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Sommergeister

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Mary Rickert
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Roman

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Sommergeister — Inhalt

Die 15-jährige Bay Singer weiß, was sie im Dorf sagen: ihre Mutter sei eine Hexe. Sie habe eine dunkle Vergangenheit. Furchtbares sei Jahrzehnte zuvor geschehen, das niemand erfahren dürfe. Bay leidet unter den Gerüchten und will sie nicht glauben. Doch etwas in ihr weiß es besser. Tatsächlich ahnte sie schon immer, dass ihre Mutter ihr etwas verschweigt. Und je weiter sie nachforscht, desto größer werden die Geheimnisse, auf die sie stößt - warum kann Bay auf einmal Geister sehen? Welchen jahrzehntealten Bund schloss ihre Mutter mit zwei weiteren, mysteriösen Frauen? Und welche Rolle spielt Bay selbst in den Ereignissen, die bis heute nachwirken? In einem magischen Sommer treffen alte Feinde und neue Freunde aufeinander. Und Bay entdeckt die unvorstellbare Wahrheit, die das Leben aller für immer bestimmen wird ... Mary Rickerts preisgekröntes Debüt erzählt von mehr als einem alten Geheimnis. Es ist eine zauberhafte Saga vom Erwachsenwerden und den Brücken zwischen Mutter und Tochter, Gegenwart und Vergangenheit, Freundschaft, Liebe und den Schatten, die uns nicht mehr loslassen.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.05.2016
Übersetzt von: Birgit Reß-Bohusch
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97409-7
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Leseprobe zu „Sommergeister“

Kapitel Eins


PoleiminzeDie Pflanze mit den meist violetten, mitunter auch rosa oder weißen Blüten erreicht eine Wuchshöhe bis zu einem halben Meter und findet Anwendung bei Blähungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Verstopfung und Nervosität. Sie gilt zudem als Abortivum.


Im Laufe der Jahre warfen die Leute oft Schuhe auf das Hanggrundstück mit dem düsteren alten Haus in der Muir Glenn Road. Die einzige Bewohnerin des betagten viktorianischen Gebäudes zeigte keinerlei Unmut über das herumliegende Schuhwerk, sondern studierte die stinkigen Trittlinge so [...]

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Kapitel Eins


PoleiminzeDie Pflanze mit den meist violetten, mitunter auch rosa oder weißen Blüten erreicht eine Wuchshöhe bis zu einem halben Meter und findet Anwendung bei Blähungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Verstopfung und Nervosität. Sie gilt zudem als Abortivum.


Im Laufe der Jahre warfen die Leute oft Schuhe auf das Hanggrundstück mit dem düsteren alten Haus in der Muir Glenn Road. Die einzige Bewohnerin des betagten viktorianischen Gebäudes zeigte keinerlei Unmut über das herumliegende Schuhwerk, sondern studierte die stinkigen Trittlinge so aufmerksam, als seien es Kunstgegenstände, und trug sie dann nach drinnen, wo all die Stiefel, Sneakers, High-Heels und Fußballschuhe eine Verwandlung in zauberhafte Pflanzgefäße erfuhren.

Es war dieser Schuhgarten, der das Haus zu einer lokalen Sehenswürdigkeit machte, obwohl es schon immer Spekulationen um verstörende Nährstoffe in seinem Erdreich gegeben hatte. Die große Ulme beispielsweise blieb nicht nur von dem Siechtum verschont, das in den Sechzigerjahren so viele Laubbäume dahinraffte, sondern gedieh so üppig, dass sie die gesamte linke Seite der Vorderveranda in ihren Schatten hüllte, ohne jedoch den Glanz des blauen Morgenhimmels oder die Blühkraft der Mondblumen zu beeinträchtigen, die sich um das Geländer rankten. Wilde Malven und Stockrosen entfalteten sich prächtig in ihren Stiefelschäften, die breiten Blätter der Funkien verdeckten die Schuhe, die ihnen als Pflanztröge dienten, die Poleiminze trieb so stark in ihrem Damenslipper aus, dass es bereits mehrmals notwendig gewesen war, sie zu teilen, und über klobigen Männer-Arbeitsschuhen erhob sich das zarte Blau der Vergissmeinnichtblüten.

Die Gerüchte über die Gärtnerin wucherten mit den Pflanzen des Gartens. Sie musste eine Hexe sein. Das lag auf der Hand, oder? War es nicht Beweis genug, dass so viele junge Frauen zu jeder Tages- und Nachtstunde bei ihr ein und aus gingen, allein, zu zweit, manchmal sogar in Begleitung eines Mannes? Was da drinnen wohl vor sich ging? Schwarze Magie, Séancen, Liebeszauber-Rituale, Abtreibungen? Aber falls jemand zufällig die einsame Straße entlangfuhr, wenn sich eine Besucherin dem Haus näherte, dann senkte diese den Kopf, verbarg das Gesicht unter einem Hut und behandschuhten Fingern oder einmal sogar hinter einem aufgespannten Schirm, obwohl die Sonne schien und weit und breit keine Regenwolke in Sicht war. Schließlich verstummte das Gerede über Frauen, die das Haus an der Muir Glenn Road aufsuchten, verdrängt von dem Gerücht über ein Neugeborenes, ein Findelkind, das Feen auf der Veranda abgelegt hatten, ein Geschöpf der Wälder, halb Mensch und halb Wolf, das Ergebnis einer Teenager-Romanze, ein Hexenmädchen, eine Missgeburt. Aber als die Kleine heranwuchs, erwies sie sich als beinahe normal, bis auf ihren seltsamen Hang zu Selbstgesprächen – doch wer wollte ihr das verübeln? Welches Kind hätte sich unter diesen Umständen nicht ein wenig absonderlich entwickelt?

Raben hocken auf den Giebeln von Glenn Muir und beschimpfen mit heiserem Gekrächze die Autofahrer, die das Tempo drosseln, um einen Blick auf den wunderlichen Garten zu werfen. Nicht alle von ihnen kehren zurück; es ist eine gefährliche Straße, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sich die weißen Trichter der Mondblume weit öffnen und einen so süßen Duft verströmen, dass in bestimmten Sommernächten jeder im Umkreis von zwanzig Meilen verzaubert wird.

In solchen Nächten träumen Frauen davon, sich im Mondlicht dem Haus zu nähern, während über ihnen die Blätter der Ulme raunen und die Äste knarren und der Geruch sterbender Blüten die Luft erfüllt. Die große Holztür schwingt auf, und die Frauen treten ein. Die Tür schließt sich lautlos, scheidet Erträumtes von der Träumerin und lässt die Träumerin im Dunkel allein.



Kapitel Zwei


Kürbis Rankengewächse mit runden essbaren Früchten, die als Symbol der Fruchtbarkeit gelten. Nach altem Brauch werden Gesichter in ausgehöhlte Kürbisse geschnitzt und von innen beleuchtet, um die Geister der Toten zu beschwören. Der Kürbis versinnbildlicht die Spirale des Lebens: Die Ernte bringt den Tod, doch aus den Samen wird neues Leben geboren.


Im Oktober hält sich Nan wie alle anderen an die Tradition. Sie stellt die unbeleuchteten Jack O’Lanterns auf die vordere Veranda, obwohl sie weiß, dass man sie herunterwerfen wird, bis sie, in matschige Stücke zerplatzt, blicklos und mit verzerrtem Grinsen am Boden liegen. Sie füllt die Holzschale mit Süßigkeiten und macht das Verandalicht an, obwohl nie Kinder mit ihren Bettelsprüchen vorbeikommen. „Wir wohnen zu abgelegen“, sagt sie zu Bay[Anm. d. Übers.: Bay (engl.) = Lorbeer], die mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen neben ihr am Küchentisch sitzt. Nan fragt sich, wann die Biegsamkeit der Jugend sie so vollständig verlassen hat, dass sie die Füße in den alten Holzpantinen streng wie eine Quäkerin in den Holzboden stemmt.

Sie naschen bei Kerzenschein selbst Schokoriegel, Gummischlangen und Kekse mit Schokostückchen, reden stockend über das Wetter, Bays Schulprojekte, den neuesten Klatsch aus der Stadt, und verharren mitten im Satz und mitten im Kauen, als vor dem Haus ein Auto bremst. Die Insassen schreien etwas Unverständliches, dann nimmt der Wagen wieder Fahrt auf und rast davon.

„Warum führen die sich so blöd auf?“, fragt Bay. „Sehen sie denn nicht, dass du ihnen nichts Böses willst?“

„Nicht alle Menschen halten Hexen für böse“, sagt Nan.

Bay verdreht die Augen. „Niemand benutzt das Wort Hexe als Kompliment.“

Nan seufzt. Sie hätte die Sache vor Jahren klarstellen sollen, damals, als Bay in Tränen aufgelöst aus der zweiten Klasse heimkam, weil eine Mitschülerin ihr vorgeworfen hatte, dass sie bei einer alten Hexe in einem Spukhaus wohne. Aber Nan war so erleichtert über die harmlose Anschuldigung gewesen, dass sie nur sagte: „Was für ein dummes Ding! Nicht alle Kinder sind so klug wie du, Bay.“

Nan denkt, wenn sie die Zeit noch einmal zu jenem Tag zurückdrehen könnte, würde sie eine andere Antwort geben. Ja, sie würde die Gelegenheit nutzen und Bay reinen Wein einschenken, ohne sich von ihrer Erleichterung beeinflussen zu lassen. Leider scheint diese verzerrte Sicht auf die Dinge ein häufiger Fehler in Nans Leben zu sein, eine Art unbehandelter Astigmatismus.

„Riecht es hier nicht irgendwie verbrannt?“

Bay runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf.

Nan schließt die Augen gegen den Rauch der Halloween-Feuer und erinnert sich, wie sie selbst als kleine Hexe mit ihren Freundinnen durch die dunkle Straße rannte, Mavis als Gespenst verkleidet, Eve als Elfe und Ruthie in einem orangefarbenen Kürbiskostüm, das nur kleine Schritte erlaubte, sodass sie mit ihren dicken Beinen hinterherstampfte und Mühe hatte, ihnen zu folgen.

„Nana? Nana?“

„Du liebe Güte, Kind, was gibt es denn?“, entgegnet Nan und bedauert im nächsten Moment ihren barschen Ton.

Bay zieht eine Schulter hoch, eine Geste, die Nan wahnsinnig macht, obwohl sie selbst nicht sagen kann, warum. „Ich wollte nur wissen, ob du okay bist.“

Nan bemüht sich, die Dinge wieder ins rechte Lot zu rücken. „Es ist gut, dass du mich in die Gegenwart zurückgeholt hast. Sieht so aus, als hätten mich die Feen für kurze Zeit entführt.“

Sie sieht darüber hinweg, dass Bay weiter die Beleidigte spielt, als sei ihr Nan selbst hier in der Ungestörtheit ihrer eigenen Küche peinlich.

Nun ja, Bay ist jetzt vierzehn und würde ihre Zeit sicher viel lieber mit Gleichaltrigen als mit ihrer betagten Mutter verbringen. Eigentlich hatte Nan sogar damit gerechnet, dass Bay dieses Jahr zu irgendeiner Halloween-Party gehen würde. Nan hätte es nicht gestört, den Abend ohne Bays kritische Blicke zu verbringen, allein mit einem Glas Kürbiswein oder zwei (zugegeben nicht ihr Lieblingsgetränk, aber wenn nicht heute, wann dann?).

„Was redest du da?“, fragte Bay, als Nan ganz beiläufig ihre Pläne erwähnte. „Versuchst du mich etwa loszuwerden?“

Nein, natürlich nicht! Wie kam sie nur darauf? Nicht im Traum hätte Nan an so etwas gedacht. Bay ist das Licht ihres Lebens, die Freude ihrer Seele, die Rose in ihrem Garten, die Würze und die Süße, ihr Herz, ihre große Liebe, über sie gekommen in einem Alter, da Nan nicht mehr damit gerechnet hatte. Und selbst, wenn das Kind in jüngster Zeit ein wenig schwierig ist – das gehört nun mal zur Pubertät.

Jetzt sitzen sie beide im flackernden Kerzenlicht an Nans kleinem Küchentisch und tun so, als merkten sie nichts von dem Schweigen, das zwischen ihnen steht, von der bleiernen Einsamkeit, die sich herabsenkt, weil sie nicht mehr miteinander reden können.

Bay geht zuerst zu Bett, die Lippen mit Schokolade verschmiert, kleine Reste von Gummischlangen zwischen den Zähnen und Zucker auf der Zunge. Sie legt sich nicht sofort schlafen, sondern setzt sich auf die Bettkante und wartet, bis sie Nanas Schritte auf der knarrenden Stiege und später ihr leises Schnarchen hört, das sie so störend findet. Dann erst schleicht sie auf Zehenspitzen die Nebentreppe zur Küche hinunter, in der es immer noch nach Kerzenwachs und Schokolade riecht, und weiter zum Eingangsbereich, wo sie am Vorhang vorbei durch das dunkle Glas späht.

Als sie noch jünger war, erkannte Bay kaum einen der verkleideten Herumtreiber, doch inzwischen fällt ihr das nicht mehr schwer. Manche kommen immer wieder: Chad Lyle etwa, Darren Prost und sogar Kelly Madden – die Typen eben, von denen Bay nichts anderes als Unfug erwartet. Aber letztes Jahr hatte sie geglaubt, auch Wade Enders bei den anderen zu sehen, obwohl ihr das komisch vorkam, weil es einfach keinen Sinn ergab. Wade war kein Junge, der in die Dunkelheit abtauchte, um allerlei anzustellen, zumindest damals nicht. Inzwischen geht allerdings das Gerücht um, dass er mit Shelly zusammen ist, und was er mit ihr anstellt … Bay stellt sich unwillkürlich vor, wie es wohl wäre, von Wade Enders geküsst zu werden.

Es ist so spät, als sie kommen, dass Bay denkt, die Nacht habe selbst den Mond geschluckt, obwohl ihr später zu Bewusstsein kommt, dass nur ihre Nana so etwas sagen würde, anstatt den Wolken die Schuld zu geben. Bay ist enttäuscht und erleichtert zugleich, dass er nicht bei den anderen ist. Während sie Chad, Jessica, Nathan und einen Typen aus dem ersten Semester, dessen Name ihr nicht einfällt, beobachtet, fragt sie sich, ob Wade heute Nacht mit Shelly zusammen ist, vielleicht auf dem Parkplatz an der Straße nach Wood Hollow, der fast verlassenen Siedlung, die hinter Nans Haus beginnt, nahe genug, dass sie zu Fuß hingehen könnte, obwohl ihre Nana sie vor dem Waldstück mit den vielen Brennnesseln und dem Giftefeu gewarnt hat. Bay darf nicht weiter als bis zu den beiden Zwergapfelbäumen gehen, deren verkrüppelte Äste fast von Fliederbüschen und hohem Gras überwuchert werden. Ohnehin hat sie keine Lust, Wade und Shelly nachzuspionieren und mit anzusehen, wie sie mit den Knöpfen, Reißverschlüssen und Spitzen ihrer Kostüme herumfummeln. Lieber steht sie verborgen hinter dem dunklen Glas und beobachtet, wie Vandalen über den explodierenden Kürbis fluchen, in den sie ein paar Wasserballons gestopft hat. Als Bay endlich in ihr Bett kriecht, ist sie mit dem Halloweenfest ausgesöhnt.


Der Kleiderstapel auf dem Sessel neben ihrem Bett segelt zu Boden, als Nan aus ihrer unbequemen Stellung hochschreckt, geweckt durch den Lärm der halbwüchsigen Banditen unter ihrem Schlafzimmerfenster. Sie wartet, bis sie abgezogen sind und Bay wieder die Treppe nach oben schleicht, eine Art Ritual, das sich in den letzten paar Jahren eingebürgert hat. Nan kann nicht glauben, dass sie eingenickt ist, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, Wache zu halten wie jedes Jahr an Halloween, seit Bay in ihrem Haus lebt und vor den Geistern beschützt werden muss. Sie entkorkt den Wein und schenkt sich ein Glas ein, etwas erstaunt über das starke Aroma überreifer Kürbisse. Aber er schmeckt angenehm süß, und nach ein paar Schlucken überlagert der Rosmarinduft der Erinnerung den Geruch, bis sie ihn kaum noch wahrnimmt.

Das Leben besteht aus Erinnerungen, denkt Nan, und ihr kommen die Gerüche nach trockenem Laub, Äpfeln und Rauch in den Sinn, als sie sich jenes längst vergangene Halloween ihrer Kindheit ins Gedächtnis zurückruft, an dem Eve ihr rosa gefärbtes Erstkommunionskleid trug. Die üppigen Rüschen aus Spitze bauschten sich um ihre dünnen Arme und Beine, und die Feenflügel glitzerten hinter ihrem Gesicht mit dem spitzen Kinn, der Stupsnase und den eine Spur zu weit auseinanderstehenden Mandelaugen, die ihr das Aussehen eines süßen Kätzchens gaben. Wie glücklich Eve war, als sie die dunkle Straße entlangwirbelte und ihren Feenstab schwenkte, zu den Häusern, den Gärten und zum Mond.

Mavis dagegen war schlecht gelaunt. Sie hatte den Unglaublichen Mister Black einfach blöd gefunden. „Der mit seinen billigen Zaubertricks!“, sagte sie, eine Hand in die weiß gewandete Hüfte gestemmt.

„Ach, ich weiß nicht“, sagte Nan. „Die Sache mit dem Kaninchen war doch ganz nett.“

Mavis verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße darin sah. In ihrem weiß geschminkten Gesicht wirkte das echt gespenstisch. Nan bereute es insgeheim, dass sie den anderen gefolgt war. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, auf direktem Weg heimzukommen, aber Mavis hatte darauf bestanden, am Friedhof vorbeizugehen, und sich über Nan, Ruthie und Eve lustig gemacht, als die nicht mitkommen wollten.

„Hey, wartet auf mich!“

Nan schüttelte den Kopf über Ruthie mit ihrem runden, erhitzten Gesicht unter der grünen Stängelkappe und den knallroten Flecken auf den Wangen. Ein Kürbisgesicht auf einem Kürbisgesicht, dachte sie, doch dann biss sie sich auf die Lippe. Es war nicht nett, über eine Freundin zu lachen, auch wenn es sich um Ruthie handelte.

„Du hast da Schokolade dran“, sagte Nan und deutete auf ihre eigenen Mundwinkel.

Ruthie fuhr sich mit der Zungenspitze über den Rand der Lippen, bis sie die verschmierte Stelle fand. Lächelnd wischte sie mit einem Finger über die Wange und schleckte ihn ab, ehe sie sich erkundigte, wohin Eve verschwunden war.

Obwohl das alles Jahrzehnte vor der Zeit geschah, in der ständig Kinder verschwanden, erinnert sich Nan, dass sie es plötzlich mit der Angst zu tun bekam. Sie erinnert sich, dass sie der Gedanke durchzuckte: Du wirst jede Menge Ärger kriegen! Aber gleich darauf deutete Mavis mit dem weiß behandschuhten Finger nach vorne. „Da ist sie.“

Ohne es zu merken, hatte sich Eve so weit von ihnen entfernt, dass sie wirklich wie eine kleine Fee aussah, die ihren Stab schwang.

Sie alle sahen die große Gestalt, die aus dem Dunkel trat und sich zu Eve hinunterbeugte, als flüsterte sie ihr etwas ins Ohr. Sie sahen, wie Eve einen halben Schritt zurückwich. War es ein Trick der Nacht oder etwas anderes? Als Eve sich ihnen zuwandte, schien der Abstand zwischen ihnen eine Illusion zu sein. Mondlicht fiel auf ihr Gesicht, und sie starrte ihnen aus weit aufgerissenen Augen flehend entgegen.

„Kommt!“, sagte Mavis.

„Komm!“, sagte Nan zu Ruthie, ohne jedoch auf sie zu warten, und rannte hinter Mavis her, die ein irres Tempo vorlegte, obwohl sich das weiße Laken zwischen ihren Beinen zu verheddern drohte. Als Nan sie eingeholt hatte, stand Eve abseits, und Mavis redete mit dem Mann, der gar kein Fremder war, sondern Mister Black höchstpersönlich.

„Also, das bezweifle ich“, sagte sie gerade mit Bestimmtheit.

Es war echt schockierend, wie herrisch Mavis manchmal mit Erwachsenen umsprang.

„Hallo, meine Süße“, wandte sich Mister Black an Nan. „Kannst du mir vielleicht helfen? Ich scheine mich verlaufen zu haben.“

„Hey, Sie sind doch Mister Black!“, schrie Ruthie so laut, dass Nan befürchtete, jemand könnte aus einem der Häuser auf der anderen Straßenseite kommen, um nachzusehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte.

„Der Nämliche.“ Er verbeugte sich tief.

Aus der Nähe betrachtet war er sehr groß und sehr hager, und er hatte eine Zahnlücke, was Nan entgangen war, als er auf der Bühne stand. Er schien außerdem älter zu sein, als sie gedacht hatte, denn sein Gesicht war voller Runzeln, obwohl er noch ganz dunkle Haare hatte.

„Wo ist Ihr Kaninchen?“, fragte Ruthie.

„Oh, Bella? Ihr müsst wissen, dass Bella kein gewöhnliches Kaninchen ist.“

Mavis gab ein Geräusch von sich, eine Art missgelauntes Hüsteln, laut genug, dass sich alle Blicke ihr zuwandten. Sie stand da, immer noch eine Hand in die Hüfte gestemmt.

„Hören Sie, Mister“, sagte sie. „Ich glaube nicht, dass Sie irgendwen aus der Gegend hier kennen, und es ist uns verboten, mit Fremden zu reden.“

„Nun, da irrst du dich aber“, sagte Mister Black.

Letztes Jahr an Halloween hatte es in der Legion Hall eine Marionetten-Aufführung gegeben, und Nan fand, dass Mister Black wie eine dieser Marionetten aussah. Als er sich jetzt zu ihr umwandte, schien er sich sogar wie eine dieser Puppen zu bewegen, an Händen, Ellbogen und Kopf von Schnüren gezogen.

„Ich kenne Grace Winter.“

„Die Hexe?“, fragte Ruthie, wieder zu laut. „Sie ist Nans Nachbarin.“

„Und Nan ist …“ Mister Black schaute sich suchend um, obwohl Nan das komische Gefühl hatte, dass dies hier eine Art Spiel war, dass er bereits wusste, wie sie alle hießen, aber wie war das möglich?

„Sie wohnt neben mir.“

„Grace Winter ist keine echte Hexe“, erklärte Mavis. „Das glauben bloß ein paar dumme kleine Kinder.“

„Wir dürfen heute alle bei Nan übernachten“, verriet Ruthie, der allem Anschein nach entgangen war, dass Mavis sie eben beleidigt hatte. „Sie können mit uns kommen.“

Während Nan die Augen nach oben rollte und Ruthie eine Grimasse schnitt, fiel ihr auf, dass sie genau vor dem Friedhofstor mit seinen schwarzen Gitterstäben standen, die wie Pfeile in den Himmel stachen. Eve hatte das wohl auch bemerkt, denn sie rannte so schnell davon, als seien ihre Flügel in Brand geraten. Ruthie schlug ein Kreuzzeichen über der Kürbis-Brust und weckte damit die Aufmerksamkeit von Mavis. Die starrte mit gerunzelter Stirn die Marmorengel und dunklen Grabsteine an, ohne jedoch ihre Schritte zu beschleunigen. Nan ging neben Mister Black und tat ebenfalls so, als sei ihr der Friedhof egal. Es dauerte nicht lange. Die Stadt war nicht sehr groß, und noch gab es nicht allzu viele Gräber. Eve wartete vor dem Haus der alten Dame Richie mit den herbstlich kahlen, von Dornen übersäten Rosensträuchern im Vorgarten.

„Du bist aber ein flinkes kleines Mädchen“, sagte Mister Black.

Eve wandte sich wortlos ab und schwenkte ihren Elfenstab, als zauberte sie die Nacht herbei.

„Sie meint es nicht böse“, wisperte Ruthie. „Sie ist bloß traurig, weil ihre Mama im Sterben liegt.“

Mavis befahl Ruthie, den Mund zu halten, während Eve nicht aufhörte, mit ihrem Stab weite, langsame Bögen durch die Luft zu ziehen, eine müde Fee, die auf die mondbeschienenen Häuser, den rissigen Gehsteig und das dürre Laub deutete. Nan hatte seitdem nie mehr jemanden kennengelernt, der dem Tod näher war.

„Mister Black?“, fragte Ruthie.

„Sprich lauter! Ich kann dich kaum verstehen.“

„Woher kommen Ihre magischen Kräfte?“

Mister Black lachte so laut und so lange, dass Eve sich nach ihm umdrehte. Nan schämte sich für Ruthie, aber so war sie nun mal. Immer stellte sie dumme Fragen. Als er endlich zu lachen aufhörte, setzten sie ihren Weg fort, Eve ihren Stab schwenkend, Mavis mit weit ausgreifenden, wenig gespensterhaften Schritten und Nan und Ruthie links und rechts von Mister Black, bis Nan merkte, dass Ruthie aussah, als würde sie gleich losflennen. Sie wechselte auf die andere Seite und nahm ihre kleine Hand, die sich ganz warm und klebrig anfühlte.

Als sie vor Nans Haus anhielten, deutete Mavis mit ihrem Geisterfinger auf die von dürren Ranken und welken Blumen überwucherte Vorderveranda des Nachbargebäudes. Auf jeder der Eingangsstufen grinste ihnen ein von flackerndem Kerzenlicht erhelltes Kürbisgesicht entgegen. „Da wohnt sie“, sagte Mavis.

Mister Black bückte sich so tief, dass er Nan mit seinem Atem streifte. Zu ihrer Verblüffung roch er nach Zuckerwatte. Er hob eine Hand dicht vor Ruthies Nase, und sein knochiger Finger deutete starr nach oben.

Nan folgte der Linie seines gekrümmten Nagels bis hinauf zum Mond. „Von dort kommen alle magischen Kräfte“, sagte er. Als sie den Blick wieder senkte, sah sie gerade noch, wie er Ruthies Lippen mit der Fingerspitze berührte, eine Geste, die ein komisches Gefühl in ihr hervorrief, fast so, als habe sie etwas Böses beobachtet.

Nan hegt den Verdacht, dass ihre Erinnerung an jenen Abend von ihrem Kindergedächtnis und der Aufregung des Halloween-Spuks geprägt ist, aber sie hat immer noch das Bild vor Augen, wie er sich abwendet und fortgeht und dabei seine menschliche Gestalt verliert wie eine mit schwarzem Stift auf die Silbernacht skizzierte Figur. Sie erinnert sich, dass sie ihm nachschaute, wie er die Stufen zu Miss Winters Haus hochstieg und seine Konturen fast verschwanden, wie die große Tür mit einem Knarren aufging und von drinnen hämisches Gelächter ertönte, ehe die Stimme ihrer Mutter den Bann brach.

„Nan, was macht ihr noch da draußen? Wo seid ihr Mädchen bloß gewesen? Wisst ihr, wie spät es ist?“

Nan war nur einen Moment lang abgelenkt gewesen, aber als sie sich umdrehte, fiel Miss Winters Tür bereits zu und erzeugte eine Zugluft. Sämtliche Kerzen und das Grinsen der Kürbisgesichter erloschen, Kürbiswein spritzt auf Nans Hand und erschrocken kehrt sie in die Gegenwart zurück. Sie blinzelt, in dem unbequemen Sessel sitzend, ins Dunkel.

Nan atmet tief durch und stählt sich gegen den Schmerz, der sie durchfährt, als sie ihre steifen Glieder bewegt. Behutsam stellt sie das Glas neben der offenen Flasche auf dem Boden ab. Mit achtundsiebzig ist sie zu alt, um in Sesseln zu schlafen, zu alt, um einen Teenager großzuziehen, und ganz bestimmt zu alt, um sich vor Geistern zu fürchten. Aber hat sie eine Wahl?, fragt sie sich wie so viele Male zuvor. Hat die Schuldbeladene eine andere Wahl, als die Vergeltung zu fürchten?

Mary Rickert

Über Mary Rickert

Biografie

Mary Rickert studierte am Vermont College of Fine Arts und veröffentlichte zahlreiche hochkarätige Novellen und Erzählungen. Ihre Geschichten sind mal still, mal aufrüttelnd und leben von ihrer feinen, berührenden Magie. „Sommergeister“, ihr erster Roman, gewann 2015 den renommierten Locus Award für...

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