alles darin sein. Ich könnte mir eben die Schuhe angezogen haben, und auf der Straße stünde ein Taxi, das mich zum Flughafen brächte, von wo mein Flug nach irgendwo ginge.

 

Oft sitze ich jetzt einfach nur in meiner Küche. Der Frühling ist da und die Vögel und das Licht und die hellgrünen Knospen. Manchmal komme ich mir so lächerlich vor. Jeder Augenblick erscheint lächerlich. Als wäre der Sinn verloren gegangen.

 

Ich halte mich an die Wegbeschreibung zur Nephrologischen Ambulanz aus dem Brief, den mir eine der Schwestern bei der Entlassung mitgegeben hat. In der Haupthalle nehme ich einen der zentralen Fahrstühle ins Kellergeschoss. Unten ähnelt alles einem Parkhaus, ich folge den roten Pfeilen, die sich wie Fahrbahnmarkierungen auf dem Boden entlang der rauen Betonwände ziehen. Hallende Geräusche, deren Ursprung ich nicht ausmachen kann, werden lauter. Der Weg unter den perforierten Aluminiumblechdecken öffnet sich zu einer Gabelung und führt in drei Richtungen weiter. Von links rattert ein Rollwagen mit Bettlaken auf mich zu. An den seitlichen Gitterstreben erkenne ich die kräftigen Hände eines Mannes. Hin und wieder lugt ein gut durchblutetes Gesicht dahinter hervor, um mögliche Hindernisse auszumachen. Noch ist ausreichend Abstand zwischen uns, also quere ich die Kreuzung auf einem Zebrastreifen.

Luc, brüllt jemand von der anderen Seite, ein Mann in blauer Arbeitshose, mach mal hinne, ich will pünktlich zum Mittag! Der Mann sieht mich an und grinst. Der Ton hier unten scheint rauer zu sein, vom Krankenhausalltag bekommt man außerhalb der Kantinen- und Zigarettenpausen nichts mit.

Zur Kinderstation weiter geradeaus steht neben dem Schild für die Milchküche. Ein junges Paar nähert sich. Er hat einen Arm um ihre Schultern gelegt, mit dem anderen fasst er sie am Unterarm, als wolle er sie heben und zugleich stützen, bei etwas, das mehr als körperlich ist. Der Mann nickt mir zu, ihr Blick geht gen Boden. Ich bin mir sicher, auch in mir sehen sie eine junge Mutter auf dem Weg zu ihrem Kind. Das ist einfacher als die Wahrheit und mir im Grunde recht.

Hinter der nächsten Ecke liegt der Aufzug. Im Fahrstuhl gibt es keinen Spiegel, also nutze ich die Smartphone-Kamera, ziehe die Lippen auseinander, um meine Zähne zu kontrollieren. Ich ordne mein Haar mit ein paar schnellen Griffen, atme tief ein, dann der Signalton, der Aufzug hat das Ziel erreicht.

 

Warum hast du denn nichts gesagt?, fragt meine Mutter am Telefon. Ich wär doch mitgekommen.

Du fährst doch nirgendwo alleine hin, sage ich und ärgere mich, dass ich ans Telefon gegangen bin. Und dein Freund ist doch im Urlaub.

Ich hätte schon jemanden gefunden.

Es ist weniger Arbeit für mich, wenn ich die Dinge alleine mache, sage ich. Ich muss jetzt Schluss machen.

 

Jemand ruft meinen Namen. Entlang der geschlossenen Türen eile ich über das spiegelnde Linoleum, bis ich eine offene Zimmertür finde, dort steht der Arzt und wartet. Er weist mir den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch zu: Bitte setzen Sie sich. Seine Bewegungen sind zügig, was mir sympathisch ist. Die Arme auf die Oberfläche gelegt, rollt er mit dem Stuhl näher an die Tischkante heran. Seine Hände suchen Bleistift und Block, dabei rutschen ihm die Kittelärmel nach oben, Handknöchel und filigrane, leicht gebräunte Unterarme sind zu sehen.

Seine flüssigen Gesten beruhigen mich.

Schaut man Sie an, glaubt man gar nicht, dass es Ihnen so schlecht geht, sagt er. Hinter der Brille blicken mich hellblaue klare Augen aufmerksam an.

Danke für das Kompliment, weiß ich nur zu erwidern.

Eine Weile schweigt er, sieht mich an. Ich ziehe die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln nach oben, weil das einfach ist.

Sie sind jung, Sie haben Kraft, und bis auf die Niere sind Sie auch gesund, sagt er dann. Transplantation oder Dialyse lassen sich mit Medikamenten hinausschieben. Wir müssen versuchen, ihren Kreatininwert so niedrig wie möglich zu halten.

Ich weiß, dass der Nierenwert eines gesunden Menschen zwischen 0 und 1 liegt und dass meiner auf 5,6 angestiegen ist. Auch wenn ich noch gar nicht sagen kann, was das bedeutet, verspüre ich eine Erleichterung durch seine Worte. Einen Moment lang möchte ich alle Verantwortung in seine Hände legen, nur damit alles genau so kommt, wie er es sagt. Damit alles gut wird. Und da kann ich genau sagen, was gut für mich bedeutet. Nämlich dass alles so bleibt, wie es ist. Dass es keine Veränderung gibt. Nichts schlimmer wird.

Was denken Sie?, fragt er schließlich.

Ich frage mich, welches Verhalten in meiner Situation angemessen ist, sage ich. Ich kenne niemanden, der so etwas schon erlebt hat. Ich weiß, dass das Leben nicht so funktioniert, aber in diesem Moment wünsche ich mir Orientierung.

Der Arzt lächelt sanft. Manchmal ist es besser, dass alles neu ist, als umgekehrt, sagt er. Manche Erfahrungen noch nicht gemacht zu haben bedeutet auch, dass der Umgang damit noch nicht von Gefühlen vorbelastet ist.

Ich nicke.

Solange Sie sich gut fühlen, können Sie sich auch vertrauen. Wenn Sie Veränderungen bemerken, ist es wichtig, dass Sie sie mitteilen.

Ich versuche, mir seine Worte einzuprägen. Plötzlich beunruhigt mich die Vorstellung, ich könnte nicht auf alle Fragen meiner Freunde eine Antwort haben.

In sechs Wochen kontrollieren wir Ihre Blut- und Urinwerte.

 

Kontrolle erzeugt Sicherheit. Auch wenn ich keinen Einfluss habe auf das, was passiert. Es geht mir doch gut.

Wieder im Untergeschoss, fühlt der gleiche Weg sich anders an. Als hätte ich etwas geschafft, schreite ich mit weiten, schnellen Schritten vorwärts, ohne diesem Ort entfliehen zu wollen, mehr als hätte ich ein Stück der Anspannung verloren. Das Nicht-wissen-was-kommt ist ein wenig aus meinem Blickfeld gerückt.

Tabea Hertzog

Über Tabea Hertzog

Biografie

Tabea Hertzog, geboren 1986, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Psychologie in Berlin sowie Literarisches Schreiben in Hildesheim. 2013 war sie für den Retzhofer Dramapreis nominiert, 2015 Stipendiatin der NES Artist Residency in Island. 2016 nahm sie an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto...

Pressestimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung

"nachdenklicher, aufrichtiger und mutiger Debütroman"

Hannoversche Allgemeine

"Detailliert und mit grimmigen Humor schildert die Autorin den Krankenhausalltag, die Atmosphäre bei der Dialyse, aber auch die Reaktion von Freunden und Verwandten."

Grazia Online

„Tabea Hertzog erzählt ihre eigene, wahre Geschichte und schildert ihre Beobachtungen aus der Welt der Kranken und Gesunden.“

Weiberdiwan

"Der Stil ist humorvoll-distanziert, der Zugang reflektiert und optimistisch. Nicht nur für Leser_innen zu empfehlen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden."

Hessisches Ärzteblatt

„Ein sehr lesenswertes und persönliches Buch, sehr wohl auch für Ärzte und Pflegende!“

Saarländischer Rundfunk

„Ein Buch so schön wie sein Titel, schwer und gleichzeitig doch ganz leicht.“

buchreport express

"Ein nachdenkliches und mutiges Debüt."

WDR 1

"...unaufgeregt und trotzdem emotional, leicht und trotzdem an den richtigen Stellen schwer genug, damit die Geschichte einem nahegeht."

Elle Online

"Ein emotionales Thema"

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