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Splitterwelten (Splitterwelten 1)

Splitterwelten (Splitterwelten 1)

Michael Peinkofer
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Roman

Mit Illustrationen von Iris Compiet

„Peinkofer versteht es, den Spannungsbogen langsam aufzubauen und setzt am Ende eine Überraschung, die Hunger auf mehr macht.“ - Allgäuer Zeitung

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Splitterwelten (Splitterwelten 1) — Inhalt

Gildenmeisterinnen bewahren den fragilen Frieden auf den Welteninseln. Dort haben die Menschen die Vorherrschaft über Animalen und Chimären gewonnen, die als niedere Geschöpfe betrachtet werden. Und die Unterdrückten begehren auf. Es kommt zu tödlichen Angriffen – und die Hinweise mehren sich, dass die Verschwörer sich den endgültigen Sturz der Meisterinnen zum Ziel gesetzt haben. Die Gildenschülerin Kalliope begibt sich mit ihrer undurchsichtigen Meisterin Cedara auf eine Mission, die sie zu den gefährlichsten Geheimnissen der zersplitterten Welt führen wird. Und alle Zeichen deuten darauf hin, dass der Untergang kurz bevorsteht …

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 12.03.2012
560 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95551-5
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Leseprobe zu „Splitterwelten (Splitterwelten 1)“

Veränderung


„Erzähl es mir bitte“, forderte das Mädchen.
Ein tiefes Atmen folgte, ehe eine samtene Stimme antwortete. Sie klang weich, als hätte sie Flügel, auf denen sie zum Ohr des Kindes schwebte.
„Am Tag, als die Begräbnisbarkasse flog – und sie flog hoch, musst du wissen – fiel ein Blütenblatt vom Bug hinab. Es ist unbedeutend, und außer mir hat es niemand gesehen. Aber es kam mir vor, als würde mein Herz in genau diesem Moment alles verstehen. In meinem Kopf wusste ich schon lange, was geschehen war … doch der Weg von dort zum Herzen ist weit.“
Von [...]

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Veränderung


„Erzähl es mir bitte“, forderte das Mädchen.
Ein tiefes Atmen folgte, ehe eine samtene Stimme antwortete. Sie klang weich, als hätte sie Flügel, auf denen sie zum Ohr des Kindes schwebte.
„Am Tag, als die Begräbnisbarkasse flog – und sie flog hoch, musst du wissen – fiel ein Blütenblatt vom Bug hinab. Es ist unbedeutend, und außer mir hat es niemand gesehen. Aber es kam mir vor, als würde mein Herz in genau diesem Moment alles verstehen. In meinem Kopf wusste ich schon lange, was geschehen war … doch der Weg von dort zum Herzen ist weit.“
Von Ferne drang Rauschen zu den beiden, die sich an diesem Abend unterhielten; zu der Frau und dem Mädchen. Es klang fast wie ein Fluss, der seinen Weg durch Steine suchte, aber tatsächlich war es die Hitze der Feuer, die die Luft bewegte und Wind entfachte. Über den Klippen brannte ein Schiff, das Holz knackte, das Segel längst nur mehr Asche. Es würde nie wieder fliegen.
„Ich fühlte mich“, fuhr die samtene Stimme fort, „als könnte ich auf diesem Blatt in winzigen Buchstaben die gesamte Geschichte lesen. Ich kann sie dir unmöglich auf einmal von vorne bis hinten erzählen. Immerhin hat sie alle Weltensplitter verändert. Es gibt Gute in dieser Geschichte, und Böse, und solche, die nicht wussten, was sie sind.“
„Aber jetzt wissen sie es?“
Die Frau hob ihren Blick in den Raum zwischen den Splittern. War das Crescat, dort oben? Sie blinzelte eine Träne hinweg. „Ja“, sagte sie, log sie. Es war besser so. „Jetzt wissen sie es.“ Sie atmete tief durch. „Ich denke nun an dieses Blütenblatt, um meine Gedanken zu sammeln und mein Gleichgewicht zu finden. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir: das kräftige Rot vor dem dunklen, glänzenden Holz des Schiffbugs. Es muss sich von dem Platz erhoben haben, an dem normalerweise die Leiche gelegen hätte. Wir umgeben die geehrten Toten nämlich mit Blumen, weißt du, ehe wir die Begräbnisbarkassen aufsteigen lassen. Sie sollen von Schönheit bedeckt ihren Weg antreten, wohin er auch führen mag. An jenem Tag jedoch begruben wir etwas völlig anderes.“
„Was?“, wollte das Mädchen mit weit geöffneten Augen wissen. Wie konnten sie nur so rund werden und so voller Neugierde stecken?
Und bin ich, fragte sich die Frau, immer noch so neugierig wie dieses Kind? Nach allem, was geschehen ist? Sie dachte dar-über nach und gab sich selbst die Antwort. Ja, sie war es, nach wie vor. Gerade weil sie so viele Dinge gesehen und erlebt hatte. Sie lachte. „Du willst das Ende dieser Geschichte vor dem Anfang erfahren? Um es zu verstehen, musst du sie von vorne hören. Hast du die Geduld dafür?“
Das Mädchen stemmte die Arme in die Seiten, als wäre es beleidigt. „Natürlich! Ich werde dir drei mal drei Tage lang lau-schen, ohne auch nur ein einziges Mal zu schlafen!“
Ein leichter Wind zog auf, und er trieb winzige Regentröpfchen mit sich, kaum mehr als ein aufziehender Nebel. Irgendwo in der Nähe sang ein Vogel, aber seine Melodie übertönte nicht den Schrei, der plötzlich über allem hallte.
Ein Laut der Wut, oder des Schmerzes? Jedenfalls klang er hinter dem Feuer auf, hinter dem Chaos, das das Kind überhaupt erst zu seinem Wunsch verleitet hatte: Erzähl es mir bitte.
Die Frau erinnerte sich an eine Geschichte der Veränderung. Aber wann hatte jemals ein Kind das Licht der Weltensplitter erblickt, ohne dass es vorher unter Schmerzen geboren worden wäre? Wann wäre nach dieser Geburt je alles sofort voller Frieden gewesen? Es gehörte zum Wesen der Dinge, dass Neues im Leid begann und Aufbegehren mit sich brachte. Das Gleichgewicht kam nicht von alleine, weder im Kleinen noch im Großen. Man musste es suchen, es festigen und die Hindernisse beseitigen.
Erzähl es mir bitte.
Wenn das nur so einfach wäre. Es gab Angst und Schrecken in dieser Geschichte, ebenso wie Freude und Lachen, und für diejenige, die nun erneut ihre Stimme erhob, gab es viele Wunder darin.
Es war die Geschichte sämtlicher Weltensplitter, und mehr als das. Aber für sie war es vor allem die Geschichte ihres Le-bens. Wie jung sie gewesen war, als es seinen Anfang genommen hatte. Fast selbst noch ein Kind. Ein weiter Weg von damals bis zu diesem Tag, bis zu dem Feuer unten am Hafen.
„Kommen Ungeheuer vor?“ Das Mädchen blinzelte.
„Ungeheuer?“, fragte die Frau zurück. „Wie meinst du das?“
Die Kleine legte den Kopf in den Nacken. „Zwischen den Weltensplittern, da ist doch nichts. Meine Schwester sagt, das Nichts dort oben ist wie ein dünnes Tuch, und wenn es reißt, stürzen die Ungeheuer durch, die dahinter lauern! Die haben noch nie Licht gesehen!“ Mit einem Mal zögerte das Kind und verknetete die Hände ineinander. „Meint meine Schwester jedenfalls“, ergänzte sie kleinlaut.
„Das stimmt nicht“, sagte die Frau. Und lachte. Doch es klang nicht so überzeugend, wie sie es gerne hätte. Natürlich gab es zwischen den Splittern kein Tuch, das reißen konnte, und es gab keine Ungeheuer, aber …
Sie fröstelte.
„Lass uns ein Stück zur Seite gehen“, forderte sie. „Dort können wir uns hinsetzen. Und dann hör gut zu und erzähl es da-nach deiner Schwester. Und allen anderen Kindern. Jeder soll es wissen. Die Wahrheit wird für Freiheit sorgen.“
Die neugierigen Augen blitzten vor Freude und Erwartung.
Sie gingen los und setzten sich auf hohe Steine, warm von der Sonne. Das Mädchen wählte einen etwas größeren, und so sahen sie sich gleich auf gleich ins Gesicht.
Die Frau stützte sich ab, und eine Echse huschte mit pendelndem Schwanz über ihre Finger. Der Anblick und das kitzelnde Gefühl brachten sie zum Lächeln. Das Tier verschwand im Schatten.
„Iih!“, machte das Mädchen.
„Ich mag Echsen.“
„Wieso?“
„Warum nicht?“
„Ich finde sie eklig.“
„Ich früher auch, aber …“ Die Frau brach ab, in Gedanken versunken.
„Ja?“
„Ich … ich sollte jetzt beginnen. Also lausche dem, was für mich damals auf diesem roten Blütenblatt geschrieben stand, in winzigen Buchstaben.
Lausche der allumfassenden Veränderung und der Geburt der neuen Zeit.
Es ist meine Geschichte und die meiner Freunde.
Und glaub mir, es wird drei mal drei Tage dauern, um alles zu erzählen … und du wirst zwischendrin schlafen müssen. Aber am Ende kehren wir zu dem Feuer zurück, das heute lodert, zu der Begräbnisbarkasse und zu dem, was wir darin begraben haben, zwischen roten Blütenblättern, die wir in den Himmel schickten.“
Sie begann zu reden, und von Satz zu Satz fiel es ihr leichter, und bald war sie mittendrin in der Vergangenheit.
 







Prolog


Es war kein vorübergehender Zustand, in dem sich Meisterin Glennara befand. Es war das Leben selbst, die einzig wirkliche Art des Seins, so wie der Haiku der primae es beschrieb:
Leichter als Federn,
den Elementen trotzend,
Himmel und Erde.
Die Augen geschlossen, die Hand- und Fußflächen aneinandergelegt und den Gesetzen der Natur entrückt, fühlte Glennara sich frei und ungebunden … selbst an einem Ort wie diesem.
Nicht ihre eigene Entscheidung hatte sie hierhergeführt, auf diesen Weltensplitter, der weit abseits der Zivilisation und jedes wärmenden Feuers lag, sondern die der Erhabenen Schwester, und Glennara glaubte fest genug an die äonenalten Prinzipien der Gilde, um sich ihrer Entscheidung ohne Widerspruch zu fügen. Auch wenn in diesen Tagen jedem, der sich auf den Außenwelten aufhielt, klar werden musste, dass die Dinge nicht mehr waren wie einst.
Bewahren, was wert
und was besteht seit Langem
der Gilde Macht und Glanz.
Anfangs waren die Veränderungen kaum zu bemerken gewesen, winzige Abweichungen vom Kreislauf der Geschichte, jede für sich genommen unbedeutend. Doch tief im Inneren hegte Glennara die Befürchtung, dass das große Ganze davon betroffen sein würde, das Gleichgewicht der Welten, vom eisigen Pol bis hinab zum Mahlstrom, der alles Wasser verschlang.
Welten unzählig,
schwebend wie im dunklen Traum,
umgeben vom Nox.
Der Gilde kam von jeher die Aufgabe zu, die Welten des Sanktuarions miteinander zu verbinden. Sie war das Blut in den Adern eines Körpers mit unzähligen Gliedern. Ohne die Gilde gab es keinen Fortschritt, keine Zivilisation. Sie hielt das Sanktuarion zusammen, schlug Brücken zwischen Welten, die ansonsten füreinander unerreichbar gewesen wären, ermöglichte Austausch und Handel und, wenn es die Lage gebot, auch feindliche Auseinandersetzung – und das allein aufgrund der geistigen Fähigkeiten, über die die Levitatinnen der Gilde verfügten und die sie weit über jedes andere sterbliche Wesen stellten.
Nie sich zu beugen
und niemals zu erliegen
weltlicher Gewalt.
Schon früh in der Geschichte hatten die Gildemeisterinnen ihre besondere Verantwortung erkannt und entsprechend gehandelt. Die primae, mutige Frauen, die über die Gabe der Levitation verfügten und nicht gewillt waren, sich zum Werkzeug machthungriger Weltenherren machen zu lassen, sagten sich von diesen los und schlossen ein Bündnis, das als der „Pakt“ in die Weltengeschichte einging. Dies war die Geburtsstunde der Gilde von Ethera, die von diesem Augenblick an die Geschehnisse im Sanktuarion entscheidend mitbestimmte. Nicht durch Krieg oder Gewalt, wie die Weltenherren es taten, sondern durch die alleinige Kontrolle über das Element der Luft.
Bedacht mit Gaben,
welche niemand sonst besitzt,
vom Schicksal bestimmt.
Glennaras Atem ging ruhig und gleichmäßig.
Die kollektive Erinnerung, die Generationen zurückreichte und von großen Taten kündete, von Gildemeisterinnen, die die Geschicke der Welten maßgeblich beeinflusst hatten, strahlte etwas Beruhigendes aus und versprach Beständigkeit. Selbst in Zeiten wie diesen.
Glennaras Meistergrad entsprach nur dem der dritten Stufe, und es stand ihr nicht zu, Entscheidungen der soror levitata infrage zu stellen. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder nach einem Grund dafür suchte, dass sie auf diese entlegene Welt versetzt worden war.
Hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen? War dies der Grund, dass man ihr befohlen hatte, ein Handelsschiff in die Polregion zu geleiten und bis auf Widerruf dort zu verbleiben? Nein. Sie musste darauf vertrauen, dass ihr Aufenthalt auf diesem barbarischen, von Eis und Schnee bedeckten Weltensplitter einer höheren Bestimmung diente. Sie musste Geduld bewahren und Trost aus der Meditation gewinnen, aus dem Zustand der Schwerelosigkeit, in den Glennara sich kraft ihres Willens zu flüchten vermochte, und in der beruhigenden Gewissheit der eigenen Vergangenheit.
Glennara erinnerte sich gut daran, wie es gewesen war, als sie die Fähigkeit erstmals an sich entdeckt hatte. Mehr als vierzig Zyklen lag dies zurück, dennoch konnte sie noch immer die Freude verspüren, die sie dabei empfunden hatte. Sie war aus dem Schlaf erwacht und hatte geglaubt, noch zu träumen. Erst allmählich war ihr aufgegangen, dass sie wach war und dass sie tatsächlich mehrere Ellen über ihrer Schlafstatt schwebte …
Auch jetzt öffnete Glennara die Augen und blickte hinab auf den steinernen Boden der kargen Kammer. Das schneeweiße Meditationsgewand schützte sie nur unzureichend gegen die Kälte, die jeden Winkel der Festung durchdrang. Dennoch hatte sie es angelegt, um sich der Gemeinschaft der Gilde verbunden zu fühlen. Wie ein zu Eis erstarrter Katarakt fiel der Stoff an ihr herab, während sie selbst in der Mitte der Kammer schwebte, scheinbar schwerelos und den Naturgesetzen entrückt.
„Gildemeisterin?“
Die Stimme, die von jenseits der grob gezimmerten und mit Eisenbeschlägen versehenen Tür drang, riss Glennara aus ihren Gedanken. Ihre erste Reaktion war Verärgerung, doch sie beherrschte sich, wie es von einer Meisterin erwartet wurde.
„Ja?“
„Es gibt Nachrichten, Gildemeisterin. Man wünscht Euch zu sprechen.“
Da es spät nachts war, flüsterte die Stimme. Dem Lispeln war jedoch zu entnehmen, dass sie einem der Animalen gehörte, die in der Festung ihren Dienst versahen, zu Glennaras Verdruss und Ärgernis.
„Worum geht es?“, schnaubte sie.
„Das weiß ich nicht, Gildemeisterin.“
Glennara schüttelte unwirsch den Kopf. Ihrer Abneigung gegen die barbarischen Bewohner dieser Welt gemäß hatte sie in den vergangenen Wochen kaum Kontakt zu ihnen unterhalten. Von den offiziellen Anlässen abgesehen, die ihr keine andere Wahl gelassen hatten, als die Gesellschaft des Weltenherrschers und seiner ungehobelten Gefolgschaft zu ertragen, hatte sie es vorgezogen, in ihrer Kammer zu bleiben und sich der Kontemplation zu widmen. Umso überraschter war sie darüber, dass jemand sie zu sprechen wünschte.
„Kann es nicht warten bis morgen früh?“
„Ich glaube nicht, Gildemeisterin. Die Besucherin meinte, es sei dringend.“
Die Besucherin!
Glennara atmete innerlich auf. Das musste bedeuten, dass jemand von außerhalb nach Jordråk gekommen war, womöglich eine Abgesandte der Gilde, die ihr Nachricht von Ethera brachte …
Sie beendete die Levitation und sank zum Boden zurück. Die Wehmut, die sie gewöhnlich überkam, sobald ihre Füße den Stein berührten, verspürte sie diesmal nicht. Sie bemerkte noch nicht einmal die eisige Kälte der grob behauenen Fliesen, über die sie eilig zur Tür schritt.
Mit einem Ruck zog die Gildeschwester den Riegel zurück und öffnete. Der Diener, der davor stand und dessen birnenförmiger Körper ihr nur bis zur Hüfte reichte, blickte furchtsam zu ihr auf. Seine Barthaare bebten, Glennaras strenge Züge spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen.
„Worauf wartest du?“, fuhr sie ihn an. „Bring mich zu ihm!“
Der Phocide nickte ergeben. Sie versuchte, den Diener und den strengen Geruch, den er verströmte, zu ignorieren, während sie seinen schlurfenden Schritten den von Fackeln beleuchteten Gang hinabfolgte.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Orientierung verloren hatte. Für die Levitatin sah einer der kalten, aus groben Steinen gemauerten Gänge wie der andere aus, und weder hatte sie sich je die Mühe gemacht, noch war sie oft genug unterwegs gewesen, um sie genauer zu erkunden. Wann immer sie von einem Ort zum anderen zu gelangen wünschte, nahm sie die Dienste eines Hausknechts in Anspruch. Eines Menschen, wenn es möglich war, eines Animalen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Doch obwohl sie sich nicht auskannte, war Glennara schon nach wenigen Abzweigungen und Treppen überzeugt, noch niemals zuvor in diesem Teil der Festung gewesen zu sein.
„Wohin führst du mich?“
„Zu Eurem Besuch“, lispelte der Robbenmann schlicht. „Das war Euer Wunsch, nicht wahr?“
Die Gildemeisterin empfand es als unter ihrer Würde zu antworten. Stattdessen fragte sie sich, was die Botin – denn um eine solche musste es sich handeln – ihr zu sagen haben würde. Hatte sich die Erhabene Schwester anders besonnen? Würde ihr Dienst an diesem unwirtlichen Ort womöglich schon bald zu Ende gehen? Würde sie auf eine andere Welt ver-setzt? Durfte sie womöglich zurückkehren in den Schoß der Gilde und den schützenden Hort von Ethera?
Allein der Gedanke ließ ihren Herzschlag beschleunigen, während sie weiter den Gang hinabschritt, ihre schlanke, von weißem Stoff umflossene Gestalt ein krasser Gegensatz zur gedrungenen Erscheinung des Animalen.
Schließlich gelangten sie an eine Tür, die einen Spalt weit offen stand; flackerndes Licht fiel auf den Gang, dazu war das leise Knacken von Kaminfeuer zu hören. Der Robbenmann blieb stehen und wies ihr den Weg. Glennara öffnete die Tür vollends und trat ein.
Dahinter befand sich ein mittelgroßes Gewölbe, dessen hohe Decke von Säulen getragen wurde, grob und plump wie alles an diesem Ort. In einer Esse loderte Feuer, in dessen flackerndem Schein die Pfeiler lange Schatten warfen. Weitere Möbel gab es nicht, und es war niemand zu sehen. Im ersten Moment glaubte Glennara, der Diener hätte sich einen Scherz mit ihr erlaubt, und wollte sich wutentbrannt abwenden, als sie das Geräusch vernahm.
Ein Rauschen wie von feinem Stoff.
Instinktiv blickte sie nach oben – um verblüfft zurückzufahren, als sie die Ehrfurcht gebietende, von einem weiten Gewand umwallte Gestalt gewahrte, die dort schwebte, reglos und mit vor der Brust verschränkten Armen. Ihre Augen starrten in milchigem Weiß.
„Ihr?“, fragte sie nur.
„Seid Ihr überrascht?“
„Durchaus. Ich hatte nicht erwartet, Euch so weit entfernt von …“
„Ihr hattet vieles nicht erwartet, ist es nicht so? Auch Eure Versetzung an diesen Ort nicht.“
„Nun“, entgegnete Glennara ausweichend, „ich habe mich bemüht, die Anweisungen der Erhabenen Schwester nach bestem Wissen auszuführen.“
„Das habt Ihr“, bestätigte die schwebende Gestalt, „und mehr als das.“
„Wie meint Ihr das?“
„Ihr habt dazu beigetragen, die Geschichte zu verändern, Glennara, dafür gebührt Euch mein Respekt und mein Dank.“
„Die Geschichte zu verändern?“, fragte die Gildemeisterin zweifelnd. „Ich fürchte, ich verstehe nicht. Wann soll ich die Dinge getan haben, von denen Ihr sprecht?“
„Noch nicht“, gab die schwebende Gestalt zurück, „aber Ihr werdet sie tun, schon in wenigen Augenblicken.“
Glennara begriff noch immer nicht, wovon die Rede war, aber sie gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Es musste sich um einen Test handeln, um eine Prüfung ihrer mentalen Reife. Entsprechend konnte ihre nächste Antwort über ihre Zukunft innerhalb der Gilde entscheiden …
„Was soll ich tun?“ Sie neigte ergeben das Haupt, kaum anders als der Robbenmann zuvor.
„Nichts“, lautete die seltsame Antwort. „Wartet ab. Schließt die Augen und vertraut darauf, dass Eure Bestimmung Euch leiten wird.“
Glennara gehorchte.
Sie wollte zeigen, dass sie würdig war, den nächsten Grad der Reife zu erlangen, dass sie bereit und willens war, zur Or-denswelt zurückzukehren und sich dort neuen Aufgaben zu stellen, dass sie in der Lage war …
Ein leises Knurren unterbrach ihren Gedankengang.
Die Gildemeisterin widerstand der Versuchung, die Augen zu öffnen. Auch dies mochte Teil der Prüfung sein. Stattdessen versuchte sie, sich zu konzentrieren und das innere Gleichgewicht zurückzuerlangen, das den Schwestern der Gilde als das höchste Ideal galt.
Es gelang ihr nicht.
Ein erneutes Knurren hinderte sie daran.
Es war näher als zuvor und paarte sich mit dem ekelerregenden Gestank von Fäulnis und Verwesung.
Die hässliche Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, ließ die Gildemeisterin alle Beherrschung vergessen. Sie riss die Augen auf und sah, wer vor ihr stand.
Einen Moment lang war sie wie erstarrt vor Entsetzen. Dann öffnete sich ihr Mund zu einem gellenden Schrei, der jedoch nie erklang. Denn die Klaue des Wolfs schnellte vor und zerfetzte ihre Kehle.

Michael Peinkofer

Über Michael Peinkofer

Biografie

Michael Peinkofer, 1969 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete als Redakteur bei der Filmzeitschrift „Moviestar“. Mit seiner Serie um die „Orks“ avancierte er zu einem der erfolgreichsten Fantasyautoren Deutschlands. Seine Romane um „Die Zauberer“...

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„Peinkofer versteht es, den Spannungsbogen langsam aufzubauen und setzt am Ende eine Überraschung, die Hunger auf mehr macht.“

Phantastik-Couch.de

„Splitterwelten bietet ein stimmungsvolles und detailreiches Universum mit gut gezeichneten, klassischen Fantasy-Charakteren und einer spannenden komplexen Handlung.“

www.koeln-journal.de

„Am Schluss kann man den nächsten Band schon kaum erwarten... Man darf gespannt sein!“

Booksection.de

„Der Auftakt zu dieser neuen Trilogie ist wirklich gelungen und mehrt die Hoffnung, dass uns mit Kalliope, Kieron und Croy noch viele spannende Lesestunden ins Haus stehen.“

Literatopia.de

„Ein so reizvoller wie vielversprechender Einstieg in eine neue Saga.“

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