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Stilles Vermächtnis

Stilles Vermächtnis

Sabine Durrant
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Thriller

„Die Spannung sorgt dank hervorragender Charakterzeichnungen für einen wohligen Gänsehaut-Genuss auf hohem Niveau.“ - Ostthüringer Zeitung

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Stilles Vermächtnis — Inhalt

Auf den Tag vor einem Jahr, am Valentinstag, ist Lizzies Mann tödlich verunglückt. Weil alle ihr sagen, dass das Leben weitergeht und sie endlich mit der Vergangenheit abschließen muss, fasst sie sich ein Herz und fährt zur Unfallstelle. Doch was sie dort sieht, lässt sie erstarren: Es liegen weiße Lilien am Straßenrand, an denen ein Zettel hängt: „Für Zach – Xenia“. Lizzie steht unter Schock: Gab es eine andere Frau in Zachs Leben? Was hat es mit dieser Xenia auf sich? Und welche Nachricht wollte er ihr mit dem letzten Bild, das er malte, überbringen? Überall findet sie Spuren, die sie zutiefst beunruhigen. Denn sie weiß, dass es in ihrer Ehe auch finstere Tage gab. Und es sieht fast so aus, als würde Zach ihr sagen wollen: Ich bin noch da, und ich beobachte dich ...

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 30.03.2015
Übersetzt von: Elvira Willems
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97044-0
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Leseprobe zu „Stilles Vermächtnis“

ZACH


Ich stand in der Grünanlage und beobachtete sie oben in der Schulbibliothek. Das Licht brannte, und sie ging zweimal am Fenster vorbei. Beim dritten Mal stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte hinaus. Es sah aus, als würde sie mich direkt anschauen, obwohl ich wusste, dass ich gut getarnt war: den Rücken an den Baum gelehnt, das Gesicht verborgen hinter einem Schleier aus Zweigen. Ich wollte gerade hervortreten, als hinter ihr ein Mann auftauchte, und als sie sich umdrehte, sah ich ihr Lachen, ein Schlitz weißer Kehle. Da stellte [...]

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ZACH


Ich stand in der Grünanlage und beobachtete sie oben in der Schulbibliothek. Das Licht brannte, und sie ging zweimal am Fenster vorbei. Beim dritten Mal stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte hinaus. Es sah aus, als würde sie mich direkt anschauen, obwohl ich wusste, dass ich gut getarnt war: den Rücken an den Baum gelehnt, das Gesicht verborgen hinter einem Schleier aus Zweigen. Ich wollte gerade hervortreten, als hinter ihr ein Mann auftauchte, und als sie sich umdrehte, sah ich ihr Lachen, ein Schlitz weißer Kehle. Da stellte ich mir seine Lippen auf ihrer Halsbeuge vor, dort, wo die Ader pulsiert, ihre Augen, die sich schlossen, seine Hände auf der Rundung ihrer Brüste.

Wenn ich ganz sicher weiß, dass sie einen anderen hat, dass sie vergessen hat, was wir hatten, bringe ich sie um.

Und das hat sie dann ganz allein sich selbst zuzuschreiben.


1

LIZZIE

Kurzferien, Februar 2013

Ein tiefer Atemzug. Benzin, Mist, der mineralische Geruch von Salz. Selbst hier bin ich nicht weit vom Meer. Mein Gesicht ist feucht vom Niesel und dem Sprühnebel, den die Auto­reifen auf der nassen Straße aufwirbeln. Ich packe die Blumen jetzt mit beiden Händen, wie eine Braut. Hyazinthen habe ich ausgesucht, auch wenn ich mir nicht sicher war, nur blaue. Zach hat mir erklärt, ein Blumenstrauß solle immer nur aus Blumen einer Farbe bestehen. Die Stiele habe ich in nasse Küchenrolle gewickelt und mit einem Gefrierbeutel gesichert. Entweder habe ich das Papier zu nass gemacht oder in dem Beutel ist ein Loch, denn es sickert Wasser raus und tropft mir am Ellbogen runter.

Auf der anderen Straßenseite liegt eine grasbewachsene Senke, ein Wäldchen mit stumpfen Bäumen, dahinter der Schatten eines Hügels. Der Himmel darüber hat die Farbe schmutziger Schafe, dunklere Flecken, in der Ferne ein paar Sonnenstrahlen wie fallende Tropfen, während der kalte Nachmittag hereinbricht. Auf all das konzentriere ich mich, weil ich weiß, dass auf der anderen Fahrbahnseite irgendwo am Rand meines Sehfelds, irgendwo links, die Stelle ist. Aber ich werde nicht hinsehen. Noch nicht.

Es ist Valentinstag, der Autounfall meines Mannes ist genau ein Jahr her, und ich befinde mich 320 Kilometer von zu Hause entfernt an einer Bundesstraße mitten in Cornwall. Diese Reise ist ein Ende oder ein Anfang – ich bin mir noch nicht ganz sicher. Es ist Zeit, nach vorn zu sehen. Das sagen die Leute mir andauernd. Ich versuche, ihnen zu glauben.

Ich passe einen Moment zwischen den vorbeizischenden Autos ab und laufe los. Als ich auf der anderen Straßenseite ankomme, schaue ich zurück zur Parkbucht, wo mein Nissan Micra im Windzug vorbeifahrender Lastwagen schaukelt. Mein Hund sieht mir vom Seitenfenster aus zu. Seit ich den Wagen geparkt habe, habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Wahrscheinlich liegt das nur daran, dass der Ort so abgelegen ist. Wie viele Leute fahren hier vorbei, ohne dass einer anhält ? Oder sind es die Schuldgefühle – wegen allem Möglichen, aber hauptsächlich, weil ich längst hätte herkommen sollen ?

Es ist üblich, den Schauplatz eines tödlichen Unfalls zu besuchen und Blumen abzulegen. Man denke nur an die in Zellophan gehüllten Laternenpfosten, wo arme Fahrradfahrer den Tod gefunden haben. Es ist nicht üblich, es so lange aufzuschieben. In der Nacht, als es passierte, als PC Morrow vor meiner Tür stand … sie hätte mich gleich hergebracht. Der Streifenwagen hat gewartet. Doch da ist meine Schwester Peggy dazwischengegangen. Sie hat Morrow gesagt, ich müsse mit ihr nach Hause kommen und nicht fünf Stunden zu einem nassen, windumtosten Straßenrand in Cornwall fahren, um mir Rauch und Trümmer anzusehen. Es wäre verrückt, hat sie gesagt. Ich könnte ein andermal hinfahren. Zach war tot. Und ich konnte nichts tun.

Es war ja auch nicht so, als hätte ich nicht gewusst, was passiert war. Morrow – frisch vom Opferschutz-Kurs – ist es immer und immer wieder mit mir durchgegangen, bis ich die tödliche Kombination begriff: der Seenebel und die nasse Straße, die scharfe Kurve, das Faltverdeck, die Flaschen seines Lieblingswhiskys, direkt aus der Brennerei, auf dem Beifahrersitz, die Ölgemälde und die lösungsmittelgetränkten Lappen im Kofferraum, der dicke Baumstamm – der Baum, der fatalerweise an dieser Stelle steht.

Ich hab’s immer wieder aufgeschoben. Die Leute haben das verstanden. Cornwall war Zachs Lieblingsgegend. Er hatte ein Haus dort unten, um das ich mich irgendwann kümmern müsste, und die Leute nahmen an, irgendwann wäre ich so weit. Doch Tage und Wochen vergingen, und mit jedem Tag graute es mir mehr davor, den leeren Bungalow zu betreten und seinen Verlust noch einmal ganz neu zu spüren.

Ein Zittern kriecht mir den Rücken hoch. Die Wolken werden dichter. Eine Windböe zerrt an meinem Mantel. Ich muss mich beeilen, sollte es hinter mich bringen und zum Auto zurückgehen, bevor es noch dunkler wird. Ein Motor­rad, das einen Lastwagen überholt, lässt den Motor aufheulen. Ich trete einen Schritt zurück. Was mir, als ich über dreihundert Kilometer weit weg war, unabdingbar schien, kommt mir allmählich ziemlich verrückt vor und leichtsinnig obendrein.

Ich bewege mich auf dem schmalen, bröckeligen Streifen zwischen der weißen Linie und der Leitplanke. Ein Fuß vor den anderen. So übersteht man so etwas – das sagen einem alle. Ein Schritt nach dem anderen. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf den zugemüllten Boden: das Einwickelpapier eines Hamburgers, mit Ketchup beschmiert, ein benutztes Kondom, seltsam bunt in dem dreckigen Gras. Ein Styro­por­becher, der in der Leitplanke klemmt und hin und her flattert, sooft ein Auto vorbeifährt. Als ich mich der Kurve nähere, dröhnt eine Hupe – vielleicht zur Warnung, vielleicht aber auch, weil sich einer über die Verrückte auf der Straße mit ihrem Blumenstrauß wundert.

Wenn ich da bin, lege ich die Hyazinthen am Fuß des Baums auf den Boden. Macht man das so ? Oder sollten sie höher sein ? Vielleicht hätte ich mehr darüber nachdenken und Klebeband mitbringen sollen. Zach wüsste so was – obwohl er es schrecklich fände, dass ich hergekommen bin. Er würde es als Beleidigung auffassen, nicht als Reverenz. Er hasste Sentimentalitäten. Er mochte nicht mal Jahrestage. Er würde meinen, ich hätte mich dem Klischee ergeben oder mich dem Rat von anderen gebeugt. „ Auf wen hast du gehört, Lizzie Carter ? “

Ich bekomme eine Ahnung von der Form des Baums, dessen Äste wie Adern in den grauen Himmel ragen. Jetzt habe ich die fransige Lücke in der Hecke erreicht. Hellgrüne Triebe am Ende der Äste. Es ist gefühllos, wie dieser Weißdorn sich erholt hat, wie munter er wieder sprießt. Ich sehe mich noch einmal um, bevor ich über die Leitplanke klettere, und da ist er: der Baum, eine Eiche, seltsam würdevoll, trotz der tiefen Wunde in der knorrigen Rinde.

Zachs Baum. Ich strecke die Hand aus, um ihn zu berühren, und streiche mit den Fingern über die rauen Furchen der Rinde. Ich lehne den Kopf daran. Tränen steigen mir in die Augen.

Meine Freundin Jane fand, ich sollte heute nicht allein herfahren. Ich habe sie zum Lachen gebracht, um ihr zu beweisen, dass ich klarkomme, indem ich eine launige Stimme aufgesetzt und über meinen „ feierlichen Besuch “ gesprochen habe, mein „ rituelles Blumenniederlegen “ – Formulierungen aus dem Selbsthilfebuch, das meine Schwester mir geschenkt hat. Ich habe ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt: Wie kompliziert meine Trauer ist, wie unergründlich, und dass es hier vor allem darum geht, die Geister zu besänftigen.

Ist Trauer immer so verworren, oder ist meine nur besonders ungestalt ? Es gibt Tage, da akzeptiere ich seinen Tod und bewege mich durch die Welt wie unter Wasser. Ganz alltägliche Aufgaben, wie das Einräumen der Geschirrspülmaschine oder das Bezahlen von Rechnungen, kommen mir brutal und leer vor. Ich ärgere mich über die Tauben, die vor dem Schlafzimmerfenster nisten, und die Schulkinder zu Beginn des neuen Schuljahres in ihren neuen Uniformen. Die kleinste Kleinigkeit kann mich umhauen. Letzte Woche radelte ein Mann die Northcote Road runter, der einen weißen Fahrradhelm trug, und eine Schmerzwelle traf mich mit solcher Macht, dass die Knie unter mir nachgaben. Ich musste mich vor Capstick Sports einen Augenblick aufs Pflaster ­hocken. An anderen Tagen vergesse ich es ganz. Ich bin beinahe sorglos, entlastet, und dann überkommt mich eine solche Scham, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Dann erliege ich Lethargie und Depressionen. Schiebe Dinge auf.

Jetzt stehe ich hier und fühle mich ihm auf reine Art nah. Dieser Tag musste irgendwann kommen. Zum ersten Mal fühlt sich sein Tod real an. Ich muss ihn loslassen, so schwer es auch ist, denn er war trotz allem die Liebe meines Lebens. Peggy hat recht. Er war der Mann, den ich die meiste Zeit meines Lebens geliebt habe – die meisten Minuten, die meisten Stunden, die meisten Tage, die meiste Zeit. Ich schließe die Augen, blinzele die Tränen fort und frage mich, ob meine rastlosen Gedanken nun zur Ruhe kommen können.

Unter meinem Fuß knistert etwas, und ich blicke nach unten.

An den Wurzeln lehnt ein Blumenstrauß. Casa-Blanca-­Lilien, in Zellophan eingewickelt, mit einem breiten lilafarbenen Band zusammengebunden.

Ich trete zurück. Mein erster Gedanke ist: noch ein Unfall an derselben Stelle. Eine unfallträchtige Stelle: die enge Kurve und die unselige Geländebeschaffenheit. Vielleicht noch eine neblige Nacht. Regen.

Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht, wo ich meine Hyazinthen hintun soll. Die Lilien sehen so professionell und wichtig aus. Ich stehe da und überlege, was ich machen soll. Trotz seiner Verachtung für ein solches Ritual, hätte Zach es sicher nicht teilen wollen. Und so dauert es einen Augenblick, bis ich die Nachricht sehe. Der Zettel ist weiß. Jemand hat ein großes Herz gemalt und einen Namen darum geschrieben – ich neige den Kopf: XENIA. Und ganz oben steht in großen schwarzen Buchstaben: Für Zach.

Im ersten Moment denke ich wirklich: Was für ein Zufall. Hier ist noch jemand verunglückt und gestorben, der Zach hieß. Ist er, um PC Morrows Formulierung zu benutzen, auch „ in Flammen aufgegangen “ ?

Als mir dann ganz allmählich dämmert, wie die Sache sich verhält, lege ich meine Blumen demütig irgendwo an der Seite ab. Ich stehe auf und bewege mich wie in Trance durch das Loch in der Hecke, steige über die Leitplanke und gehe die Straße runter in die Richtung, aus der ich gekommen bin, mit leeren Händen und gesenktem Kopf. Erst als ich aufblicke, sehe ich ein anderes Auto – eine silberne Geländelimousine, direkt hinter meinem Micra, Stoßstange an Stoßstange.

Ein Knoten drückt auf das obere Ende meiner Wirbelsäule. Ich will über die Straße zu den Autos laufen, doch meine Beine sind wie Blei, ich bin wie unter Drogen. Von hinten kommen Autos. Eine Hupe dröhnt. Mein Rock flattert, der Schal weht mir ums Gesicht. Bremsen quietschen, noch ein Hupen. Ein Windstoß und Spritzwasser.

Ich fummele an der Autotür und schmeiße mich auf den Sitz. Der Hund, ein drahtiger Lurcher, begrüßt mich stürmisch, leckt mich ab, wedelt mit dem Schwanz und versucht gleichzeitig, von mir wegzukommen. Im Rückspiegel sehe ich zu, wie die Geländelimousine ausschert, und erhasche einen kurzen Blick auf den Fahrer, der sich über das Lenkrad beugt und kurbelt. Er hat wohl angehalten, um nach dem Weg zu schauen oder einen Anruf entgegenzunehmen. Oder ?

Im Spiegel sind meine Augen rot gerändert. Auf meiner Wange ist ein Kratzer. Ich kraule Howard den Kopf, schiebe die Finger unter sein Halsband und grabe sie tief in die Falten um seinen Hals. Die Tränen kämpfe ich nieder.

Ein von Hand gezeichnetes Herz. Xenia. Er hat nie von ­einer Xenia gesprochen.

Ein Stich – schmerzliche Eifersucht, vermischt mit dem alten Sehnen –, doch zum ersten Mal spüre ich auch das Gegenteil: ein Entgleiten der Verantwortung. Eine andere hat ihn geliebt. Ganz hinten im Mund habe ich einen metallischen Geschmack, und ich begreife, dass es trotz allem Erleichterung ist.

Das Internet hat Amor gespielt. Damit gehe ich ganz offen um. Meine Schwester Peggy, der mehr am äußeren Schein liegt als mir, war von Anfang an der Meinung, das sollten wir nicht. Wir sollten lieber so tun, als hätte es mit einer zufälligen Begegnung im Supermarkt angefangen. „ Erzählt den Leuten, ihr wärt beim Obst zusammengestoßen “, sagte sie, „ als ihr gerade nach derselben Fair-Trade-Ananas greifen wolltet oder so. “

„ Oder nach derselben Fertigmahlzeit “, versetzte ich.

„ Ja, beim Aussuchen von Mr Brain’s Pork Faggots “, meinte Zach, „ oder so. “

Zuerst war ich misstrauisch. Ich begriff einfach nicht, was er in mir sah. Doch als ich ihm in diesem Augenblick in ­Peggys Küche zusah, wie er meine Schwester bezirzte – das „ oder so “ war längst ein privater Witz zwischen uns –, erlaubte ich mir, mich in ihn zu verlieben.

Jane, die mit ihrer Sandkastenliebe glücklich verheiratet ist, hatte mir zugeredet, mich dort anzumelden. Seit wir uns in der Schule kennengelernt hatten, war ich, bis auf kurze Phasen Mitte zwanzig, immer Single gewesen. Wir arbeiteten in derselben Schule – Jane hatte mich für den Job in der Bibliothek empfohlen –, und in den Pausen setzte sie mir unablässig zu: „ Es ist nicht mehr wie früher “, sagte sie. „ Es ist keine Schande. Du musst einfach nur eine Webseite von einer seriösen Zeitung wählen, da kommst du schon an die richtigen Männer. Weißt du … “ Sie fuhr mit den Händen durch die Luft, wie um Zartgefühl von Vornehmtuerei zu trennen. „ Gebildet. “ Jane hat studiert und vergisst manchmal, dass ich nicht auf der Uni war.

In meinem Profil wollte ich schreiben: Nachlässig gekleidete Bibliothekarin, mittlerer Bildungsabschluss, die ihre demen­ten Eltern betreut und wenig Erfahrung in Liebesdingen besitzt. Jane hatte da ganz andere Vorstellungen: Meine Freunde beschreiben mich als kontaktfreudige und lustige Weltenbummlerin, schrieb sie und schubste mich vom Bildschirm weg, die sich in Jeans genauso wohlfühlt wie im kleinen Schwarzen.

„ Ich besitze nicht mal ein kleines Schwarzes. “

„ Tz, tz, tz “, machte sie abschätzig. „ Wen interessiert’s ? “

Zach war mein sechstes Date. Ein Künstler aus Brighton – weit außerhalb meines beschriebenen Acht-Kilometer-Radius, weshalb ich mich beinahe gar nicht mit ihm getroffen hätte. Am Telefon schlug er einen Spaziergang vor. Alle raten einem, so etwas zu vermeiden, sondern sich lieber irgendwo zu treffen, wo andere Menschen sind. Schon hatte er sich als einer erwiesen, der sich gern über Regeln hinwegsetzte. Die anderen Männer hatten alle mehrere E-Mails geschrieben, in denen sie persönlichkeitsrelevante Themen abhandelten – Landleben vs. Stadtleben, sexuelle Spannung vs. Kameradschaft. Er hatte nur gefragt, ob er mich anrufen könne. Außerdem schrieb er gleich von Anfang an unter seinem richtigen Namen, also nicht „ Lookingforlove_007 “, sondern Zach Hopkins.

Auf seinem Foto war er weder beim Skifahren noch lehnte er sich an einen Oldtimer, und er hatte den Arm auch nicht um einen Deutschen Schäferhund gelegt. Sein Foto war ein unscharfes, mit langer Belichtungszeit von oben aufgenommenes Schwarz-Weiß-Bild, der Mund halb ge­öff­net, die Stirn leicht gerunzelt – die verwirrte Konzentration ­eines Menschen, der ein Kreuzworträtsel löst. Das Foto wirkte ungekünstelt, wie wahllos herausgegriffen, doch bei Zach war, wie ich noch herausfinden sollte, nichts je ungekünstelt oder wahllos.

Ich sagte Ja zum Spaziergang. Ich glaube nicht, dass ich zögerte. Seine tiefe, ruhige Stimme, seine ganz leicht ironische Art, gleich zum Punkt zu kommen. Ich war schon in Bann geschlagen, und seine Selbstsicherheit haute mich natürlich von den Socken.

Er nahm den Zug von Brighton nach Clapham Junction, und ich wartete nervös draußen vor dem neuen Eingang. Es war November, wolkenverhangen, eine leichte Kühle in der Luft – aber wirklich kalt war es nicht. Er trug eine russische Pelzmütze und einen dicken Mantel über einem ausgebeulten Leinenanzug. Als wir uns auf dem Weg zum Common machten – und ich Mühe hatte, Howard davon abzuhalten hochzuspringen und sich die Mütze zu schnappen –, erzählte er mir, er habe lange gebraucht, um sein Outfit zusammenzustellen. „ Ich wollte Sie mit meinem natürlichen Raffinement beeindrucken. Sie sind schließlich eine Weltenbummlerin. “ Er verneigte sich ein wenig. „ Ich hatte es auch auf einen Hauch Exzentrizität abgesehen, eine leichte Wunderlichkeit, über die wir später in Erinnerungen schwelgen könnten. Ich wollte, dass wir zurückblicken und sagen können: › Weißt du noch, die Pelzmütze, die du bei unserer ersten Verabredung getragen hast ? Was hast du dir dabei nur gedacht ? ‹ Und obendrein … “ Hier machte er eine Pause, um sich in Pose zu werfen. „ Obendrein dachte ich, in dem Trenchcoat sähe ich muskulöser aus. “

Ich brachte kaum ein Wort heraus, denn ich war völlig geplättet, wie gut er aussah: breite Schultern, Augen von ­einem intensiven Blau, groß gewachsen, aber leicht gebeugte Haltung. Bei meinem letzten Date, einem Kaffee bei Starbucks
mit Mr Netter Typ, einem Telefontechniker von Crystal ­Palace, hatte ich mitten im Gespräch einen Blick auf uns beide im Spiegel erhascht: unsere runden Schultern, unsere höflichen und doch verletzlichen Mienen. Wir sahen aus wie zwei Schildkröten ohne Panzer. Ich hatte keine Ahnung, was Zach hier machte. Oder warum er seine Zeit mit mir vergeudete. Und auch wie er sprach, seine befangene, theatralische Art, die leichte Nervosität dahinter, die beschleunigte Vertraulichkeit, die ironisch sein konnte oder auch nicht. Er war ganz das Gegenteil von einer panzerlosen Schildkröte, ganz das Gegenteil von höflich.

„ Sie kommen mir recht muskulös vor “, sagte ich schließlich.

Wir waren nicht mal bis zur Ampel an der South Circular gekommen, da nahm er meine Hand und steckte sie mit seiner eigenen zusammen in seine Tasche.

Daran erinnere ich mich deutlicher als an alles andere – an die raue Wärme seiner Finger, die Trockenheit, die, wie ich noch herausfinden würde, von Ölfarben und Terpentin stammte, die Risse in seinem Handteller. Daran erinnere ich mich deutlicher als an seine Redseligkeit, den schweren Mantel oder die lächerliche Mütze. Er hielt meine Hand auch nicht reglos. Er rieb sie im Gehen, massierte sie mit dem Daumen, wie um die Muskeln zu testen.

Später, als ich mehr über ihn wusste, als er mir erklärt hatte, wie das mit seiner Kindheit war und dass er nicht so leicht jemandem vertraute; als er mir so tief in die Augen gesehen hatte, dass ich das Gefühl hatte, ich würde innerlich zerfließen, erzählte er mir, dass ihn nicht Einsamkeit ins Internet geführt hatte. Er traf andauernd Singlefrauen. Er suchte einen Neuanfang, das war alles. Er wollte einfach noch einmal neu anfangen.

Ich drehe den Zündschlüssel und fahre los. Es herrscht starker Verkehr an diesem trüben Ende eines Samstagnachmittags, an dem die Ortsansässigen vom Fußballspiel nach Hause fahren, während die Abenddämmerung sich schon über die Felder legt. Von hier habe ich noch gut dreißig Kilo­meter zu fahren, und ich habe Jane, die weiß, wie sehr mir davor graut, die Tür zu Zachs Bungalow zu öffnen, versprochen, vor Einbruch der Dunkelheit dort zu sein.

Ich nehme den langen Weg – die Umgehungsstraße um Bodmin und die Hauptstraße nach Wadebridge rein; zwei Seiten eines gleichschenkligen Dreiecks. Diese Strecke ist Zach auch immer nach Gulls gefahren, seinem Haus in Cornwall, bevor er die Abkürzung entdeckte. Morrows Rekonstruktion des Unfalls zufolge hat Zach vor einem Jahr die Abzweigung verpasst und ist am nächsten Kreisel zurückgefahren. Morrow sagte, er habe wahrscheinlich getrunken, ­einen Nachweis gab es nicht, da ein Bluttest nicht mehr möglich war. Aber er war definitiv müde, denn am Abend zuvor war es mit einem Kunsthändler in Exeter spät geworden, eine Nacht in einem Bed & Breakfast und dann ein langer Tag beim Malen auf dem Moor.

Bevor ich es verhindern kann, denke ich daran, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe – an dem Morgen, bevor er starb. Wir waren in unserer kleinen Küche in Wandsworth. Im Radio lief ein Bericht über die Ergebnisse einer Nachwahl in Hampshire. Ich war spät dran für die Arbeit, nahm mich vor ihm in Acht, zog meinen Mantel an, suchte die Hundeleine und zog mir die Mütze über den Kopf. Doch als ich an der Tür vorbeiging, packte er mich am Ärmel. Seine Pupillen waren kleiner, die Iris von einem helleren Blau. Seine Stimmung hatte sich verändert. „ Ich liebe dich “, sagte er leidenschaftlich und zog mich näher. „ Das weißt du, oder ? “

„ Ja “, sagte ich. Daran habe ich nie gezweifelt.

„ Denn es stimmt “, sagte er. „ Ich liebe dich wirklich. “

Er küsste mich auf den Mund, und ich schmeckte Kaffee und Pfefferminz und den Whisky vom Vorabend. Ich spürte, wie ich fiel, nachgab, wie immer. Mein Magen krampfte. Tränen brannten. Wenn er mir mit den Lippen über den Nacken gestrichen hätte, wäre ich mit ihm nach oben gegangen, und wenn ich zehn Mal zu spät zur Arbeit gekommen wäre, und wenn ich noch so viel Angst vor ihm hatte.

„ Es tut mir leid, dass im Hühnchen Pilze waren “, sagte ich.

Seine Stimme war sanft. „ Ich dachte nur, das wüsstest du. “

» Ich hätte daran denken sollen. Und es tut mir leid, dass ich so spät nach Hause gekommen bin. Peggy war ganz ­außer sich wegen des Babys. «

„ Die hat dich doch um den kleinen Finger gewickelt. “

Da kam Howard und stupste mich am Ellbogen. Ich kraulte ihn hinter den Ohren. Er war in letzter Zeit nicht ganz auf der Höhe gewesen, und ich kniete mich hin und legte ihm die Hand auf die Brust, um seinen Herzschlag zu überprüfen.

Zach wandte den Blick ab. „ Du liebst den Hund mehr als mich. “

„ Tue ich nicht. “

Er rückte die Kaffeekanne und seine Kaffeetasse auf dem Tisch so zurecht, dass die Henkel in dieselbe Richtung zeigten, und richtete den Teelöffel auf der Untertasse gerade aus. „ Versprichst du es mir ? “

Ich stand auf und rang mir ein Lachen ab. Da hatte ich schon beschlossen zu gehen. Ich hatte den Brief geschrieben und in die Post gegeben. Er würde in Cornwall auf ihn warten. Ich hatte ihn dorthin geschickt, weil ich es besser fand, wenn Zach weit, weit weg war, wenn er ihn las. Ich hatte gehofft, dieses letzte Frühstück würde normal verlaufen. Doch meine Stimme klang zu hoch in meinen Ohren, wie stranguliert, als würde ich die Worte auf der Zunge trocken quetschen. „ Großes Ehrenwort, ich liebe den Hund nicht mehr als dich. “

Zweimal sprach ich noch mit ihm, bevor er starb – einmal an dem Abend am Telefon und dann noch einmal am darauffolgenden Nachmittag. Ich wollte noch einmal seine Stimme hören. Er war noch auf dem Dartmoor, als ich anrief, an ­einem Ort namens Cosdon, wo er eine Reihe uralter Stein­for­ma­tio­nen malte. Öde und düster, sagte er, erstreckten sich die riesigen Steine in die Ferne wie unmarkierte Gräber. Er war hinter dem schwindenden Licht her. Er würde erst im Dunkeln am Bungalow sein. Ich sagte ihm, er solle auf dem letzten unbeleuchteten Wegstück vorsichtig fahren. Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach.

Ich biege von der Schnellstraße ab, drossele die Geschwindigkeit und fahre über die Brücke. Die Straße wird enger, bis sie nur noch einspurig ist. Ich schalte das Licht an und bleibe unter dem Tempolimit. Das mache ich immer. Zach sagte, ich würde fahren wie eine alte Frau. An so etwas versuche ich mich zu erinnern, an seine Freude an beiläufigen Beleidigungen und daran, wie schnell seine Witze in etwas Hässlicheres umschlagen konnten. Ich hoffe, dann vermisse ich ihn nicht so.

Es funktioniert nicht.

Man kann jemanden lieben und gleichzeitig hassen. Man kann ihn so bemitleiden, dass es sich anfühlt wie eine Faust im Bauch, und kann so zornig auf ihn sein, dass man ihn schlagen möchte. Er kann das Beste sein, was einem je widerfahren ist, und gleichzeitig das Schlimmste. Man kann ernsthaft darüber nachdenken, ihn zu verlassen, und doch kann einem die Erinnerung an seine Haut, an die Berührung seiner Fingerkuppen, den Atem verschlagen, auch nach einem Jahr noch.

Der Brief ist sicher noch im Haus. Er liegt da, seit einem Jahr, ungeöffnet. Ich male mir aus, dass er unter Pizza­flyern, Mahnungen für die Rundfunk- und Fernsehgebühren und braunen Umschlägen mit Wahlbenachrichtigungen begraben ist.

Gott sei Dank ist er gestorben, bevor er ihn gelesen hat. Dafür bin ich wirklich dankbar. Er hat nicht von meinem Verrat erfahren.

Wenn ich dort bin, werde ich ihn verbrennen.

Vor dem Hang schalte ich. Das Auto ruckt. Howard, der sich neben mir zusammengerollt hat, hebt nicht den Kopf von den Pfoten.

Ich bin am Freizeitpark vorbeigefahren und habe durch eine Hecke einen ersten kurzen Blick aufs Meer erhascht, da tauchen im Rückspiegel grelle Scheinwerfer auf. Voll aufgeblendet, ziemlich nah. Ich bin jetzt auf einem leichten Abhang, und ich beschleunige, bis die Lichter zurückbleiben. Blöder Idiot, denke ich, doch schon sind sie wieder da. Sie blenden mich, blitzen auf. Das Auto klebt an meiner Stoßstange. Hupen. Ich denke an die silberne Geländelimousine in der Parkbucht. Ist das eine Geländelimousine ? Ich kann nichts anderes mehr sehen, nicht das Meer, nicht die Böschungen, nicht die Straße, nur diese beharrlichen grellen Lichter, und ich fahre schneller und immer schneller, poltere den Hügel hinunter Richtung Dorf, bis ich den Bauernladen erreiche. Dort presche ich in die Einfahrt und komme quietschend zum Stehen.

Das Auto zischt vorbei und ist fort. Ich warte einen Augenblick. Howard ist aufgestanden und streckt die Nase zum Fenster. Draußen ist es dunkel, wie Galgen ragen die Gemüseregale auf, und plötzlich ist alles sehr still.

In den Selbsthilfebüchern mit ihren Trauerphasen gehen sie von einer Standardabfolge aus: Schock, Unglaube, Zorn, Verhandeln, Wut, Depression und am Ende Akzeptanz. Ich glaube, ich stecke fest. Das Buch, das Peggy mir gegeben hat, Die Blüte deines Hinscheidens, enthielt ein Kapitel über „ pathologische Trauer “. Das ist, wenn ein trauernder Mensch es nicht fertigbringt, sein Leben weiterzuleben. Ich glaube, was ich habe, könnte pathologische Trauer sein.

Es ist niemand hinter mir her. Das ist pathologisch. Der, der überlebt, hat Schuldgefühle. Genau wie der, der geht, Schuldgefühle hat. Unerledigtes.

Wenn ich die Lilien gestohlen hätte, könnte ich sie jetzt bei mir haben. Dann könnte ich sie berühren, ihre seidigen Blütenblätter zwischen den Fingern zerreiben und ihren widerwärtigen Geruch einatmen und wüsste, dass ich sie mir nicht eingebildet habe.

Von hier ist es nicht mehr weit, ein kurzes Stück noch durch ein Gewirr unbefestigter Straßen, die der hügeligen Geländekontur folgen. Gulls, Zachs Bungalow, liegt am äuße­ren Rand dieses Gewirrs, nahe an der Klippe, wo nur noch wenige Häuser stehen. Ich schalte das Radio ein, rattere über das letzte holprige Stück des Wegs und singe leise einen Country-Song von Taylor Swift mit.

Sabine Durrant

Über Sabine Durrant

Biografie

Sabine Durrant lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London, wo sie als Autorin und Journalistin arbeitet. Sie schreibt unter anderem für den Guardian, den Daily Telegraph sowie die Sunday Times und hat bereits mehrere Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Mit „Ich bin unschuldig“ legte...

Pressestimmen
Ostthüringer Zeitung

„Die Spannung sorgt dank hervorragender Charakterzeichnungen für einen wohligen Gänsehaut-Genuss auf hohem Niveau.“

Altmühl-Bote

„Eine absolut sommerurlaubstaugliche Lektüre.“

Main Echo

„Durrant skizziert den Strudel der emotionalen Gewalt, die schließlich zu physischer Gewalt eskaliert, wunderbar subtil.“

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