Vielleicht ist es sogar schön
Immer berührend, nie pathetisch, immer würdig, nie weihevoll. - Stern
Vielleicht ist es sogar schön — Inhalt
Hätte er die Zeit gehabt nachzudenken, Jakob Hein hätte seiner Mutter nur diesen Satz gesagt. Er hat es nicht getan. Über die Erinnerung an sie und die gemeinsamen Erlebnisse stellt er noch einmal die alte Nähe zu ihr her. „Vielleicht ist es sogar schön“ ist klug, wütend und tröstlich zugleich. Hein erzählt die Geschichte eines langsamen Abschieds und verbindet die literarische Erinnerung an seine Mutter mit dem Porträt einer außergewöhnlichen Familie.
Leseprobe zu „Vielleicht ist es sogar schön“
Worum es geht
Meine Mutter war vierundfünfzig Jahre alt, als sie uns eines Tages unerwartet anrief und bat, noch an diesem Abend vorbeizukommen. Es war bis dahin für mich ein vollkommen gewöhnlicher Tag im April gewesen. Ich war von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte mir einen Tee gekocht und mich mit einer Zeitung auf mein Sofa gesetzt. Draußen schien noch die Sonne, die an diesem Tag willkommene Frühlingswärme gebracht hatte.
Meine Mutter und ich sahen uns oft und regelmäßig, schon daher war dieser Anruf merkwürdig. Aber auch die förmliche Bitte und [...]
Worum es geht
Meine Mutter war vierundfünfzig Jahre alt, als sie uns eines Tages unerwartet anrief und bat, noch an diesem Abend vorbeizukommen. Es war bis dahin für mich ein vollkommen gewöhnlicher Tag im April gewesen. Ich war von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte mir einen Tee gekocht und mich mit einer Zeitung auf mein Sofa gesetzt. Draußen schien noch die Sonne, die an diesem Tag willkommene Frühlingswärme gebracht hatte.
Meine Mutter und ich sahen uns oft und regelmäßig, schon daher war dieser Anruf merkwürdig. Aber auch die förmliche Bitte und ihr ernster Tonfall waren außergewöhnlich. „Was ist?“, fragte ich. „Ich will es dir nicht am Telefon sagen.“ Nun von einem unangenehmen Gefühl innerer Unruhe erfüllt, zog ich mich wieder an und fuhr mit der Straßenbahn zu meinen Eltern.
Obwohl ich schon seit Jahren in meiner eigenen Wohnung wohnte, war dieser Weg doch immer noch der „nach Hause“. Es gab keine Worte, um den vertrauten Geruch der Wohnung zu beschreiben, nachdem mein Vater mir die Wohnungstür geöffnet hatte. Mein Bruder war auch schon da. Wir setzten uns um den großen Tisch im Wohnzimmer und verneinten nervös die Frage nach einem Getränk. Angespannt spielte ich an dem Makramee-Besatz der mit großen bunten Blumen bestickten Tischdecke, während meine Mutter uns sagte, dass sie bei sich einen Knoten in der Brust ertastet habe, dass die Ärzte diesen Knoten verdächtig fänden und dass sie morgen ins Krankenhaus gehen würde.
Gedanken, vor allem Erinnerungen, müssen nicht lange dauern, schließlich sind mir meine eigenen Gedanken besonders vertraut. Es ist fast wie in einer Wohnung, die ich gut kenne: Wenn ich durch eine Tür trete, erfasse ich sofort das vertraute Zimmer. Ich muss nicht den Grundriss des Zimmers abschätzen oder die einzelnen Gegenstände darin prüfend betrachten, wie man es vielleicht mit einem neuen Zimmer täte, um sich das Unbekannte zu erschließen. Hier, zu Hause, ist es der Geruch, das Licht, ein bestimmtes Gefühl, das alles einfach macht, ich könnte es kaum erklären.
In derselben Weise ist es oft schwierig und nicht selten langwierig, anderen die eigenen vertrauten Gedanken mitzuteilen, weil ich selbst erst Worte für sie finden muss. Dann bin ich gezwungen, mich auf Einzelheiten zu konzentrieren, bei dieser einen Erinnerung zu verweilen, dem Gegenüber begreiflich zu machen, wie alles ist und warum. Aber wenn ich mich nicht erklären muss, wenn ich nur für mich selbst in Gedanken bin, dann brauche ich kaum Zeit für einen vertrauten Gedanken, nicht länger als die Länge eines Schrittes.
Losgehen
Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und warte darauf, dass die Ampel auf Grün springt. Natürlich wird sie gesund bleiben, denke ich. Hoffentlich.
Der erste Schritt ist immer der schwerste. Warum traue ich mich überhaupt, über eine Straße zu gehen, den scheinbar sicheren Bordstein zu verlassen? Wie kann ich auf eine Fahrbahn treten, über die mir vollkommen unbekannte Menschen in tonnenschweren Metallgehäusen hinweg schießen? Menschen mit abwesendem Gesichtsausdruck, denen ich nicht einmal für einen kurzen Moment meinen Schlüssel anvertrauen würde, und doch trete ich auf die Straße und vertraue ihnen mein Leben an. Natürlich kann man sagen: Es gibt Regeln. Aber wozu gibt es Regeln? Regeln gibt es doch gerade dort, wo der Mensch sich selbst misstraut. Es gibt Gesetze gegen zu schnelles Fahren, aber es gibt kein Gesetz gegen zu schnelles Atmen. Wie kann ich glauben, dass die, die ich heute und morgen treffe, sich überhaupt an irgendwelche Regeln halten werden? Dass dieser Lastwagen in seiner Spur bleiben wird? Woher kommt diese Sicherheit, dass mir heute nichts passieren wird, dass ausgerechnet mir nie etwas passieren kann?
Um nicht zu oft an die Krankheit meiner Mutter zu denken, um mich nicht nach einer dem eigenen Gedächtnis abgetrotzten Phase des Vergessens plötzlich schmerzhaft erinnern zu müssen, um nicht nachts den Gedanken meiner Angst endlos hinterherlaufen zu müssen, um diese Angst aber auch nicht in eine Ecke zu drängen und sie dort, wie jedes in die Ecke gedrängte Wesen, stärker und unberechenbarer zu machen, um der Angst ein Ventil zu geben, das ich kontrollieren könnte, um nicht in einem glücklichen Moment plötzlich von unkontrollierbaren Gefühlen überwältigt zu werden, beschloss ich, gelegentlich beim Überqueren einer Straße an die Krankheit meiner Mutter zu denken. Es war ein Geschäft mit meinem eigenen Aberglauben, möglichst beiläufig wollte ich daran denken.
Im Lauf der Zeit, in Wochen und Monaten wurden aus einzelnen Straßen ganz bestimmte Routen. Denn nur wenige Straßen genügten meinen Anforderungen. Die umliegenden, täglich überquerten Straßen kamen nicht in Frage, genauso wenig wie zu weit entfernte Alleen. Die üblichen Wege zur Straßenbahn, zum Lebensmittelgeschäft oder zur Post eigneten sich nicht. Jeden Tag hätte ich dann an die Krankheit meiner Mutter denken müssen. So hätte ich mich entweder täglich geängstigt oder, und das war wahrscheinlicher, die Gedanken hätten für mich ihren Schrecken verloren und sich abgenutzt wie ein zu oft gehörtes Lied. Das wäre nicht gut gewesen, das wäre sogar gefährlich gewesen, denn die Krankheit war gefährlich und mein Wille gegen sie durfte nicht schwächer werden. Bildete ich mir ein. Ich durfte mich nicht einlullen lassen, ich musste wach und wachsam bleiben. Vermutlich würde es meine Mutter nicht gesund machen, aber auf keinen Fall konnte es schaden und vielleicht nutzte es etwas und dann war es doch Unfug diesen kleinen, möglicherweise nützlichen Kampf aus Bequemlichkeit aufzugeben und dieses womöglich wundersame Kraftfeld aus Gedanken nicht zu erzeugen, meinen Beitrag als Sohn nicht zu leisten. Schließlich war das hier nicht unwichtig, nicht irgendein sinnloses Spiel, es ging um Leben und Tod.
Es gab ein paar Straßen, die ich gerade oft genug überquerte, wie die auf dem Weg zum Blumenladen oder eine andere zum selten benutzten Bus. Auf diesen Gängen dachte ich dann an die Krankheit meiner Mutter. Ich freute mich, wie lange sie schon gesund war und wie gesund sie war und ich sagte mir, dass jeder Tag Gesundheit einen Rückfall unwahrscheinlicher machte. Denn auch wenn in den wissenschaftlichen Studien immer nur alle ein, zwei, fünf und zehn Jahre das Rückfallrisiko für ihre Krankheit kontrolliert wurde, so hatte das doch vor allem praktische und statistische Gründe. Die Forscher konnten einfach nicht jeden Tag alle Patientinnen für ihre Studien untersuchen. Das bedeutete aber nicht, dass nicht jeder Tag zählte.
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