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Vor dem Sprung

Brandon Taylor
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Storys

„Ein bittersüßes Lesevergnügen, das Menschlichkeit in all ihrer ernüchternden Hässlichkeit, aber auch zaghaften Schönheit beschreibt.“ - Ruhr Nachrichten

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Vor dem Sprung — Inhalt

Fragile Identitäten zwischen Zärtlichkeit und Gewalt

Ein junger queerer Mann lässt sich mit einem Tänzerpaar ein und ahnt nichts von der toxischen Eifersucht, die bald in der Affäre schwelt. Eine Familie zerstreitet sich wegen der Homosexualität des abwesenden Sohnes. Ein Junge erfährt an seinem 17. Geburtstag, dass sein bester Freund eine Mitschülerin vergewaltigt hat. Und versteht: Es gibt Schlimmeres, als allein erwachsen zu werden. Man liest Brandon Taylors Storys mit angehaltenem Atem, weil das Unheil jederzeit durch die zarte Schicht des Alltags zu brechen droht.

26 Medien in den USA und Großbritannien zählten „Vor dem Sprung“ noch vor Erscheinen zu den wichtigsten Büchern des Jahres. Hier spricht ein Autor, der die amerikanische Literatur über Jahre hinweg prägen wird.

„Bewusst oder unbewusst hat Brandon Taylor damit das perfekte Buch für unsere nervöse Zeit des Aufbruchs geschrieben.“ The New York Times

„Taylor hat sich als herrlich origineller Erzähler etabliert.“ Vogue

„Voller grundlegender Einsichten in die Abgründe menschlicher Interaktion.“ Kirkus Review

„Taylors Superkraft besteht darin, ein ganzes Leben umfassende Vorgeschichte auf wenige Sätze zu komprimieren. Sein Stil ist wahnsinnig subtil, aus seiner Haltung spricht eine große Reife.“ The Guardian

„›Vor dem Sprung‹ bewegt sich in dem komplexen Raum zwischen Verletzten und Verletzenden, zwischen dem Feind im Gegenüber und dem Feind in uns.“ Yiyun Li

„Ein brillanter Schriftsteller.“ Garth Greenwell

€ 22,00 [D], € 22,70 [A]
Erschienen am 31.03.2022
Übersetzt von: Maria Hummitzsch, Michael Schickenberg
288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-05957-2
Download Cover
€ 16,99 [D], € 16,99 [A]
Erschienen am 31.03.2022
Übersetzt von: Maria Hummitzsch, Michael Schickenberg
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60157-3
Download Cover
„Psychologisch aufgeladen und auf eine stille Weise verheerend, ist ›Vor dem Sprung‹ ein zärtliches Porträt des heftigen Verlangens nach Intimität, der schwelenden Präsenz des Schmerzes und der Sehnsucht nach Liebe in einer Welt, die sie uns allzu oft vorzuenthalten scheint.“
LGBTQ Reads
„Diese Sammlung lässt uns darüber nachdenken, wie aufreibend Begehren ist, wie schmerzhaft es sein kann und warum wir trotzdem nicht genug davon haben können.“
Literary Hub
„Diese Sammlung miteinander verbundener Shortstorys legt die brodelnden Spannungen innerhalb einer Gruppe junger Künstler im Mittleren Westen der USA frei und zeichnet so ein Bild von Begehren, Schmerz und Sehnsucht.“
TimeOut
„Eine bestechende neue Stimme mit einer wesentlichen Perspektive auf die Welt.“
Harper’s Bazaar
„Voller grundlegender Einsichten in die Abgründe menschlicher Interaktion. … Taylor packt eine ganze Reihe von Tabus an, er findet eine Sprache für die unbehaglichen Teile unserer Seele – und es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen.“
Kirkus Starred Review
„Taylor entwickelt intime Erzählungen über nervenaufreibende Beziehungsdynamiken und stellt dabei immer wieder seine Sensibilität für die fragile psychische Verfassung seiner Figuren unter Beweis. Seine Sprache schlägt Funken aus der Spannung zwischen dem Schönen und dem Grausamen, vermittelt einen Eindruck vom Begehren und von der durch die Launen seiner Figuren verkomplizierten Freude an Essen und Sex. Der Autor verfügt über eine beachtliche Bandbreite, und seine Darstellungen komplexer, in schier unerträglichen Situationen gefangener Figuren vergisst so schnell keiner.“
Publishers Weekly
„In ›Vor dem Sprung‹ wendet Brandon Taylor seinen fesselnden, präzisen Stil auf die kleine Form an.“
O: The Oprah Magazine
„Mit sicherem, ungetrübtem Blick und tiefem Respekt für seine Figuren erschafft Taylor Geschichten der Sehnsucht und des Begehrens, die man sofort wiedererkennt.“
Elle
„Der strahlende Beweis für Brandon Taylors herausragendes Talent, seinen scharfen Verstand, seine emotionale wie sprachliche Präzision, seinen trockenen und unverbrüchlichen Humor. Der Autor, so kühn, wie man es selten erlebt, liefert mit seinen Büchern eine Offenbarung nach der anderen.“
Katie Kitamura
„Brandon Taylor ist ein Schriftsteller, der dem Leben mit einer seltenen Kombination aus Entschlossenheit, Staunen, Temperament und Vitalität begegnet. In seiner fantastischen Erzählungssammlung ›Vor dem Sprung‹ bewegt er sich in dem komplexen Raum zwischen Verletzten und Verletzenden, zwischen dem Feind im Gegenüber und dem Feind in uns.“
Yiyun Li
„Ein brillanter Schriftsteller.“
Garth Greenwell
„All diese Geschichten zeichnen ein Bild der zugleich schönen und leidvollen Momente des Lebens: der Sehnsucht nach Intimität, dem versteckten Verlangen nach Liebe, das sich als Gleichgültigkeit tarnt, und den Narben, die der Schmerz heute im Leben hinterlässt.“
Cosmopolitan
„Zärtlich und mit einer guten Prise trockenem Humor erkundet dieses Buch Liebe, Sehnsucht und erotisches Begehren ... Das Versprechen von ›Real Life“ auf ganzer Linie einlösend, hat sich Taylor mit ›Vor dem Sprung‹ endgültig als wunderbar einfallsreicher Erzähler etabliert, dessen schön gezeichnete Figuren uns wirklich anrühren.«
Vogue

Leseprobe zu „Vor dem Sprung“

Mitbringparty

Lionel hatte die Klinik erst wenige Tage zuvor verlassen, als die Einladung zur Mitbringparty kam.

Der Gastgeber wohnte im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses in Near East Side, nur durch eine kleine Stichstraße von den klobigen Cottages am Lake Monona getrennt.

Diffuser Partylärm drang hinaus in die tiefblaue Kälte, wo Lionel unter dem Fenster des Wintergartens stehen geblieben war, um einen Blick nach drinnen zu werfen. Die Anonymität der Dunkelheit beim Blick hinein verlieh ihm ein Gefühl von Macht. Dass er bis auf den Gastgeber niemanden [...]

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Mitbringparty

Lionel hatte die Klinik erst wenige Tage zuvor verlassen, als die Einladung zur Mitbringparty kam.

Der Gastgeber wohnte im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses in Near East Side, nur durch eine kleine Stichstraße von den klobigen Cottages am Lake Monona getrennt.

Diffuser Partylärm drang hinaus in die tiefblaue Kälte, wo Lionel unter dem Fenster des Wintergartens stehen geblieben war, um einen Blick nach drinnen zu werfen. Die Anonymität der Dunkelheit beim Blick hinein verlieh ihm ein Gefühl von Macht. Dass er bis auf den Gastgeber niemanden erkannte, empfand er als tröstlich und abschreckend zugleich.

Ein Rechteck aus fahlem Licht entrollte sich auf der Treppe, als der Gastgeber die quietschende Tür aufstieß.

„Scheiße, ist das kalt hier draußen. Bist du den ganzen Weg gelaufen?“

Lionel stieg die Stufen hoch und war so bemüht, seinem starren Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu verleihen, dass seine Kopfhaut kribbelte. Gelaufen war er nur einen Teil des Weges, etwa zehn Minuten. Der Bus hatte ihn am anderen Ende des Orton Park abgesetzt. Als der Gastgeber verstand, dass Lionel nicht antworten würde, sagte er: „Na dann, du kommst genau richtig.“

„Ich hatte keine Gelegenheit, noch was zu besorgen … Ich bin gerade erst zurück“, sagte Lionel. Die vielen Schuhe im Flur machten ihm klar, dass das hier nicht die kleine, intime Runde war, die er erwartet hatte. Sie machten ihm auch klar, dass er nicht genau richtig kam, aber das hatte er schon gewusst.

„Lange weg gewesen?“ Der Gastgeber legte den Arm um Lionels Taille und zog ihn zu sich, bis sie dicht voreinanderstanden, schon auf der Türschwelle, aber noch nicht in der Wohnung. „War okay?“

„Ein paar Wochen“, sagte Lionel. „Tut mir leid, dass ich mich so selten gemeldet habe.“

„Ist halt viel los“, antwortete der Gastgeber auf eine Weise, die nicht ganz nicht passiv-aggressiv klang. Weil Lionel sich sofort schuldig fühlte, wandte er leicht den Kopf zur Seite, und die Lippen des Gastgebers streiften seinen Mundwinkel.

„Danke“, sagte Lionel.

„Schön, dich zu sehen. Wir reden nachher. Was es Neues gibt und so. Ist eine Ewigkeit her.“

„Machen wir.“

Ein paar der Gäste saßen auf zusammengewürfelten Stühlen und auf dem Boden, in der Hand Teller mit pappigem Gemüse und Getreide. Das Improvisierte nahm ihm etwas von der Fremdheit, die er empfand, als er dort alleine eintrat, denn obwohl er offensichtlich zu spät kam, erweckten die anderen nicht den Anschein, so zusammenzugehören, wie Freunde das manchmal tun. Die Verbindungen zwischen ihnen folgten keiner erkennbaren Logik. Sie alle waren unbeholfene, unsichere Fremde im Wohnzimmer des Gastgebers. Er winkte ihnen zu, und sie winkten zurück. Von ihnen gesehen zu werden und sie zu sehen, berührte ihn.

Lionel fühlte sich lebendig, als Teil der Welt.

Die größere, lautere Gruppe von Gästen deckte sich in der Küche mit Essen ein. Lionel stellte sich an und sah zu, wie sie Pirouetten drehten und zusammenstießen. Sie berührten sich am Rücken und an den Schultern. Männer und Frauen. Sie umarmten sich, gaben sich Küsschen und pressten sich aneinander. Schlangen Arme umeinander und hakten Daumen in die Hosentaschen des anderen. Sie nahmen sich Wein und taten sich gegenseitig auf. Das laute Klack von Plastikbehältern, das Klimpern von Eiswürfeln, das Zischen von Mineralwasser. Als sie alles hatten und sich an Lionel vorbeiquetschten, sah er, dass sie ungefähr so alt waren wie er, vierundzwanzig, oder ein wenig älter. Sie rochen nach Tabak und etwas knallig Floralem, vielleicht Orchideen oder Hortensien. Sie sagten hey und hi und darf ich mal?, und er trat einen Schritt zurück und ließ sie vorbei.

Nachdem sich die Küche geleert hatte und alle einen Platz gefunden hatten, stellte Lionel sich einen Teller mit gebackenem Spargel, braunem Reis und Grünkohlsalat zusammen. Er lehnte sich an die abblätternde gelbe Arbeitsplatte und schob das Essen auf seinem Teller hin und her, bis alles mit allem vermischt und überzogen war. In der Küche war es stickig, es roch nach Menschen und ihrem Parfum, ihrem Shampoo, ihrer Creme. Aber durch das offene Fenster drang ein Strom kalter, klarer Luft herein. Wo der Wind durch vereinzelte Löcher im Fliegengitter gelangte, pfiff es.

„Lionel!“, rief der Gastgeber aus dem Nachbarzimmer. „Lionel, was machst du da drüben? Komm her!“

Er fand es erniedrigend, so herbeizitiert zu werden. Als er in der Tür auftauchte, klatschte der Gastgeber so laut, dass das Licht der Deckenlampe in Lionels Augenwinkel kurz grell zuckte. Ihm taten die Zähne weh.

„Da ist er ja, da ist er!“

Keiner klatschte mit, sodass die Geste des Gastgebers mitleiderregend und zugleich grausam rüberkam. Von der Tür aus sah Lionel die Bandbreite an Menschen, die zu der Mitbringparty gekommen waren. Der dicke Mann, der zwischen zwei Stühlen auf dem Boden saß, bestand darauf, dass es ihm gut gehe. Eine blonde Frau kauerte mit angezogenen Füßen auf einem Stuhl und balancierte einen Teller auf den Knien. Der Gastgeber teilte sich die Chaiselongue mit einem Pärchen, das aufeinander abgestimmte schwarze Cordhosen und graue Socken trug und aussah wie ein Geschwisterpaar. Die Frau hatte die Haare zu einem wüsten Knoten gezwirbelt, und der Mann trug ein Basecap aus Filz, darunter zotteliges, schulterlanges Haar. Eine androgyne Person, groß, markant, mit platingrauem Buzzcut und Septum-Piercing, stand gestikulierend vor einer schwarzen Frau im Overall und mit gepiercten Wangen. Zwei dürre schwule Männer in Matrosenpullis, der eine schwarz-weiß gestreift, der andere weiß-schwarz, flirteten mit einem ebenso dürren Mann mit Sonnenbrille. Eine Frau in Chinos saß da und starrte mürrisch auf die Lücke zwischen ihren Knien. Die Gesichter bildeten für Lionel eine Wand aus freundlichem Desinteresse, aber dann versanken sie wieder in ihren eigenen Gesprächen. Ihr Schwatzen übertönte die leise Musik.

Vor dem stillgelegten Kamin, über dem irgendwer ein Paar Stierhörner aufgehängt hatte, quetschte Lionel sich in eine Lücke auf dem Boden, gleich neben einen Mann in weinrotem Rollkragenpullover. Der Mann war extrem, ja unnötig muskulös und wirkte wie jemand, der es genoss, angeschaut zu werden, und der gut Blickkontakt hielt.

In die Gespräche war schwer reinzukommen. Alle spielten in einem fort auf andere Situationen, andere Ereignisse, andere Partys an, und statt zwei Sachen in Beziehung zu setzen, war jede Anspielung nur Selbstzweck, sich selbst als Geste genug. Was in Ordnung ging, alles gut, Lionel war mit Männern auf dem College gewesen, deren gesamte Kommunikation aus Anspielungen auf Filme von Will Ferrell und Witze von Adam McKay bestanden hatte. Aber bei diesen anderen Partys war er nicht dabei gewesen. Er hatte keine Chance, auf die Anspielungen einzusteigen, in das System reinzukommen. Er lachte hohl mit, wenn die anderen lachten, wenn auch mit Verzögerung, aber das Gefühl von Falschheit, das in seinem Schädel vibrierte, nervte ihn schon bald. Der Mann neben ihm schaute immer wieder in seine Richtung, und ein oder zwei Mal kreuzten sich ihre Blicke. Lionel wunderte sich über das Gefühl des Sicherkennens, das er empfand. Durch einen verqueren glücklichen Zufall blieben sie beide in der Unterhaltung außen vor, auch wenn Lionel annahm, dass der andere es absichtlich tat. Er war neidisch. Darauf, dass manche Menschen sich in sozialen Situationen bewusst aussuchen konnten, dabei zu sein oder nicht. Er selbst hatte keine Wahl. Stattdessen hatte er ständig den Eindruck, genau dann in einem Moment anzukommen, wenn dieser zu Ende ging und alle weiterzogen. Ihm fehlte das Timing. Aber der Blick des Mannes fing ihn immer wieder ein, und langsam spürte Lionel, dass sie beide in ihrem Außenvorsein ihren ganz eigenen Moment gefunden hatten. Ihr ganz eigenes Tempo.

„Ich bin Charles“, sagte der Mann schließlich.

„Lionel.“

„Schon gehört. Du bist jetzt berühmt.“

„Tja, so ist er. Er denkt, solange er darüber lachen kann, ist alles okay“, sagte Lionel. Charles zog die Augenbrauen hoch.

„Ist das so?“

„Ja“, setzte Lionel an, unterbrach sich dann aber, weil er nicht für ein Lästermaul gehalten werden wollte und Charles sich schon ein wenig zu ihm herübergebeugt hatte, als wäre Lästern genau das, wonach ihm der Sinn stand. „So ist er halt.“

„Vegetarier?“, fragte Charles. Das Beliebige an dieser aus dem Nichts kommenden Frage irritierte Lionel.

„Woher weißt du das? Irgendwas in meinem Gesicht?“

„Dein Teller“, sagte Charles. „Du stehst auf Körner.“

Lionel schaute hinunter auf sein Essen, als hätte es irgendwer anders zusammengestellt: den mit dem Grünkohlsalat vermischten Reis. Die Spargelstangen. Oxidierende und matschig werdende Avocadostückchen.

„Erwischt.“

Lionel warf einen Blick auf den Teller von Charles. Er hatte sich zwei Portionen Fisch genommen, von dem knusprig gebräunten mit dem Kopf noch dran. Wahrscheinlich Dorade oder so was. Lionel hatte im Jahr zuvor mit dem Fleischessen aufgehört, in seiner Zeit im Krankenhaus. Es hatte etwas so Grausames an sich. Fleisch war so nah am Tod, und er hatte während seines Aufenthalts in der Privatklinik zu viele Videos über industrielle Tierhaltung gesehen. Verwackelte Handyfilmchen mit lautem Keuchen und Klamottenrascheln, Nahaufnahmen von Kühen, die ihre Schnauzen gegen schlammbeschmierte Gitterstäbe pressen oder mit nässenden Wunden und aufgeblähten Bäuchen auf der Seite liegen. Er war kein fanatischer Vegetarier. Er verfügte über keinerlei militante Energie. Trotzdem fühlte er sich unsicher deswegen, denn der Grund für seinen Fleischverzicht hatte eigentlich nicht mit der Umwelt zu tun, ja, nicht einmal mit den Tieren. Der Grund war egoistisch: Der Gedanke, tote Sachen zu sich zu nehmen, wo er so kurz vorm Sterben gewesen war und sterben wollte, war zu viel für ihn. Lionel wartete, dass Charles etwas Abschätziges über Vegetarier sagen würde, wartete auf den Moment, in dem die Leute das hartnäckige Schuldgefühl, das sie selbst aufgrund ihres Fleischkonsums verspüren, auf ihn projizieren.

Manchmal fehlten ihm Hamburger schrecklich.

„Woher kennst du unseren gemeinsamen Freund?“, fragte Charles. „Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal auf einer seiner dämlichen Partys gesehen habe.“ Diesmal war Lionel auf den abrupten Übergang vorbereitet.

„Wir waren am selben Institut“, sagte er. Er kannte den Gastgeber seit ein paar Jahren, kennengelernt hatten sie sich am College als Hiwis in der Informatik – Lionel aus Michigan, der Gastgeber aus Arizona. Dann waren beide für dasselbe Programm für Angewandte Mathematik an der Wisconsin angenommen worden, wo sie ein paar Jahre studiert hatten, auch wenn Lionel sich mehr mit reiner Mathematik beschäftigte, während der Gastgeber an Anwendungen für Abschirmtechnik und Weltraumforschung arbeitete. Sie hatten sich vor und nach den Seminaren zum Kaffee und Mittag getroffen und sich verbunden gefühlt, weil sie als Kinder beide keine großen Mathetalente gewesen waren. Im ersten, rastlosen Sommer schliefen sie miteinander, gerade fertig mit dem College und überzeugt, dass sich ihr Leben ändern würde. Jetzt sah es so aus, als würde der Gastgeber vorzeitig seinen Doktor machen – das Verteidigungsministerium interessierte sich für sein Projekt und wollte daraus eine Waffe bauen, die bei Auslandseinsätzen eingesetzt werden sollte.

„Ach so, du bist auch so ein schräges Genie, ja? Ist bestimmt schön“, sagte Charles voll falscher Anerkennung.

„Ein Genie sicher nicht“, sagte Lionel. Bei dem Wort wurde ihm leicht flau. „Jedenfalls bin ich gerade nicht an der Uni. Ich bin beurlaubt.“

Mit einer lässigen Fingerbewegung schnippte Charles seine Gabel herum. Das Metall blitzte, als es sich über sein Gelenk bewegte und wieder in seiner Hand landete. Er wiederholte das Ganze, einfach so, ein hübscher kleiner Trick.

„Und jetzt machst du was?“

„Prüfungsaufsicht“, sagte Lionel.

„Du machst was?“

„Ich leite Klausuren und Prüfungen für die Dozenten. Auch die Aufnahmeprüfungen.“ Lionels Appetit schrumpfte auf einen winzigen, glühenden Punkt in seinem Magen zusammen. Er schämte sich nur dann für die Prüfungsaufsicht, wenn er anderen Leuten davon erzählen musste, und nur dann, wenn diese Leute wussten, dass er mal ein Doktorand mit funktionierender Hirnchemie gewesen war. Er hielt seinen Job für nichts Schlimmes, aber er merkte, wie andere Leute ihn sahen, wenn sie davon erfuhren, und wie sie sein Leben an dem maßen, was er mal gewesen war.

„Du willst mich verarschen, oder? Vom Mathegenie zur Prüfungsaufsicht? Ist das überhaupt eine richtige Tätigkeit?“

„Ist es“, sagte Lionel. „Denn genau das tue ich.“

„Wie ist das denn passiert?“

„Ich bin da so reingerutscht“, sagte Lionel.

„Klingt mir eher nach abgeschmiert.“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

Charles kniff die Augen zusammen, lächelte aber. Lionel spürte ein statisches Knistern zwischen ihnen.

„Und dafür schlägt dein Herz? Prüfungsaufsicht?“

„Und dein Herz schlägt dafür, Fremde bei einer Party zu verhören, als wärst du eine Figur von Tschechow?“

„Ich habe keine Ahnung, wer das ist“, sagte Charles trocken, und Lionel schnaufte. Die Heftigkeit des Geräuschs erschreckte ihn. Charles fing wieder an, seine Gabel herumzuschnippen.

Lionel widerstand dem Drang zu antworten und war dankbar für die Gelegenheit, sich dem Gespräch zu entziehen. Er verstand jetzt, erkannte klarer denn je, wie sehr er und all die anderen Studenten auf ihr Universitätsleben angewiesen waren, um in Gesprächen zu bestehen. So als wäre die akademische Welt ein Satellit, der in regelmäßigen Abständen ein Signal aussendet, um einem mitzuteilen, wer und wo man ist. Erst nachdem er dieses Leben verlassen hatte, war ihm klar geworden, dass er ohne es im Grunde nichts hatte, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Die Leute betrachteten ihn anders, wenn er nicht erwähnte, dass er studiert hatte oder an einer Uni war. Sie sahen durch ihn hindurch. Das Schlimmste aber war, dass er selbst manchmal auf diese Weise durch sich hindurchsah.

„Macht es dir Spaß?“, fragte Charles.

„Es verschafft mir Zeit zum Nachdenken“, sagte Lionel. „Schon krass. Früher habe ich so schnell gedacht. Manchmal, da hat es sich angefühlt, als würden in meinem Kopf sechs verschiedene Gespräche stattfinden, alle gleichzeitig. Aber jetzt brauche ich ein Jahr, um einen einzigen Gedanken zu Ende zu bringen.“

„Wenn es in meinem Kopf so aussähe, würde ich mich umbringen“, sagte Charles. „Klingt schrecklich. Scheiße.“

Die Schärfe der Worte traf Lionel direkt zwischen die Augen. Es war stickig im Zimmer. Seine Zunge fühlte sich schwer und taub an. Als er antworten wollte, blockierte etwas in seinem Hals. Er hustete, um zu sehen, ob er den Hals wieder frei bekam, aber der harte Knoten, was auch immer es war, saß fest. Er betastete seinen gespannten Hals. Seine Haut fühlte sich gerötet und warm an. Kurz dachte er an eine allergische Reaktion, dieses eigenartige Gefühl aus drängender Panik und trockenem Hals. Sein Herz hämmerte, und seine Augen tränten. Selbst die Wolle seines Pullovers kratzte und brannte auf seinen Armen. Er versuchte erneut, die Blockade in seinem Hals wegzuhusten. Er schlug sich gegen die Brust, um die Anspannung zu lösen, doch sie ließ nicht nach.

„Menschen bringen sich tatsächlich um“, stieß Lionel hervor. „Tun sie.“

„Ganz ruhig, Kumpel“, sagte Charles nervös. Er klopfte Lionel zwischen die Schulterblätter. Durch die Schläge rutschte Lionels Teller von seinem Schoß und landete mit einem lauten Klirren auf dem Boden. Der matschige, mit Dressing überzogene Grünkohl und die glitschige Avocado gaben ein trauriges kleines Häufchen ab.

Das Gerede verstummte, die Wand aus Partylärm fiel in sich zusammen, und zurück blieb nur das eigenartige Schweigen des Voyeurs und des Beobachteten. Ihre Blicke fühlten sich an wie Metallstifte, die sich ihm in die Gelenke bohrten.

„Ich brauche …“, keuchte Lionel, stand dann aber auf. Auf wackligen Beinen ging er hinter der Chaiselongue vorbei, und der Gastgeber streckte die Hand nach ihm aus. Die anderen riefen:

Alles in Ordnung mit ihm?

Also, wenn ich neben Charlie sitzen müsste …

Charles, was hast du gemacht?

Erste Tür rechts!

 

Letzten Herbst hatte Lionel versucht, sich umzubringen.

Sein Versuch war nicht gerade dezent gewesen, sodass sein Vater mit dem Flieger aus seinem Vorort von Houston und seine Mutter mit dem Auto aus ihrem Vorort von Detroit angereist waren, um dann bei ihm in Madison aufeinanderzutreffen und ihm wütend und verängstigt vorzuhalten, dass er wieder einmal schrecklich unachtsam mit sich umgegangen sei.

Er wurde ein paar Tage in der Uniklinik festgehalten. Festgehalten deshalb, weil er sie nicht aus freien Stücken verlassen durfte. Woran Lionel sich mit aller Deutlichkeit erinnerte, war der Schmerz in seinem unteren Rücken: ein heißes Pochen direkt über dem Kreuzbein, das die ganze Nacht anhielt. Der Arzt betrachtete stirnrunzelnd sein EKG. Die Krankenschwestern verbrachten viel Zeit damit, seine Atemfrequenz und seinen Blutdruck zu überwachen. Sie sagten, er solle sich beruhigen und auf die schönen Sachen konzentrieren. Sie fragten ihn, was er mache und was er studiere, sagten, er sei jung und gesund, alles sei gut, er sei in Sicherheit. Es gebe keinen Grund, solche Angst zu haben. Sein Puls blieb dennoch hoch. Irgendwann mussten sie ihm ein Beruhigungsmittel geben, und er fiel in ein weißes Nichts.

Als seine Eltern eintrafen, waren seine Augen blutunterlaufen. Er fror. Sein Vater lachte laut und sagte: Du siehst aus wie ein Penner. Der Arzt zuckte zusammen, aber Lionel wusste, dass sein Vater nur witzig sein wollte. Locker. Sein Vater war Ingenieur in der Ölbranche. Er arbeitete an einer neuen Methode zur Gewinnung von Öl aus Schiefergestein. Vor Houston war sein Vater in North Dakota gewesen, und vor North Dakota in Wyoming, und vor Wyoming war er verheiratet gewesen.

Lionels Mutter weinte, als sie ihn sah, und fragte, warum er das getan hätte, doch der Arzt unterbrach sie: So etwas fragen wir hier nicht. Das ist privat. Seine Mutter sah den Arzt an und sagte: Wenn es um mein Kind geht, ist für mich nichts privat. Und Lionel hätte am liebsten erzählt, dass seine Mutter das Schloss an seiner Tür abmontiert hatte, als er klein war, ohne es je wieder anzubringen.

Nach diesem ersten Besuch gingen seine Eltern wieder, um ihm Waschzeug und Wechselsachen aus seiner Wohnung zu holen. Der Arzt sagte, wenn Lionel nicht wolle, müsse er nicht mit ihnen mitgehen, wenn sie ihn abholen kämen. Er könne bleiben. Lionel fragte den Arzt nach den Rückenschmerzen, und der Arzt bot ihm Valium an, warnte aber, dass es abhängig mache. Da sagte Lionel: So schlimm ist es nicht. Der Schmerz sei okay. Er könne damit leben.

Ein paar Wochen später wechselte er in eine private Einrichtung in der Nähe von Detroit. Ein Teil des Klinikgeländes bestand aus großen, hügeligen Rasenflächen. Es gab Zedern und Kiefern und Spazierwege. Sie nannten es Wandern, aber eigentlich stieg man nur bis zur Spitze eines mäßig steilen Hügels hinauf und schaute auf die Klinik hinunter. Von dort oben sah man die schwarze Umzäunung der Anlage. Der eigentliche Gebäudekomplex war ein typisch modernistisches Ensemble ineinandergeschachtelter Klötze, hier und da mit einem Hauch von Holz verkleidet. Es war die Art von Moderne, die der Geschichte und Zeit feindlich gegenübersteht, scheinbar ohne Präzedenz und dennoch absolut referenziell, was fast schon öde war. Die Art von Gebäude, die man so oft sieht, dass sie zu einem visuellen Klischee für Geld, Komfort und ästhetisches Bewusstsein geworden ist.

Lionel hatte Albträume, in denen er durch einen Lüftungsschlitz fiel, und er erwachte dann jedes Mal in einem anderen Traum, in dem er unter einer dicken Eisschicht gefangen war. Er glitt durch aufeinanderfolgende Schichten von Träumen immer weiter hinab, erwachte in immer gruseligeren Situationen, bis er schließlich aus einem unwahrscheinlich hohen Feuer aufschreckte. Oder aus einem Traum, in dem er von Wölfen gejagt wurde oder sich am Fuß eines ausbrechenden Vulkans im Wald verirrt hatte. Weil sein Herz so raste, geriet er schon vom Aufstehen außer Atem. Die meiste Zeit las er oder lag still unter der Gewichtsdecke, die seine Mutter ihm mitgebracht hatte. Nach ein paar Wochen bekam er die Erlaubnis, das Fenster zu öffnen. Eine Pflegerin entriegelte es und erklärte ihm, dass es kein Fliegennetz gebe, er im Frühling also aufpassen müsse wegen der Mücken. Die filigranen Sicherheitsgitter säßen bombenfest. Es sei denn, Sie legen es wirklich drauf an, sagte die Pflegerin zwinkernd. Selbst diese Gitter wirkten durchdesignt. Die Optik. Das Material. Der Verriegelungsmechanismus, der verhinderte, dass man sie entfernte. Alles war darauf ausgelegt, nicht bedrohlich zu wirken. Ein Mut machender Käfig, dachte Lionel. Die Leute sollten sich durch ihr Gefangensein gestärkt fühlen.

Er war sechs Monate da, dann ließ man ihn gehen. Seine Mutter schlug vor, dass er bei ihr blieb, doch Lionel wollte in sein Leben zurückkehren, zu seiner Forschung. Er wollte wieder er selbst sein.

In Madison ging es ihm den Frühling und Sommer über okay. Er hatte einen Arzt, eine feste Struktur. Sein Urlaubssemester würde bald enden, und im neuen Semester würde er wieder ins Doktorandenprogramm einsteigen.

Er war noch nicht wieder er selbst, aber auf bestem Wege dahin.

Vor ein paar Wochen dann hatte ihn auf der Straße ein glasklares Bild überwältigt. Aus heiterem Himmel sah er, wie er vor ein Auto sprang und sich auslöschte. Am Tag darauf wies er sich selbst zur Überwachung in die Uniklinik ein. Als das Gefühl der Gefahr vorbei war und er nicht mehr glaubte, dass er sich etwas antun würde, ging er nach Hause. Und da hatte die Einladung des Gastgebers auf ihn gewartet. Wie ein Ruf aus der Welt, der er den Rücken gekehrt hatte.

Menschen versuchten tatsächlich, sich umzubringen – den einen gelang es, den anderen nicht.

 

Im Bad des Gastgebers versuchte Lionel runterzukommen. Sein Puls pochte in seinen Oberschenkeln, und es fühlte sich so heftig an, dass er sicher gleich vom Toilettenrand rutschen würde. Von der Bewegung wurde ihm schwindelig. Es kotzte ihn an, dass er sich von Charles’ beiläufiger, herablassender Bemerkung hatte lahmlegen lassen. Er hatte sich von ihr bezwingen lassen, aber was noch schlimmer war: Er hatte sich anmerken lassen, wie sehr sie ihm zu schaffen machte. Lionel stand auf, beugte sich über das Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Griffe des Wasserhahns quietschten, dann kam ein unruhiger, ängstlicher Strahl. Er trank aus der hohlen Hand und versuchte, seinen Puls zu senken. Das Wasser schmeckte ein wenig seifig, und der Schwindel blieb. Dieses schwankende, taumelige Gefühl, so als würden ihm jeden Moment die Beine wegknicken.

Es klopfte fest an die Tür.

„Zwei Minuten“, rief Lionel. Er drehte noch einmal den Wasserhahn auf, damit die Person draußen glaubte, er würde sich die Hände waschen. Seine Mutter hätte ihm gesagt, er solle sich die Haare kämmen, und sie hätte gesagt, dass er die schlechte Angewohnheit habe, Weißen zerzaust und derangiert entgegenzutreten. Wenn sie ihm damit kam, wollte er jedes Mal erwidern, dass Weiße einfach nur Weiße seien, obwohl er wusste, dass diese Aussage naiv und dumm war, denn Weiße waren eben nun mal Weiße. In der Klinik hatte seine Mutter ihm erzählt, dass seine Tanten und Onkel „zu Hause im Süden“ – das sagte sie immer, wenn sie von ihrer Heimatstadt im Osten von Georgia sprach – der Meinung seien, sein gegenwärtiger Zustand rühre daher, dass er in der Schule und im Mathecamp mit den ganzen weißen Kids herumgezogen sei. Seine Tanten und Onkel ordneten seinen Wunsch, sich umzubringen, als eine Folge all der Dinge ein, die ihnen nicht gefielen oder die sie nicht verstanden: wie er redete, wie er die Dinge sah. Sie gaben seinem Vater und dessen Art die Schuld daran.

Es war dumm.

Es war sinnlos.

Niemand hatte Schuld.

Es war einfach passiert.

Als er die Tür öffnete, sah er nicht gleich, dass da jemand stand. Erst als er hinaus in den schmalen Flur trat, der mit Fotos des Gastgebers und seiner Familie gesäumt war, sah er Charles mit geschlossenen Augen an einer Tür lehnen.

„Alles gut?“, fragte Charles.

„Das sollte ich wohl eher dich fragen.“

„Ich wollte gar nicht herkommen.“

„Und warum bist du’s dann?“ Lionel lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Ihm direkt gegenüber hing ein Foto des Gastgebers als Kind mit euphorisch zurückgeworfenem Kopf. Er sah glücklich aus. Zufrieden. Neben einem großen Busch stand eine Frau in weißen Shorts mit leerem Blick.

„Wegen Sophie“, sagte Charles. „Sophie wollte unbedingt her.“

„Welche ist das?“

„Die Blonde.“

Lionel drehte sich so weit um, dass er durch die Küche ins Wohnzimmer schauen konnte.

„Die Gelenkige?“

Charles nickte. Er drückte sich von der Tür ab und lehnte sich an die Wand. Das Küchenlicht fiel durch den Türrahmen zu ihnen in den Flur und trennte sie voneinander.

„Es ist schön, dass ihr Dinge füreinander macht“, sagte Lionel.

„Eben bin ich voll ins Fettnäpfchen getreten.“

„Ich bin noch ganz. Du darfst gern mit heilem Gewissen weitermachen.“

„Ach, komm schon, du kannst mir ruhig sagen, dass ich Scheiße gebaut habe.“

„Meiner Erfahrung nach will niemand hören, dass er Scheiße gebaut hat.“

„Wir sollten wieder reingehen.“

„Wir?“ Lionel schüttelte den Kopf. „Du kannst machen, was du willst. Ich bleibe lieber noch ein bisschen hier.“

Charles seufzte. So wie er da mit der Wange an der Wand lehnte, wirkte er fast hilflos. Lionel spiegelte ihn, drehte sich zur Seite und legte die Wange an den kalten Putz.

„Was dagegen, wenn ich bleibe?“

„Wie du willst. Ist nicht meine Wohnung“, sagte Lionel, aber dann sah er es: Charles war erleichtert. Auch er war schüchtern.

„Okay, Mister Cool.“

Lionel spürte, wie sich ihr Atem anglich. Sie hielten den Blick des anderen, bis es langsam absurd wurde, aber es war nicht komisch oder unangenehm. Lionel war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie einander überhaupt noch sahen. Er hatte das Gefühl, leicht zu schielen, sodass von Charles nur verschwommene Bruchstücke übrig blieben. Es war ein weiterer Moment gemeinsamen Abseitsstehens. Er und Charles waren zu ihrem eigenen Tempo zurückgekehrt, nur sie beide. Lionel fühlte sich frei von den Erwartungen anderer, wie er sich zu verhalten und zu sein hatte. Er fühlt sich frei von seinen Erwartungen an sich selbst.

Er empfand Milde, nicht mehr und nicht weniger.

Sie kehrten zu den anderen zurück. Charles blieb hinter Sophie stehen. Sie strich ihm über die Arme. Der Gastgeber griff wieder nach Lionels Hand und zog ihn zu sich.

„Alles gut?“ Lionel setzte sich auf die Lehne der Chaiselongue. Die Hände des Gastgebers waren noch fettig vom Abendessen, seine Beine ruhten auf den Oberschenkeln des Pärchens. Die beiden saßen jetzt nach vorne gebeugt, führten jeder eine eigene Unterhaltung mit der androgynen Person und redeten in einem Wirrwarr aus Anspielungen auf Dostojewski und Planned Parenthood übereinander hinweg:

„Die Leute meinen zwar, dass sie Tolstoi besser finden, aber im Grunde ist Tolstoi doch J. K. Rowling. Das eigentliche Genie ist Dostojewski.“

„Ich meine, wir stehen so kurz davor, dass uns komplett die Gelder gestrichen werden. Scheiße, Leute, dann trinkt halt mal einen Latte weniger und spendet was.“

„Okay, also probiert hab ich es ja schon. Womit fange ich denn am besten an?“

„Ja, klar, aber einer allein richtet gar nichts gegen den amerikanischen Imperialismus aus, die politische Maschinerie ist einfach zu gigantisch.“

„Ganz ehrlich, jemandem sagen zu wollen, mit welchem Buch er oder sie bei einem Autor anfangen soll, ist die Vorstufe zum Faschismus.“

„Die wollen, dass man genau das denkt. Ich meine, stell dir mal vor, Martin Luther King wäre einfach zu Hause geblieben, weil es schwer war.“

„Ich persönlich finde Verbrechen und Strafe besser, aber hey, was weiß ich schon?“

„Mir geht’s gut“, sagte Lionel. „Hab mich nur letzte Woche erkältet.“

„Du bist aber nicht ansteckend, oder?“, fragte jemand. Lionel schaute auf und sah, dass es der dicke Mann von vorhin war, der neben Sophies Stuhl auf dem Boden saß. „Ist ja gerade Grippesaison.“

„Ich glaube nicht, dass es ansteckend ist“, sagte Lionel.

„Gut, denn mein Immunsystem ist nicht so toll, mal abgesehen davon, dass es sozial verantwortungslos wäre, unter Leute zu gehen, wenn man sich nicht gut fühlt.“

„Oh, sozial verantwortungslos, jetzt geht’s aber los“, sagte der Gastgeber und strich Lionel mit seinen fettigen Händen über den Rücken.

„Das ist nicht witzig. Schließlich ist nicht jeder mit einem robusten Immunsystem ausgestattet, und …“

„Vielleicht solltest du mehr Gemüse essen und mal ins Fitnessstudio gehen“, sagte der Gastgeber hämisch. Lionel saß in der Zwickmühle. Der Mann war nervig, der Gastgeber aber unnötig gemein, was ganz offensichtlich daran lag, dass sein Gegenüber fett war und er ihn nicht attraktiv fand.

„Tatsächlich ist nicht erwiesen, dass eine pflanzliche Ernährung signifikanten Schutz vor Infektionen durch virale Vektoren bietet.“

„Ja, na klar, absolut“, erwiderte der Gastgeber strahlend und sah sich auf der Suche nach Verbündeten um. Und da es seine Party war und seine Wohnung, pflichteten die Leute ihm bei, lächelten gequält und murmelten zustimmend. Der Mann auf dem Boden errötete, zuckte dann aber mit den Schultern.

„Wo wir gerade von Gemüse reden – ich mach wohl mal besser meinen Dreck weg“, sagte Lionel.

„Nein, bleib hier“, jammerte der Gastgeber.

Lionel ging zum Kamin, aber irgendwer hatte seinen Teller und das Essen schon weggeräumt. Auf dem abgewetzten Holzfußboden war nur noch ein schmieriger Streifen zu sehen. Am anderen Ende des Zimmers hatte Charles die Arme um Sophie gelegt. Die beiden schauten zu ihm herüber. Charles hatte sich zu ihr heruntergebeugt, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, und Lionel bemerkte, wie sich ihre Augen leicht verengten. Doch dann wandte Sophie sich um und flüsterte etwas zurück, und wie es aussah, kicherten die beiden. Lionel wünschte sich, das Essen hätte noch vor dem Kamin gelegen. Dann hätte er jetzt wenigstens etwas mit sich anzufangen gewusst. Stattdessen richtete er sich wieder auf und ging in die Küche. Vielleicht konnte er sich nützlich machen, schon mal mit dem Abwasch anfangen.

Charles folgte ihm, und plötzlich standen die beiden an der Spüle. Auf einem Teller lagen noch mehr von den kleinen gebratenen Fischen. Charles nahm sich einen und knabberte an den knusprigen Flossen.

„Das hättest du nicht tun müssen“, sagte Lionel. „Ich hätte es selbst sauber machen können.“

„Ich fand, es war zur Hälfte auch meine Sauerei.“

„Sophie wirkt nett.“ Lionel hielt einen Plastikbecher unter den Wasserhahn. Die Spüle war so voll, dass ihm die Lust zu helfen vergangen war. Ihm war der Mut abhandengekommen, oder sein karitativer Impuls, oder beides.

„Sie ist anders“, sagte Charles.

Lionel wollte Charles gerade fragen, warum er ihm in die Küche gefolgt war und warum er so dicht vor ihm stand, als der Gastgeber um die Ecke kam. Er wirkte ein wenig überrascht, die beiden zusammen anzutreffen, erholte sich jedoch, wie eine Katze mitten im Fall ihr Gewicht verlagert, und fasste an Charles vorbei, um die Kühlschranktür zu öffnen.

„Habt ihr Jungs Lust auf Wein?“

„Ich nicht“, sagte Charles und strich sich abwehrend über den Hals.

„Ich ja“, sagte Lionel. Der Gastgeber nahm eine Flasche Rosé-Champagner aus dem Kühlschrank, griff nach unten und zog direkt vor Lionels Schritt eine Schublade auf. Er nahm eine Küchenschere heraus und zwinkerte Lionel zu, bevor er die Schublade wieder zustieß und dabei mit dem Daumen über Lionels Schwanz fuhr.

Lionel zuckte zusammen, auch wenn die Berührung kurz war. Irgendwie fühlte sie sich bedrohlich an. Oder verheißungsvoll.

Der Gastgeber riss den Draht vom Korken und zog ihn mit einem Ploppen heraus, bei dem Lionel das Wasser im Mund zusammenlief. Fast konnte er den Champagner schon schmecken. Charles machte Platz, kaute seinen Fisch und sah zu, wie der Gastgeber Lionel mit großem Getue ein Glas einschenkte.

„Prost“, sagte der Gastgeber.

„Prost.“

„Willst du mir gratulieren?“

„Klar. Glückwunsch. Wozu?“

„Zu meiner Verteidigung. Die ist nämlich noch vor den Ferien“, sagte er. „Ich bin ein freier Mann.“

„Das erklärt die Party“, antwortete Lionel.

Der Gastgeber nickte, während er den Champagner für sich selbst in ein Einmachglas goss. Sie stießen an.

„Glückwunsch. Du hast es verdient.“ Der Gastgeber lächelte. Er hatte derart weiße und gerade Zähne, dass sie sehr teuer gewesen sein mussten. Der Rosé schmeckte gut, wenn auch irgendwie metallisch. Andererseits hatte Lionel keine Ahnung, was guten Champagner ausmachte. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, obwohl der Wein kühl und knackig war. Es war ihm ein wenig peinlich, wie sehr der Gastgeber nach Aufmerksamkeit gierte und wie deutlich er es zeigte. Lionel dachte, dass er an seiner Stelle nicht so notgeil gewesen wäre. Bei so viel Glück, so viel Erfolg, hätte er sich zurückgehalten. Er hätte seinen Erfolg entspannt genossen. Aber wer siegt, darf entscheiden, wie er feiern will. Und alle anderen müssen mitmachen, sonst sind sie miese Verlierer.

Lionels Ärzte hatten versucht, ihm abzugewöhnen, dass er sein Selbstbild von Dingen wie Erfolg abhängig machte, oder von dem, was andere Leute über ihn dachten. Sie hatten versucht, ihm dabei zu helfen, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Aber in diesem Moment spürte er, wie sein altes Ich den Kopf aus dem Wasser streckte und ihn mit funkelndem Blick verurteilte.

„Tummelst du dich schon auf dem Arbeitsmarkt?“, fragte Charles. Seine Stimme dröhnte, und Lionel kam wieder einigermaßen ins Gleichgewicht.

„Ja“, sagte der Gastgeber. „Ich habe ein paar Vorstellungsgespräche.“

„Ist was Gutes dabei?“ Charles zog die Augenbrauen hoch, als wüsste er, was gut sei, aber Lionel nahm an, dass dem nicht so war. Denn das wusste keiner. Unter anderem deshalb, weil es gut für Mathematiker nicht gab. Entweder man bekam eine Stelle an einer Uni, oder man arbeitete als Consultant. Wenn man Glück hatte. Wenn nicht, gab man Kurse an drei Community Colleges und beackerte in den dunklen Randstunden des Tages den kleinen Zipfel des Universums, den man sich im Studium erkämpft hatte, nur mit weitaus weniger Mitteln und Zeit. Und dann wurde das Licht der eigenen Zukunft mit jedem Jahr schwächer und schwand wie ein ferner Stern. Am Ende erzählte man den Leuten, dass man früher mal mit einem Nobelpreisträger studiert hatte. Und dass man früher mal bei derselben Konferenz wie Terry Tao einen Vortrag gehalten hatte. Und dass man früher mal für die Fields-Medaille nominiert worden war. All das, während die Leute im selben Doktorandenprogramm eine atemberaubende Karriere hinlegten und die großen Mysterien des Universums lösten. Die Kommilitonen überholten einen, bis man sich kaum noch daran erinnern konnte, wie sie gewesen waren, als man an einem verschneiten Herbstabend mal in ihrer Küche gestanden und mit ihnen auf ihren Abschluss angestoßen hatte.

Lionel war klar, und dem Gastgeber war klar, und womöglich auch Charles war klar, dass es sich hier nur um höfliches Partygeplänkel handelte. Doch dadurch fühlte Lionel sich noch schlechter. Er nippte an seinem Glas, und ein kalter, grausamer Teil von ihm wünschte sich, dass der Gastgeber seine Verteidigung in den Sand setzen würde. Schnell überpinselte Lionel den Gedanken mit einem kräftigen weißen Strich.

Der Gastgeber öffnete leicht die Lippen, und seine teuren Edelzähne blitzten im Küchenlicht auf. Im Wohnzimmer ging die Party weiter. Stimmen schwollen an und ebbten ab. Und jemand rief nach dem Schampus.

„Ja“, sagte der Gastgeber langsam. Er legte Lionel die Hand auf den unteren Rücken, beugte sich vor und küsste ihn. Seine Lippen fühlten sich warm an wie die eines Tieres. Erschreckend warm. Als hätte er Fieber. Der Gastgeber löste sich von ihm und zwinkerte Charles zu. „Vielleicht erzähle ich dir irgendwann die ganze Geschichte.“ Dann wandte er sich um, hob die Flasche über den Kopf und posierte damit in der Tür.

Man hörte lautes, schrilles Gejohle. Charles wandte sich an Lionel.

„Alles okay?“

Lionel stellte sein Glas auf der Arbeitsplatte ab. Der Gastgeber trat unter Jubel aus der Küche, und Lionel ließ sich zu Boden gleiten. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Küchenschrank. Charles setzte sich ihm gegenüber, aber als er in die Hocke ging, zuckte er zusammen und stöhnte vor Schmerz auf.

„Ich weiß, wie das ist“, sagte er.

„Was?“

„Bei mir im Programm sind auch ein paar Arschlöcher.“

Lionel nickte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, er ist kein Arschloch. Er ist ein Ausnahmetalent.“

„Das muss kein Widerspruch sein.“

„Aber hat man als Ausnahmetalent nicht das Recht, ein Arschloch zu sein?“

„Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimme“, sagte Charles. „Aber die meisten denken das offenbar.“

„Vielleicht wäre ich auch ein Arschloch, wenn ich kein Urlaubssemester eingelegt hätte. Wenn ich früher als alle anderen meinen Abschluss machen würde.“ Aber dann gefiel Lionel nicht, wie bitter er klang, auch weil es sich anfühlte, als würde er dem Gastgeber zu viel Aufmerksamkeit und Macht über sich gewähren. „Ach egal, ist schon gut.“

Der Wind, der durch das Fliegengitter drang, traf kalt auf seinen Nacken. Charles lehnte den Kopf an die Schublade hinter ihm.

„Es ist okay, wütend zu sein“, sagte er.

„Wütend auf was?“

„Auf dein Leben.“ Charles streckte behutsam das Knie durch und strich dann mit der flachen Hand darüber.

„Verletzt?“

„Überbeansprucht. Keine große Sache.“

Es brauchte nicht viel Fantasie, um zu sehen, wie Charles sich übernommen hatte. Zu einem Körper wie seinem kam man nur unter großem persönlichen Einsatz. Diese Art von gutem Aussehen ließ sich nicht mit einem normalen Leben vereinbaren. Eine Attraktivität, die nur Leute im Fernsehen oder mit Tausenden von Followern in den sozialen Medien besaßen. Aber Charles sah auch gequält aus. Dieses Viel an Körper hatte ihm etwas abverlangt.

Lionel verstand das. Er kannte den Preis für das Leben, das man wollte. Wie es einen einholen konnte. Seinen Lohn einforderte.

Der Küchenboden knarrte, und beide schauten zur Tür. Es war Sophie, die zu ihnen hinuntersah. Ihr Blick huschte von Lionel zu Charles zu seinem Knie.

„Sollen wir gehen?“, fragte sie.

„Alles gut“, sagte er. „Wir können bleiben.“

„Vielleicht ist es besser, wenn wir zu Hause Eisspray draufmachen.“

Charles holte tief Luft und sagte dann scharf: „Ich bin keine Pussy.“

„Oh, Brother“, sagte Sophie. Sie öffnete den Gefrierschrank und steckte ihren Kopf hinein, als hätte sie das schon tausendmal gemacht. Im nächsten Moment hielt sie Charles ein blaues Kühlpack hin.

„Was soll ich mit dem Scheiß?“, fragte er.

Ihre Augen verengten sich wieder, diesmal fixierte sie Lionel. Sie ließ das Kühlpack fallen, und es drehte sich auf dem Boden wie eine hilflose Schildkröte. Alle drei sahen zu, wie es immer langsamer wurde und schließlich liegen blieb.

„Vielleicht kann dir dein neuer Freund ja helfen“, sagte sie.

„Bleib cool, Sophie.“

„Du bist so ein Egoist.“

„Du wolltest hierher. Hier bin ich.“

Sophie schwieg und sah ihn noch einen Moment lang an. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, und Lionel konnte endlich ausatmen. Während des gesamten Wortwechsels hatte er die Luft angehalten. Er hatte gesehen, wie sie sich angefletscht hatten. So war es also, wenn man mit jemandem zusammen war? So war es, wenn der andere einem etwas bedeutete?

Steif stand Charles auf. Lionel hörte, wie sein Knie knackte.

„Na, was habe ich gerade über Arschlöcher gesagt?“, fragte Charles und ging dann kopfschüttelnd aus der Küche.

Lionel trank den Rest seines Champagners in aller Ruhe aus. Er tippte das Kühlpack an und ließ es erneut kreiseln. Als es zum Halten kam, schickte er es in die andere Richtung.

 

Alle gingen hinaus in den Garten, obwohl es angefangen hatte zu schneien; zu sehen gab es dort eigentlich nichts, bis auf den durch die Bäume dringenden Schein der Laternen und das grelle blaue Licht vom Schuppen des Nachbarn.

Ein Joint, den irgendwer mitgebracht hatte, ging herum.

„Analoges Dampfen“, sagte der Gastgeber. „Geil.“

Lionel steckte die Hand über das Geländer der Veranda und fuhr durch die dicken Schneeflocken, die durch die Nacht zu Boden schwebten. Ihre Zartheit, wie sie einfach so schmolzen, brachte ihn fast zum Weinen.

Der Gastgeber roch nach Alkohol und Gras, süßlich und ein bisschen streng. Er hockte sich neben Lionel, und ihre Schultern berührten sich.

„Hast du Lust, heute hier zu schlafen?“, fragte der Gastgeber. „Damit wir gebührend feiern können.“ Lionel wusste, dass er meinte: Hast du Lust auf Sex? Er stellte die Frage so laut, dass die Umstehenden sie hören konnten, aber so leise, dass kein Zweifel bestand an der Ernsthaftigkeit seines Angebots. Lionel schaute in die Gesichter der anderen und fragte sich, wie sie wohl reagieren würden, wenn er zustimmte.

„Hm“, sagte er stattdessen. In diesem Moment – ihre Gesichter dicht beieinander, in seinen Haaren der Geruch nach Rauch – spürte Lionel, dass er unter anderen Umständen leicht hätte Ja sagen und sich in die Tiefe ziehen lassen können. Und sei es nur wegen der Möglichkeit, dass das Glück und das gute Leben des Gastgebers auf ihn hätten abfärben können.

Charles setzte sich auf einen Hocker, und Sophie schmiegte sich von hinten an ihn an. Sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt, aber ihr Blick ruhte auf Lionel. Nicht dass sie ihn offen angelächelt hätte. Nein, das nicht. Aber in ihrem Ausdruck lag etwas Warmes. Im Licht der Veranda leuchtete sie. Charles streichelte ihren Arm. Sie könnten ewig so weitermachen, dachte Lionel. Sie wussten, wie sie miteinander umzugehen hatten. Wie es miteinander ging. Diese Sache in der Küche war ein Ausreißer gewesen, oder vielleicht nur das Vorspiel zu dieser Zärtlichkeit.

Sophie gab Charles einen Kuss auf den Kopf und löste sich von ihm. In ihrer dicken grauen Strumpfhose und dem Cordrock setzte sie sich neben Lionel. Sie trug eine lila Jacke um die Schultern und eine grüne Mütze auf dem Kopf, die irgendwer für sie gestrickt hatte. Als sich alle fertig gemacht hatten, um nach draußen zu gehen, hatte sie die Mütze herumgezeigt, sichtlich stolz darauf, als sei es ein Familienerbstück.

„Das ging ja vorhin hoch her zwischen Charlie und dir. Aber wie ich sehe, habt ihr euch wieder versöhnt.“

Sie stützte den Kopf in die Hand. Charlie.

„Ja“, sagte Lionel. „Wir sind jetzt alte Freunde.“

Im Licht der Veranda verzog sich Sophies Gesicht ganz leicht, was Lionel an eine Figur aus der Welt der Mythen oder einen düsteren Horrorfilmtrailer erinnerte. Charles beugte sich auf dem Hocker nach vorn und stemmte die Arme gegen das Geländer. Im Garten waren die anderen dabei, sich langsam im Kreis zu drehen, den Kopf im Nacken und die Arme weit ausgebreitet, als wären sie Jesus.

„Er weiß, wie man Spaß hat“, sagte Sophie.

„Ich fürchte, ich bin überfordert. Oder einfach zu betrunken für dieses Gespräch.“

„Ich meine … Er nimmt nicht immer Rücksicht auf andere Menschen.“ Es lag eine gewisse Belustigung in ihrer Stimme, als sie das sagte, und Lionel entspannte sich. Sie rutschten an der Hauswand zusammen. Lionel bekam wieder Luft. Sophie bot ihm ihren Becher an, und als er zögerte, sagte sie: „Ist nur Wasser.“

„Na, wenn das so ist“, antwortete Lionel. Das lauwarme Wasser schmeckte leicht nach Bier – irgendwer hatte den Becher vor dem Eingießen wohl nur halbherzig oder gar nicht ausgespült. Aber schon nach dem ersten Schluck merkte er, wie unendlich durstig er war. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu trinken. Das Wasser strömte nur so in seinen Mund und seine Kehle hinunter, wo es im Nichts zu verrinnen schien. Er trank weiter, um seine trockene Zunge zu befriedigen, und mit einem Mal hatte er Sophie das ganze Wasser weggetrunken. Ihr Blick drückte entweder Erstaunen oder Genervtheit aus. „Tschuldigung.“

„Die Stunde des Dursts ist gekommen.“

Lionel bot ihr an, den Becher wieder aufzufüllen, aber sie zuckte nur mit den Schultern und sagte, das sei schon in Ordnung. Sie hatte eine dünne Decke mit auf die Veranda genommen und legte sie ihnen über die Beine.

„Tut mir leid, falls ich scheiße zu dir war“, sagte sie. „In der Küche.“

„Warst du nicht.“

„War ich doch, aber danke. Ich hasse es einfach, wenn Leute nicht ehrlich sagen, wie es ihnen geht.“

„Dann musst du dauernd zu irgendwem scheiße sein.“

„Ich halte mich für einen ehrlichen Menschen.“

„Bestimmt schön, wenn man so ein starkes Selbstwertgefühl hat.“

Lionel spürte, wie die Außenverkleidung des Hauses leicht nachgab, als Sophie ihm den Kopf zuwandte. Gleichzeitig spürte er ihre Schulter an seinem Arm.

„Also, das war jetzt wirklich scheiße“, sagte sie.

„Ich habe ein paar harte Wochen hinter mir.“

Eine Art Hitze wanderte zwischen ihnen hin und her. Ein animalisches Erkennen. Sophie hatte blaue Augen. Ihre Haare waren blondiert, glänzten aber und sahen gesund aus. Ihre Lippen waren voll und weich, und an ihrem Kinn entdeckte Lionel eine kleine Narbe. Das Gefühl war ungewohnt – beziehungsweise, nein, es war vertraut, aber normalerweise empfand er es Frauen gegenüber nicht. Es war kein Begehren, wie er es verstand oder erinnerte, nicht ganz, nicht das Begehren, Sex mit Sophie haben oder sie nackt sehen zu wollen. Er wollte nur die Hand ausstrecken, sie berühren und von ihr berührt werden. Er wollte spüren, wie sie sich an ihn lehnte. Sie wirkte absolut ruhig, und er hatte das Gefühl, dass er ihr alles hätte erzählen können, wenn sie ihn gefragt hätte. Die Verandabretter unter ihren Füßen waren kalt, der Wind pfiff hindurch. Sophie fröstelte und schaute zu Charles, setzte dem Moment ein Ende.

„Charlie hat gesagt, dass du Prüfungen beaufsichtigst.“

„Ja – für die Universität. Allerdings nur ein paar Tage die Woche.“

„Das ist cool“, sagte Sophie, und Lionel rollte mit den Augen. Solche Kommentare machte man, wenn man überspielen wollte, dass man jemanden langweilig fand. Sie waren also doch zu dem belanglosen Partygeplauder zurückgekehrt, bei dem man banale Informationsbrocken hin und her schob wie ungewolltes Essen auf einem Teller.

„Und was machst du?“

„Oh, ich tanze. Seit ich fünf bin. Es ist das Einzige, worin ich gut bin. Man verdient null Geld damit, aber hey.“

„Das ist was Echtes. Tanz. So richtig was Echtes. Das ist Kunst.“

„Klar, ja. Danke“, sagte sie. „Charlie ist übrigens auch Tänzer.“

„Ach echt?“, fragte Lionel. Plötzlich ergab dieser Körper Sinn.

„Wir sind an der Uni.“

„Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Um die acht Monate. In so was bin ich echt schlecht.“ Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Charles schaute über die Schulter hinweg zu ihnen herüber. Sophie winkte ihn ran, aber Charles schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Garten zu.

„Das ist lange“, sagte Lionel. Acht Monate waren eine Ewigkeit. In acht Monaten konnte ein Leben eine ganz andere Richtung nehmen. Oder komplett zu Ende gehen.

„Findest du?“, fragte Sophie. „Kommt mir nicht so vor. Aber anscheinend verfliegt die Zeit.“

„Ja. Tut sie nur dann nicht, wenn man es will.“

Sophie sah ihn skeptisch an. „Was willst du damit sagen?“

„Nichts. Also, jedenfalls nichts über euch“, entgegnete Lionel.

Sophie beobachtete ihn noch einen Tick länger, und es sah aus, als würde sie über etwas nachdenken. Sie sagte: „Er hat recht. Es ist schwierig, mit dir zu reden.“

Lionel spürte einen Schauer, Freude und Unbehagen, die sich aneinander rieben. Es war ihm gar nicht aufgefallen, als sie die Prüfungsaufsicht ins Spiel gebracht hatte, aber nun wurde ihm klar, dass sie über ihn gesprochen hatten. Lionel ging durch, was Sophie gesagt und getan hatte, seit sie nebeneinandersaßen, suchte nach einem Subtext. Aber da war nichts. Nur das Klirren ihrer Stimme und die Wärme ihres Körpers neben ihm. Ihre Hand lag auf seinem Handgelenk und wanderte nach unten, bis sie seine ganz umschloss. Selbst unter der Decke hatte sie kalte Hände, ein wenig rau, aber kräftig. Sie schob ihre Finger zwischen seine und schaute ihm in die Augen. Lionel wollte die Hand wegziehen, aber er tat es nicht.

„Menschen sind schwierig“, sagte er.

„Wenn das mal nicht so richtig introvertiert klingt.“

„Wenn ich so richtig introvertiert wäre, wäre ich zu Hause geblieben. Was klüger gewesen wäre.“

„Das glaubst du wirklich, oder?“, sagte sie aufrichtig erschrocken. „Du musst echt Angst vor dir haben.“

Lionel fröstelte. Er zog seine Hand zurück. Das war auch gut so, denn Charles riss ihnen die Decke von den Beinen und warf sie sich wie einen Schal um die Schultern.

„Ein paar von uns frieren sich hier draußen die Eier ab“, rief er.

„Ich wollte dich animieren, dich zu uns zu setzen“, sagte Sophie.

„Ich hatte keine Lust“, sagte Charles schmollend.

Sophie stieß einen tiefen, herablassenden Laut aus und seufzte übertrieben mitleidsvoll. Charles schob die Unterlippe vor.

„Natürlich nicht“, sagte Sophie, diesmal ohne Spöttelei. Charles zog die Schmolllippe wieder ein, und plötzlich entstand ein angespanntes Schweigen zwischen ihnen.

„Ich würde jetzt aufhören, wenn ich du wäre“, sagte er.

„Träum weiter.“

„Sophie“, zischte Charles. Seine Augen blitzten, und seine Schultern strafften sich leicht.

Im Garten sprangen die Leute inzwischen herum und klatschten und sangen. Der Gastgeber stand auf, beugte sich über das Geländer und rief ihnen etwas zu. Der Schnee fiel nun in dichten Flocken. Und alle johlten. Charles warf den Kopf in den Nacken und stieß einen kräftigen, klangvollen Schrei aus. Lionel sah, wie sich seine Halsmuskeln spannten. Sein Gesicht rot wurde. Er schrie am längsten. Lionel fühlte sich durchdrungen von diesem Laut.

Als sie alle wieder nach drinnen gingen, raus aus der Kälte, hörte er den Schrei noch immer.

 

Im Flur verabschiedete sich Lionel von allen. Der Gastgeber umarmte ihn lange, schob ihm die Hand unter das Hemd und sagte: „Ich will, dass du bleibst.“

„Nächstes Mal“, flüsterte Lionel. Auch Sophie umarmte er kurz. Sie tauschten Nummern aus und versprachen einander, sich in den kommenden Tagen zum Mittag zu verabreden. Charles packte fest seine Hand und zog ihn an sich.

„Man sieht sich, Lionel“, sagte er.

„Tschüss, Charlie“, raunte Lionel ihm ins Ohr und überraschte sie damit beide.

Aufgekratzt, wie er war, beschloss er, zu Fuß nach Hause zu gehen. Der letzte Bus war ohnehin längst weg, und die Entfernung nicht weiter dramatisch. Er hatte nur kurz am Joint gezogen, hatte nur das eine Glas Champagner intus. Er schwebte auf einer warmen Wolke.

Lionel wohnte in der Hancock Street, also nahm er die Abkürzung durch den Orton Park. Der Spielplatz lag ein wenig traurig und gespenstisch da. Die Schaukeln bewegten sich im Wind. Am Aussichtspavillon blinkten weißblaue Lichter, der Schnee hatte sich bis zu den Sitzflächen der Bänke aufgetürmt.

Die Straßenzüge und ihre bunt zusammengewürfelten Häuser. Queen Anne, Modernismus und Dutch Colonial, alles durcheinander, Seite an Seite. In seinem ersten Jahr als Doktorand hatte er mit einem Freund einen Spaziergang durch eines der Viertel auf der East Side gemacht, und dieser Freund aus Dänemark hatte immer wieder gesagt: An dem einen Ende habt ihr Türmchen und an dem anderen Frank Lloyd Wright. Das ergibt null Sinn. Null Flow. Nachts ergaben die Häuser aber doch irgendwie Sinn. Als fügten sie sich in einen gemeinsamen Kontext.

Das Partygeplänkel fehlte Lionel fast, das Reden mit Sophie und Charles. Charlie. Entspannt hatte es sich nicht unbedingt angefühlt. Aber durchaus gut. Sich mit ihnen ein bisschen zu kabbeln, hatte ihn vergessen lassen, was ihn in seiner Wohnung erwartete: das Geschirr in der Spüle. Die zurückgelassene Wäsche. Der Staub, der sich auf alle seine Sachen gelegt hatte. Noch nicht so lange – erst seit anderthalb Wochen –, aber trotzdem. Als er aus der Klinik zurückgekehrt war, war ihm die Wohnung muffig und fremd vorgekommen. Als gehörte sie jemand anderem. Schuld war das Wasser in der Spüle gewesen, das wusste er. Das verkrustete Geschirr und die aufgeweichte Pasta.

Sein Handy vibrierte, und er warf einen Blick auf das Display. Die Nummer sagte ihm nichts.

wo bist du?

 

Lionel schaute die lange graue Straße hinab. Die kleinen Häuser wurden weniger und wichen Wohnblocks aus Backstein. Er war in der Nähe des State Capitols, aber nicht direkt auf dem Platz. Der Saum seiner Jeans war durchnässt, seine Socken durchweicht. Vor ihm türmte sich der Schnee. Er sah sich um, las die Namen der Querstraßen und merkte, dass er fast zu Hause war. Offenbar war er seit fünfzehn Minuten unterwegs, ohne irgendein Gefühl für die Zeit. Er simste der unbekannten Nummer seinen Standort und verspürte einen rauschhaften, albernen Mut.

Sein Handy vibrierte erneut:

bin unterwegs

 

Das war anders. Das war keine Frage, sondern eine Antwort. Irgendwer war auf dem Weg zu ihm, und er hatte keine Ahnung, wer. Er hatte seinen Standort eher zum Spaß gesimst, doch nun war da das Echo und sprang ihn an. Er spürte ein Stechen, so ein kleines Bienenstichgefühl an der Schädelbasis. Dann eine weitere Nachricht:

bis gleich

 

Lionel setzte sich wieder in Bewegung und schrieb zurück:

wer bist du? 

Ein weiteres Vibrieren, eine weitere Nachricht aus dem Äther:

;)

 

Lionel schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Er spürte eine dumpfe Form von Angst. Als wäre sein gesamter Körper taub. Als würde er versuchen aufzuwachen, aber alles nur durch einen dichten Schleier wahrnehmen.

Er ging weiter. Zu Hause angekommen, würde er die Mitbringparty und Charles und Sophie vergessen. Er würde die Wäsche zusammenlegen. Ins Bett kriechen und schlafen. Alles wäre okay. Alles wäre bestens, absolut bestens.

Noch eine Nachricht:

wo bist du? ich sehe dich nicht

 

Lionel antwortete nicht. Er blieb nicht stehen. Doch plötzlich hörte er, wie ein Stück entfernt jemand nach ihm rief. Er drehte sich nicht um, sondern überquerte kurzerhand die Straße. Die Stimme wurde lauter, kam näher. Er schwitzte. Spürte die Hitze an seinem Rücken und im Magen. Nicht stehen bleiben, sagte er zu sich. Nicht stehen bleiben.

Auf dem leicht abschüssigen Bürgersteig geriet Lionel ins Schlittern. Das Eis unter dem Schnee war rau. Endlich fanden seine Fußsohlen Halt, und er fing sich. Inzwischen war die Stimme noch näher gekommen, aber Lionel sah schon sein Wohnhaus vor sich, gleich da an der Ecke. Seine Wohnung lag im Erdgeschoss. Das Licht der Eingangshalle warf einen matten gelben Kegel auf den Schnee. Er tastete seine Hosentaschen nach dem Schlüssel ab.

„Lionel!“, hörte er es hinter sich rufen, nun nicht mehr undeutlich, sondern klar durch die Nacht: sein Name. Lionel schaute auf, und da stand Charles, an der Grenze zwischen Licht und Schatten. Er atmete schwer und beugte sich vor, hielt sich die Seite. Seine Haare wirkten feucht, glitzernde Schweißperlen waren an den Spitzen seiner Locken festgefroren. Wie seltsam, ihn hier zu sehen. Lionel fand den Schlüssel.

„Was machst du hier? Wie bist du hergekommen?“

„Du bist weggerannt! Wer rennt denn bitte weg?“ Charles sah zu ihm hoch, sein Atem beruhigte sich.

„Ich offenbar“, sagte Lionel. „Es war keine Absicht. Ich meine, ich wusste nicht, dass du es bist.“

„Ich habe dir geschrieben!“, sagte Charles. Er hatte sich wieder aufgerichtet, die Hände in die Hüfte gestemmt. Lionel erinnerte sich an sein Knie und hatte ein schlechtes Gewissen.

„Ach so. Du warst das.“

„Na klar, du Depp“, sagte Charles.

„Wo steht dein Wagen?“

„Da vorn irgendwo.“

„Klar, logisch“, sagte Lionel. Seine Oberschenkel brannten, und sein unterer Rücken schmerzte. Er war in der Tat davongerannt. Hatte sich durch die tiefen Schneewehen gekämpft. Jetzt kam eine große Erschöpfung über ihn. Und er wollte es warm haben. „Willst du dann vielleicht reinkommen?“

„Gern“, sagte Charles.

Lionel nickte, setzte sich aber immer noch nicht in Bewegung, um die Tür zu öffnen. Er starrte nach unten auf den Schlüssel in seiner Hand, den ihm das Klinikpersonal erst vor ein paar Tagen wieder ausgehändigt hatte, zusammen mit seinen anderen Sachen. Leicht und kalt lag er in der Hand. Das Wohnhaus ragte hinter ihnen auf. Er musste sich nur umdrehen und den Schlüssel ins Schloss stecken, aber er konnte nicht. Seine Glieder wollten sich einfach nicht bewegen. Seine Muskeln wollten sich nicht rühren. Es war zu viel nach diesem zu langen Abend.

„Kannst du?“, fragte Lionel. „Würdest du?“

„Du bist echt ein kleiner Spinner“, sagte Charles. Aber er nahm Lionel den Schlüssel ab. Versuchte es mit dem ersten, und als dieser nicht zu passen schien, drehte er sich kurz zu Lionel um. Dann versuchte er es mit einem anderen, wieder ohne Erfolg. „Hilfst du mir mal?“

„Der mit dem roten Klebeband“, sagte Lionel. Ein Auto fuhr vorbei und wirbelte grauen Schneematsch in die Luft. Er landete knapp vor dem Lichtkegel.

Charles öffnete die Tür, und die Wärme der Eingangshalle strömte ihnen entgegen. Es roch nach Kohl und Bohnerwachs. Er ließ Lionel vorbei, der den warmen Eingangsbereich betrat und den langen Flur mit den roten Fliesen und einer Reihe verbeulter grauer Briefkästen hinunterzeigte.

„Der blaue Schlüssel“, sagte er.

Charles schaute nach unten auf die Schlüssel, die allesamt farblich markiert waren. Lionel hatte sie erst am Morgen neu beklebt, um sich besser merken zu können, welcher Schlüssel zu welcher Tür gehörte.

„Praktisch“, sagte Charles. „Klasse System.“

„Es hilft“, sagte Lionel, schaffte es aber nur noch, sich neben den Briefkästen an die Wand zu lehnen.

 

In Lionels Wohnung zogen sie Jacken und Stiefel aus. Lionel schaltete das Licht an, und beide zuckten durch die plötzliche Helligkeit zusammen.

„Tut mir leid.“

„Schon gut.“ Charles setzte sich an den winzigen Küchentisch. Allein durch seine Anwesenheit wirkte alles in der Wohnung klein und nutzlos, als wäre es eine Puppenstube. Auf einmal machte es Lionel verlegen, jemanden sehen zu lassen, wo und wie er lebte.

„Willst du einen Kaffee? Ich habe nur billigen da. Ist schon etwas älter.“

„Klar doch.“

Lionel schaltete den Wasserkocher an und füllte den gemahlenen Kaffee in die French Press. Lautstark schob Charles den Stuhl zurück, und als er durch die Wohnung ging, knarrten die Dielen unter seinem Gewicht. Sein Gang hatte etwas Unregelmäßiges.

„Hier wohnst du also?“

„Nein, wir sind gerade in die Wohnung eines Fremden eingebrochen“, sagte Lionel.

Charles stellte sich vor das Bücherregal und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Sein Summen erfüllte die Wohnung. Er drehte sich zu Lionel um.

„Bist du nervös?“

„Ein bisschen.“

„Warum? Meinetwegen?“ Charles trat näher an ihn heran.

„Nein, meinetwegen. Und wahrscheinlich auch deinetwegen.“

„Was an mir macht dich denn nervös?“ Charles presste ihn gegen die Arbeitsplatte. Lionel wich zurück.

„Du hast eine Freundin“, sagte Lionel.

„Stimmt.“

„Gut.“ Der Wasserkocher schaltete sich ab. „Ich sollte das aufgießen.“ Charles trat zurück, sodass Lionel den Kaffee aufgießen konnte. Ganz langsam goss er das Wasser in die French Press und beobachtete, wie der Pegel stieg. Es bereitete ihm Freude, solche Dinge zu tun, den alltäglichen Dingen Beachtung zu schenken. Schweigend sahen sie zu, wie der Kaffee zog. Charles machte eine große Show daraus und gab vor, sich wahnsinnig auf die Kaffeeoberfläche und die hier und da auftauchenden Bläschen zu konzentrieren. Lionel drückte den Stempel nach unten.

„Milch?“, fragte Lionel.

„Nein.“

„Das wäre mir zu bitter.“

„Sophie auch.“ Charles nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee, der wahrscheinlich noch viel zu heiß war.

„Sophie gefällt mir“, sagte Lionel. „Sie ist echt … nett.“

Charles grinste. Lionel wurde verlegen und dachte daran, dass sie ein bisschen gemein zueinander gewesen waren und sich dadurch irgendwie verbunden gefühlt hatten. Seine Wangen glühten bei dem Gedanken, dass es sich auf der Veranda kurz so angefühlt hatte, als würden sie sich gleich küssen. Als gäbe es nichts Naheliegenderes auf der Welt. Sophie gefiel ihm. Ihm gefiel die Vorstellung, mit ihr befreundet zu sein. Aber Charles sah ihn an, und Lionel spürte, wie diese Möglichkeit in die Ferne rückte. Charles stellte die Tasse auf den Tisch.

„Wo schläfst du?“

„Ich zeig’s dir.“

 

Am Morgen ließ Lionel Charles im Bett zurück.

Er spülte die in der Nacht benutzten Tassen aus. Dann die French Press, die er auseinandernahm, sorgfältig säuberte und zum Trocknen auf das Abtropfgitter stellte. Er schob das Fenster nach oben und klemmte ein altes Lineal in die Öffnung. Die Kälte würde helfen, die Wohnung durchzulüften, diesen muffigen Geruch von zwei Wochen Wegsein zu vertreiben.

Lionel spürte noch immer Charles’ Hände überall, seinen sicheren Griff und die feste Reibung ihrer Körper. Er ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Um sich den Geschmack von Charles aus dem Mund zu bürsten. Als er wieder ins Schlafzimmer kam, hatte sich Charles auf den Rücken gerollt und lag nackt da, in voller Pracht. Er hatte einen göttlichen Körper. Kanten und Linien, alles klar definiert. Volle Schamhaare. Sein Schwanz war nicht beschnitten und mittelgroß, aber sehr dick. Alles an ihm hatte die perfekte Proportion.

Lionel machte wieder Kaffee. Wartete, dass Charles aufstand, und fragte sich, wo er im Anschluss hingehen würde. Was ihn hergeführt hatte. Aber während er den Kaffee ziehen ließ und auf das braune Gemisch starrte, zerbrach das Lineal. Jahrelang hatte er damit das Fenster aufgehalten. Er hatte es als Kind im Mathecamp von seinem Betreuer geschenkt bekommen. Sämtliche Maßstriche waren abgerieben. Nun war es zerbrochen, und kurz hing das Fenster in der Luft, als hätte sich der Mechanismus auf magische Weise selbst repariert, als sei die Schwerkraft außer Betrieb. Dann knallte es mit einer solchen Wucht zu, dass die Scheibe zerbrach. In comicartiger Zuspitzung fielen die Scherben in die Spüle, wo sie weiter zersprangen. Etwas Altes und Staubiges landete auf Lionels Lippe, aber es war nur eine Fluse, vielleicht auch ein Farbsplitter vom Fensterrahmen.

„Was ist denn hier los?“ Charles betrat die Küche. Lionel wandte sich zu ihm um.

„Die totale Katastrophe“, sagte er.

„Was?“

„Keine Ahnung“, antwortete Lionel, doch sein Herz raste, und seine Hände zitterten. Er hatte Mühe, sich zusammenzuhalten.

„Oh, Scheiße.“

„Mir geht’s gut.“

„Klar.“

„Nein, nicht! Da liegt Glas“, rief Lionel. Charles hatte gerade auf ihn zukommen wollen. Er war noch immer nackt, barfuß. Lionels Warnung ließ ihn kurz zurückzucken. Dann zog er sich die Stiefel an, nahm Kehrbesen und Schaufel und fegte, noch immer nackt, die Scherben auf dem Boden zusammen. Danach beugte er sich über die Spüle, inspizierte den Inhalt und pfiff.

„Du besorgst dir besser eine neue French Press.“

Durch das kaputte Fenster zog kalte Luft in die Wohnung. Lionel sah, wie Charles Gänsehaut bekam, auf dem Rücken und den Oberschenkeln, kleine Hügelketten aus Fleisch.

„Danke“, sagte er. „Meinst du, du hast alles erwischt?“

„Du könntest noch mal mit dem Staubsauger drübergehen, wenn du einen hast, aber zum Überleben sollte es reichen.“ In dem Moment beugte sich Charles zu Lionel hinunter und küsste ihn, packte ihn von hinten an den Oberschenkeln und hob ihn mühelos hoch.

„Dein Knie“, sagte Lionel.

„Spiel nicht den Physiotherapeuten.“

Lionel schlang die Beine um Charles und ließ sich zum Bett zurücktragen. Mit seinen Stiefeln polterte Charles über die Dielen.

„Bleib“, sagte Lionel später, als Charles sich anzog.

„Kann ich nicht. Ich muss los.“

„Bleib.“

„Ich komme wieder.“ Charles küsste Lionel auf die Stirn und dann auf den Mund, bevor er zur Tür hinausging. Lionel zog die Decke fest um sich und legte sich wieder hin.

„Ich muss sowieso weg“, rief er, und die einzige Antwort war die Stille seiner Wohnung, das sanfte Pochen des auf die Spüle fallenden Schnees.

Brandon Taylor

Über Brandon Taylor

Biografie

Brandon Taylor, geboren 1989 in Prattville, Alabama, legte mit „Real Life“ sein hochgepriesenes literarisches Debüt vor, das ein Editor’s Pick der New York Times war und auf der Shortlist des Booker Prize 2020 stand. Der ehemalige Iowa Arts Fellow schreibt literarische Essays und Rezensionen für The...

Pressestimmen
LGBTQ Reads

„Psychologisch aufgeladen und auf eine stille Weise verheerend, ist ›Vor dem Sprung‹ ein zärtliches Porträt des heftigen Verlangens nach Intimität, der schwelenden Präsenz des Schmerzes und der Sehnsucht nach Liebe in einer Welt, die sie uns allzu oft vorzuenthalten scheint.“

Literary Hub

„Diese Sammlung lässt uns darüber nachdenken, wie aufreibend Begehren ist, wie schmerzhaft es sein kann und warum wir trotzdem nicht genug davon haben können.“

TimeOut

„Diese Sammlung miteinander verbundener Shortstorys legt die brodelnden Spannungen innerhalb einer Gruppe junger Künstler im Mittleren Westen der USA frei und zeichnet so ein Bild von Begehren, Schmerz und Sehnsucht.“

Harper’s Bazaar

„Eine bestechende neue Stimme mit einer wesentlichen Perspektive auf die Welt.“

Kirkus Starred Review

„Voller grundlegender Einsichten in die Abgründe menschlicher Interaktion. … Taylor packt eine ganze Reihe von Tabus an, er findet eine Sprache für die unbehaglichen Teile unserer Seele – und es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen.“

Publishers Weekly

„Taylor entwickelt intime Erzählungen über nervenaufreibende Beziehungsdynamiken und stellt dabei immer wieder seine Sensibilität für die fragile psychische Verfassung seiner Figuren unter Beweis. Seine Sprache schlägt Funken aus der Spannung zwischen dem Schönen und dem Grausamen, vermittelt einen Eindruck vom Begehren und von der durch die Launen seiner Figuren verkomplizierten Freude an Essen und Sex. Der Autor verfügt über eine beachtliche Bandbreite, und seine Darstellungen komplexer, in schier unerträglichen Situationen gefangener Figuren vergisst so schnell keiner.“

O: The Oprah Magazine

„In ›Vor dem Sprung‹ wendet Brandon Taylor seinen fesselnden, präzisen Stil auf die kleine Form an.“

Elle

„Mit sicherem, ungetrübtem Blick und tiefem Respekt für seine Figuren erschafft Taylor Geschichten der Sehnsucht und des Begehrens, die man sofort wiedererkennt.“

Katie Kitamura

„Der strahlende Beweis für Brandon Taylors herausragendes Talent, seinen scharfen Verstand, seine emotionale wie sprachliche Präzision, seinen trockenen und unverbrüchlichen Humor. Der Autor, so kühn, wie man es selten erlebt, liefert mit seinen Büchern eine Offenbarung nach der anderen.“

Yiyun Li

„Brandon Taylor ist ein Schriftsteller, der dem Leben mit einer seltenen Kombination aus Entschlossenheit, Staunen, Temperament und Vitalität begegnet. In seiner fantastischen Erzählungssammlung ›Vor dem Sprung‹ bewegt er sich in dem komplexen Raum zwischen Verletzten und Verletzenden, zwischen dem Feind im Gegenüber und dem Feind in uns.“

Garth Greenwell

„Ein brillanter Schriftsteller.“

Cosmopolitan

„All diese Geschichten zeichnen ein Bild der zugleich schönen und leidvollen Momente des Lebens: der Sehnsucht nach Intimität, dem versteckten Verlangen nach Liebe, das sich als Gleichgültigkeit tarnt, und den Narben, die der Schmerz heute im Leben hinterlässt.“

Vogue

„Zärtlich und mit einer guten Prise trockenem Humor erkundet dieses Buch Liebe, Sehnsucht und erotisches Begehren ... Das Versprechen von ›Real Life“ auf ganzer Linie einlösend, hat sich Taylor mit ›Vor dem Sprung‹ endgültig als wunderbar einfallsreicher Erzähler etabliert, dessen schön gezeichnete Figuren uns wirklich anrühren.«

Frankfurter Neue Presse

„Taylor formt die widersprüchlichen Schichten des Seins maximal kunstvoll durch, bis von Zeile zu Zeile alles passieren kann – oder auch nichts.“

Münchner Feuilleton

„Taylor verleiht seinem Band neben der inhaltlichen auch eine konzeptionelle Dichte.“

letterheart_buecherblog

„Bedrückend & ehrlich“

Neue Presse

„Erzählt in einer fesselnden Intensität, die den Lesern bis zum Schluss den Atem raubt.“

Podcast „Next Book Please“

„Ein knapper, dichter Prosa-Stil, trotzdem ist man sofort bei diesen Figuren.“

Zeit online

„Taylor ist ein starker Erzähler mit feinem Gespür für die Verletzungen, aber auch den letztlich unantastbaren Kern der Selbstachtung seiner Figuren.“

melodram

„Bereits Brandon Taylors Debütroman ›Real Life‹ konnte mich überzeugen. Mit seinen Kurzgeschichten hat er mich tatsächlich noch tiefer getroffen. Bemerkenswert!“

carpegusta.de

„Originell, subtil, sensibel erzählt.“

Ruhr Nachrichten

„Ein bittersüßes Lesevergnügen, das Menschlichkeit in all ihrer ernüchternden Hässlichkeit, aber auch zaghaften Schönheit beschreibt.“

Deutschlandfunk „Büchermarkt“

„Die Spannung, die seine Geschichten ausmacht, ergibt sich regelmäßig aus dem, was nur angedeutet wird oder ungesagt bleibt.“

"Papierstau Podcast“

„Brandon Taylor ist einfach ein Spitzentyp. Er ist richtig gut darin, diese ganz subtilen Zwischentöne im Zwischenmenschlichen nach vorne zu stellen und zu betonen.“

queer.de

„Hier spricht ein Autor, der die amerikanische Literatur über Jahre hinweg prägen wird.“

Display

„Große Literatur, unbedingt lesen!“

Kulturaustausch

„Brandon Taylor liest sich wie warme Butter.“

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