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PolaPola

Pola

Daniela Dröscher
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Roman

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Pola — Inhalt

Eine fabelhafte Lügnerin, eine Frau, die alles hatte: Männer, Juwelen, Häuser, Ruhm - und für Letzteres bereit war, alles andere zu opfern. „Pola“ ist die Geschichte der Schauspielerin Pola Negri, Geliebte Charlie Chaplins und Rudolph Valentinos. Ein Roman über das Leben der großen Stummfilm-Diva.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 17.02.2014
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-8333-0931-1
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 20.08.2012
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7594-9
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Leseprobe zu „Pola“

1 Es war der Tag, an dem Pola Negris Karriere zu Ende ging. Langsam rollte der Cadillac den Sunset Boulevard hinab. Neben Pola saß ein Mädchen. Ihr Lidschatten und Make-up waren zu Rinnsalen zerflossen, die Kleine hatte ununterbrochen geweint. Nun, kurz vor der Ecke Crescent Heights, waren die Tränen versiegt, das Mädchen schlief. Dichter Nebel hing über der dunklen Fahrbahn, und erst als Pola auf die Einfahrt zusteuerte, merkte sie, dass vor dem Anwesen die cremeweiße Limousine von Mercedes de Acosta quer über den Gehweg ragte. Die Drehbuchschreiberin [...]

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1 Es war der Tag, an dem Pola Negris Karriere zu Ende ging. Langsam rollte der Cadillac den Sunset Boulevard hinab. Neben Pola saß ein Mädchen. Ihr Lidschatten und Make-up waren zu Rinnsalen zerflossen, die Kleine hatte ununterbrochen geweint. Nun, kurz vor der Ecke Crescent Heights, waren die Tränen versiegt, das Mädchen schlief. Dichter Nebel hing über der dunklen Fahrbahn, und erst als Pola auf die Einfahrt zusteuerte, merkte sie, dass vor dem Anwesen die cremeweiße Limousine von Mercedes de Acosta quer über den Gehweg ragte. Die Drehbuchschreiberin war bekannt für drei Dinge: für die Rollen, die sie der Garbo auf den Leib schrieb, ihre feurige Liebe zu Frauen und für die Angewohnheit, ihren Wagen einfach dort abzustellen, wo es ihr gerade gefiel. Das abrupte Abbremsen riss das Mädchen aus dem Schlaf, Pola selbst war überrascht von der Heftigkeit, mit der ihr Wagen reagierte. Mit aufgerissenen Augen schaute die Kleine geradeaus. Pola klemmte sich eilig die Tasche unter den Arm. Beim Aussteigen stieß sie sich heftig die Stirn am Türrahmen an. Sie tastete nach der schmerzenden Stelle, dann stöckelte sie fluchend in die Nacht hinaus. Das zitternde Bündel an ihrem Arm tat ihr leid. Pola hatte das aufgelöste Geschöpf in einem Dineraufgegabelt. Sie hatte nach dem Gespräch mit ihrem Agenten nur kurz Halt machen wollen, um sich mit einem Banana Flip zu stärken, als plötzlich ein Mädchen auf sie zugestürzt war. Nancy Robbins war ein stupsnasiges, sommersprossiges und außerordentlich frühreifes Kind von etwa zwölf Jahren, das in den Schulferien aus New York angereist kam, um seine Patentante, die Schauspielerlegende Alla Nazimova, zu besuchen. Die Nazimova wiederum war eng mit Mercedes de Acosta befreundet und vertraute dieser bei ihren Touren durch die Stadt die kleine Nancy an, denn eigentlich wusste sie mit ihrem Patenkind nichts anzufangen. Nancy tat so, als ob es sie nicht weiter kümmerte, dass man sie abschob. So kess sie sich nach außen gebärdete und so hemmungslos sie mit den männlichen Gästen im Hotel ihrer Tante flirtete, als so zartbesaitet entpuppte sie sich, wenn sie nur lange genug verloren über einem Eisbecher gesessen und Rotz und Wasser in ihre Streusel geheult hatte. Pola hatte entschieden, sie nach Hause zu bringen, die Drehbuchschreiberin hatte sie ohnehin besuchen wollen. An der Limousine vorbei zwängte Pola sich durch ein Tor, das auf das weitläufige Anwesen mit dem Haupthaus und etwa fünfundzwanzig kleineren Bungalows führte. Über dem Eingang prangte ein großes Holzschild „Garden of Allah“. Die Nazimova hatte ihr Haus nach dem Börsencrash 1929 in eine Art Künstlerhotel verwandelt. Namhafte und ehemals namhafte Menschen, die zuvor nur auf ihren legendären Partys ein- und ausgegangen waren, lebten hier nun, da die Hausherrin zu einer Concierge herabgesunken war, als zahlende Gäste. Schriftsteller wie Hemingway und Fitzgerald, Schauspielgrößen wie die Marx Brothers und Dorothy Gish, sowie der tagein tagaus Klavier spielende Russe Rachmaninov hockten wie Tiere einer seltsamen Menagerie in den Häusern des von Olivenhainen bewachsenen Geländes. Dort, wo zuvor nur gefeiert worden war, wurde nun auch gearbeitet. In der Mitte des kreisrunden Salons döste, ganz ohne Leine oder Käfig, ein Leopard. Als das Tier die Besucher bemerkte, schickte es ein leises Knurren zu ihnen herüber, starrte dann aber weiter trübselig vor sich hin. Mit den Schauspielerinnen der Stadt teilte die Großkatze das Schicksal, dass man sie gleich nach ihrer Ankunft in Hollywood zum Zahnarzt verfrachtet hatte: So, wie man angehenden Filmdiven sämtliche Backen- und Weisheitszähne zog, damit ihr Gesichter schmal und hohlwangig wirkten, waren dem Raubtier sämtliche Krallen und Reißzähne entfernt worden. „Nancy, endlich“, rief Alla, erhob sich aus dem malachitgrünen Fauteuil und umschlang das Kind mit dramatischer Geste. „Sie war kurz davor, per Anhalter nach Hause zu fahren.“ Wie immer, wenn Pola in Aufregung geriet, feuerte ihr polnischer Akzent dabei scharf gegen das Amerikanische. In Kombination mit ihrer dunklen, verrauchten Stimme klang sie wie ein empfindsamer Mafioso. „Ihr könnt das Kind doch nicht einfach in der Nacht zurückzulassen.“ Seelenruhig kam Mercedes de Acosta auf sie zu geschlendert. „Nancy ist dreizehn“, sagte sie. „Die halbe Stunde Fußweg hat noch niemandem geschadet.“ „Warte, ich hole dir einen Eisbeutel“, sagte Alla mit Blick auf Polas Stirn. Die Kleine zog sie mit sich, um ihr einen Klaps auf den Po zu geben. „Geh und wasch dir die Farbe aus dem Gesicht.“ Im Weggehen streckte Nancy Pola die Hand entgegen. „Danke fürs Mitnehmen.“ „Gern geschehen“, murmelte Pola. Sie sah dem Mädchen hinterher, wie es mit kessem Hüftschwung die Treppe hinauf verschwand. Es war ihr anzusehen, wie sehr es sie wurmte, in die Rolle des Kükens verwiesen zu sein. Oben auf der Galerie angekommen, beugte Nancy sich über das Geländer. Blitzschnell streckte sie den Frauen die Zunge raus, dann drehte sie sich um und verschwand auf ihr Zimmer. „Die jungen Dinger werden auch immer frecher.“ Alla seufzte. „Ich konnte Kinder noch nie leiden“, sagte Pola leichthin und presste den Eisbeutel, den Alla ihr reichte, gegen die Stirn. Als sie Mercedes genauer ansah, wich Pola erschrocken zurück. Anders als sonst trug die Drehbuchschreiberin das kurze Haar nicht mit Brillantine glatt zurückgekämmt. Weich umspielten stattdessen Locken das scharf geschnittene Gesicht. Etwas darin aber wirkte schief, wie aus den Fugen geraten. „Glotz nicht so, Herrgott! Sie hatte einen Autounfall“, flüsterte die Nazimova Pola ins Ohr. „Sie hat Unmengen Operationen hinter sich.“ Pola sog heftig Luft ein. Mitleid schoss in ihr auf und versetzte sie in eine andere Stimmung. „Pola! Zurück im Lande“, fuhr eine Stimme dazwischen, bevor sie Mercedes begrüßen konnte. Das schlechte Englisch hallte laut und schamlos von den Wänden wider. Im hinteren Teil des Raumes schritt gazellengleich die Dietrich auf und ab. Sie trug einen hellen Hosenanzug und eine jener dunklen Brillen, die in diesem Sommer auf Long Island in Mode gekommen waren. Um den Hals hatte sie eine gelbe Krawatte gebunden. Es war unverschämt, wie gut sie damit aussah. Beim Auf-und-ab-Gehen schwenkte sie ein kleines Fässchen, aus dessen Öffnungen fauchend Rauch hervorquoll. Es stank gotterbärmlich nach Moschus. Wieder wich Pola zurück. So abergläubisch, wie sie war, und so häufig sie einen Blick in das Kristall der örtlichen Wahrsagerin riskierte, so skeptisch blieb sie gegenüber allen fremdländischen Ritualen. Marlene hob die Hand, klimperte zur Begrüßung mit den Fingern durch die Luft, und stolzierte weiter mit ihrem Fässchen umher. Alla nahm Pola abermals zur Seite. „Sie ist beleidigt, weil Mercedes sich weigert, ihrem von Sternberg den Tripper an den Hals zu hexen. Der Herr Regisseur hat sich doch von ihr getrennt.“ „Ein Tripper wäre gegen mein Credo“, entgegnete Mercedes. „Ich erfülle nur gute Wünsche. Keine schlechten.“ Sie zuckte die Achseln und verschränkte die Arme. „Wenn ihr mich fragt, war das abzusehen“, seufzte Alla. „So verliebt, wie der in sie war. Gott, es macht ihr solchen Kummer, der Ärmsten.“ Pola staunte. Der Unfall der Acosta, die Trennung des Dreamteams Dietrich und von Sternberg – ein Jahr nur war Pola auf Vaudeville-Tournee gewesen, und schon wusste sie nicht mehr, was hinter den Kulissen Hollywoods vor sich ging. Neugierig stellten sich die drei Frauen vor Pola auf und überprüften sie von Kopf bis Fuß nach Falten, Fehlern und Fettablagerungen. Pola frohlockte. Hier waren also die Damen des „Nähkreises“, wie man sie in Hollywood nannte, versammelt. Anders als die meisten anderen Kolleginnen – allen voran Greta Garbo, die argwöhnisch über ihr Image als unberührbare, rätselhafte Sphinx wachte – scherten diese Frauen sich einen Dreck um ihren Ruf. Mit der seichten, heilen Welt der Musicals und Boulevardkomödien, die gegenwärtig in Hollywood regierten und die von den Darstellern eine saubere Weste verlangten, hatten sie nichts am Hut. Die Währung, mit der sie handelten, war der Skandal. Mercedes de Acosta stammte in direkter Linie von der Herzogin von Alba ab. Name und Herkunft verliehen ihrer Erscheinung etwas Hoheitsvolles. Mercedes’ langjährige Liaison mit Greta Garbo, die sie allerdings nie davon abgehalten hatte, auch mit anderen Frauen, wie etwa der Dietrich, zu schlafen, galt in Hollywood als offenes Geheimnis. Die Presse schlachtete die Affäre nur deshalb nicht aus, weil man den gigantischen Erfolg nicht gefährden wollte, den jeder Film mit der Göttlichen garantierte. Von diesen Kassenschlagern lebte nicht nur ihre Produktionsfirma MGM, auch alle anderen Studios waren darauf angewiesen. Wäre bekannt geworden, dass Greta Garbo Frauen liebte, es hätte das gesamte Starsystem Hollywoods in den Schmutz gezogen. Marlene Dietrich war die einzige Frau in ganz Los Angeles, die auf offener Straße Hosen trug. Berühmt geworden war sie mit einer Filmszene, in der sie, als Mann verkleidet, ein junges Mädchen küsste. Marlenes Verschleiß an Liebhabern beiderlei Geschlechts zeitigte über die Dauer eines Jahres mehr Opfer, als eine Spinne Fliegen fing. Sie selbst jedoch blieb von Liebesdingen so ungerührt wie eine deutsche Eiche, was die Aura des kühlen Vamps noch steigerte. Selbst ihre stadtbekannte Pedanterie, dass sie so überpedantisch war, vor Überseefahrten eigenhändig das Klo ihrer Kajüte zu schrubben, konnte dem Image der Femme fatale keinen Abbruch tun. Und dann war da noch die Hausherrin Alla Nazimova, die emigrierte Russin, eine lebende Legende. Alla war die erste Filmschauspielerin, die freizügige, selbstbewusste Frauen verkörpert hatte. Frauen, deren Hände, wenn man ihnen einen Dolch in die Finger drückte, nur ein Ziel kannten: das Herz des männlichen Helden. Ihrer fünfzig Jahre zum Trotz hatte die Nazimova noch immer die Ausstrahlung eines selbstbewussten jungen Mädchens. Gemeinsam mit ihrem Ensemble brachte sie an den Theatern des Landes homoerotische Dramen auf die Bühne. Dass ein Gesetz die gleichgeschlechtliche Liebe neuerdings als gotteslästerlich unter Strafe stellte, interessierte eine Nazimova nicht. Inzwischen hatte Mercedes sich aus der Dreierreihe gelöst und war vor Pola hingetreten, um den unverhofften Gast mit einem Kuss auf die Wangen zu begrüßen. „Es geht um das Buch“, begann Pola, löste sich aus der Umarmung, und trat einen Schritt zurück. Von ihrem Agenten hatte Pola am Nachmittag erfahren, dass ihr Produzent, David O. Selznick, die Lebensgeschichte der Tänzerlegende Isadora Duncan verfilmen wollte. Angeblich erwog Selznick, diese Rolle mit Pola zu besetzen. Das Drehbuch dazu hatte er bei de Acosta in Auftrag gegeben. Sicher würde das Skript so exzellent werden wie alles, was Mercedes schrieb, nur wollte Pola sicher gehen, ob auch ja genügend Tanzszenen darin vorgesehen waren – immerhin war Pola Negri eine ehemalige Primaballerina. „Ich wollte nur sicher gehen, dass du die verehrte Isadora auch tanzen lässt. Bei euch Schreibern weiß man ja nie.“ „Tanzen, wieso sollte ich? Greta kann doch gar nicht tanzen“, erwiderte Mercedes erstaunt. „Greta?“, fragte Pola. „Wieso Greta?“ Eine Amsel flatterte wild in einem Käfig auf. Mercedes strich sich eine dunkle Strähne aus der vernarbten Stirn. Ungläubig wanderte ihr Blick über Polas Gesicht. Etwa zwei Sekunden lang war es still. Für einen Moment tauchte selbst die Dietrich hinter den dunklen Gläsern hervor. Auch Alla, die dazu übergegangen war, den aufgescheuchten Vogel zu füttern, sah sich nach ihr um. Drei Augenpaare blickten sie an. Dann lachte die Dietrich schallend los. „Also so was.“ Das Lachen der Deutschen erinnerte an eine wiehernde Stute. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du die Hauptrolle spielst? Schätzchen, das ist wirklich zu gut.“ „Was meinst du?“, fragte Pola. Ihre Stimme zitterte plötzlich. „Du spielst Mary Desti. Isadora Duncans Freundin. Die Kosmetikstudiobesitzerin“, sagte Mercedes. Pola sah in das Antlitz der Spanierin, das im Zimmerlicht fast olivfarben wirkte. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie die Wahrheit sagte. Pola presste die Lippen aufeinander. Ohne ein weiteres Wort griff sie nach ihrem Hut. „Jetzt warte. Sei nicht gleich beleidigt, ich kann schließlich nichts dafür.“ Dankbar nahm Pola die langstielige Zigarette, die Mercedes ihr entgegenstreckte. Dass Selznick die Rolle mit der Göttlichen und nicht mit ihr besetzen wollte, erstaunte Pola im Grunde nicht. So unterschiedlich die Karrieren der hiesigen Schauspielerinnen verliefen, ein Gesetz war für alle gleich. Das, was in Hollywood über Schicksale entschied, waren nicht allein Jugend, gutes Aussehen, Glück und Talent, auch nicht Rollen, Bücher und Regisseure, nicht einmal Gerüchte und Affären. Es war das Bild, das sich die Welt von einer Schauspielerin machte. Wie dieses Bild aussah, oblag nicht der eigenen Kontrolle, und doch waren sie alle damit beschäftigt, es unablässig zu verfeinern, zu verschönen und zu korrigieren. Pola seufzte. Um ihr Image war es nicht gerade gut bestellt. Das Einzige, was sie gegenwärtig vorzuweisen hatte, war eine mittelprächtige Vaudeville-Tour, die Trauer um den verstorbenen Sportflieger Glen Kidston, sowie eine Reihe von Filmen, die zuletzt mehr oder weniger gefloppt waren. Seit Jahren schon galt sie als Kassengift. Die Ära des Stummfilms, die Pola Negri zu einer der ganz Großen gemacht hatte, war lange vorbei. Eine Verkettung unglücklicher Ereignisse hatte ihren schrittweisen Abstieg herbeigeführt, und das nicht erst seit der Ton die Filmwelt regierte. Hollywood hatte versucht, das Exotische und Geheimnisvolle ihres Typs, dem die Männer in Scharen zu Füßen gelegen hatten, zu zähmen. In mehr als einem Film hatte der Biss einer Raubkatze ihr das verdiente Ende bereitet. Zuletzt hatte man versucht, die feurige Pola Negri in eine edelmütige Grande Dame zu verwandeln. Das aber hatte nicht funktioniert. Seit Jahren ging es mit ihrer Karriere bergab. Pola fühlte sich wie eine Betrunkene, die auf dem Heimweg von einem großen, rauschhaften Fest vornüber in ein seichtes Gewässer gekippt und darin liegen geblieben war. Sie strampelte und strampelte, doch nirgendwo war eine rettende Hand, die ihr aufhelfen wollte. Nun also wollte man sie erstmals mit einer Nebenrolle betrauen. Die Dietrich setzte ihr Fässchen ab und trat an einen kleinen Grill nahe der Verandatür. Wenige Sekunden später breitete sich der Geruch von geschmolzener Butter im Raum aus. Die eine Hand in die Hosentasche gesteckt, schlug sie mit der anderen ein Dutzend Eier in die Pfanne. Sie verrührte das Gemisch mit energischer Geste und klatschte sogleich eine Portion auf einen Teller, den sie an Mercedes weiterreichte. Diese biss ihr in den Finger, aber die Dietrich bog sich in der Bewegung weg, sie wirkte verstimmt. Auch Pola sollte ihr Omelett serviert bekommen. Entsetzt betrachtete sie den halbgaren Brei. Wie alle hier wusste sie, dass Marlene ausschließlich ihre Liebhaber mit dieser Speise beehrte. Pola schätzte Marlene. Nicht im Traum aber hätte sie zu diesem erlesenen Zirkel gehören wollen. Als der Teller bei ihr ankam, lehnte sie dankend ab. „Wie du willst.“ Die Dietrich leckte sich dabei das Fett von den Fingern. „Kein Wunder, dass du am Boden bist, wenn du dich so zierst. Nicht dass es tragisch wäre, am Boden zu sein. Die entscheidende Frage ist nur, was man bereit ist zu tun, um wieder nach oben zu kommen.“ Pola sah in den Garten hinaus. Der nächtliche Pool schimmerte dunkel. Angeblich waren seine Umrisse der Form des Schwarzen Meeres nachempfunden. Ein seliges Stöhnen war von dort zu hören. Pola schielte nach der Acosta. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen während einer von Polas Dinner Partys hatte Mercedes ihr mit leuchtenden Augen eine ihrer berüchtigten Visitenkarten überreicht. „Wollen Sie meine Freundin sein?“ hatte darauf gestanden. Pola hatte nicht reagiert. Wäre Mercedes aber nicht noch am selben Abend der Garbo begegnet, dann wäre wohl sie in den Genuss dieser Leidenschaft mitsamt den dazugehörigen Drehbüchern gekommen. Pola holte tief Luft. Wenn die Rolle der Duncan nun also vergeben war, musste sie Selznick eben mit einem anderen Part überzeugen. Und dazu hatte sie am besten ein Skript in der Tasche. Sie straffte die Schultern, klemmte lasziv die Hand in die Hüfte und warf Mercedes jenen schmachtenden Blick zu, mit dem sie im Laufe ihrer Karriere schon Könige, Pharaonen und andere Edelmänner becirct hatte. Sie reckte dazu den schneeweißen Hals, senkte die Lider auf Halbmast und leckte sich über die leicht geöffneten Lippen. Mercedes sah sie erst verständnislos, dann erstaunt und schließlich überaus interessiert an. Pola grinste in sich hinein. Nun, da sie erstmals aus Berechnung mit jemandem schlafen würde, handelte sie sich auch noch eine Frau als Bettgefährten ein. Alla, die den Flirt zwischen Mercedes und Pola bemerkt hatte, trat mit einem schnellen Schritt neben sie. „Mercedes, Liebling“, flüsterte sie, „ich finde, du könntest so gut sein und unserer Pola einen grünen Zweig unter den süßen Hintern hexen.“ Mercedes musterte Pola. Dann kniete sie blitzschnell auf dem Boden nieder. Wie auf Kommando schob die Nazimova die Möbel ein Stück aus der Zimmermitte und alle nahmen im Kreis auf dem Fußboden Platz. Auch Pola kniete mit klopfendem Herzen nieder. Bevor Mercedes aber mit der Séance beginnen konnte, hatte Marlene sich mit dem Kochlöffel in der Hand vor ihnen aufgebaut. „Einen Teufel wirst du tun.“ Ihre Stimme war schneidend. Mit ausgerecktem Finger zeigte die hochgewachsene Blondine auf Pola hinab. Aus dieser Position ähnelte Marlene plötzlich jener mysteriösen Shanghai Lily, die einst ihren Ruf als laszive Venusfalle begründet hatte. „Wie wunderbar man ist, dafür ist jeder selbst verantwortlich. Da hilft einem niemand dabei. Sieh zu, wie du allein zurechtkommst.“ Einen wütenderen Atem konnte einem selbst der angriffslustige MGM-Löwe nicht ins Gesicht blasen. „Moment mal“, setzte Pola zur Verteidigung an, aber die Dietrich kam gerade erst in Fahrt. „Mich fragt ja auch niemand, was es mich kostet. Und wozu? Damit man meinen Namen auf einem Trottoir einzementiert. Keine fünf Jahre hat mein Ruhm gehalten. Passend dazu verlässt mich Sternberg, und ich sitze auf dem absteigenden Ast.“ Der Kochlöffel fiel zu Boden. „Nach Berlin gehe ich trotzdem nicht, da können die mich noch so umwerben. Soll denen eine andere ihre Lola machen.“ Marlene hatte sich inzwischen vor Mercedes aufgebaut. „Meine Karriere geht auch den Bach runter. Nur dass an meinem Geld auch meine Mutter, meine Tochter, mein Mann und seine Geliebte dranhängen. Aber das braucht eine Herzogin wie dich ja nicht zu interessieren.“ „Jetzt reicht es aber“, ging Alla dazwischen, aber die aufgebrachte Dietrich ließ sich nicht beirren. „Ständig liegst du mir mit deiner schwedischen Nutte in den Ohren. Wer hat denn für dich die teuersten Chirurgen der Stadt aufgetrieben? Ich, nicht Greta. ‚Die Göttliche’, dass ich nicht lache. Ein dahergelaufenes Dienstmädchen ist sie, nichts weiter.“ „Mag sein. Aber mit einem Gesicht, das Gott berührt hat“, presste Mercedes hervor. Sie strich Pola unablässig über die Wange, und einen Moment schien es, als versuche sie durch Polas dick gepudertes und geschminktes Gesicht hindurch ihre Geliebte zu berühren. „Ich liebe Greta nun einmal. Ich liebe Greta, und Greta liebt den Ruhm. So ist das eben.“ Der Marmorboden unter ihnen war plötzlich eiskalt. Pola sprang auf und griff nach ihrem Hut. Sie schüttelte sich. Es war, als hätte jemand in ihrem Inneren einen Vorhang gelüpft. An einem Herbsttag im Jahr 1908, als Pola Negri noch nicht Pola Negri, sondern Apolonia Barbara Chalupiec hieß und in dem kleinen Ort Lipno in der Wojewodschaft Mazowsze zu Hause war, saß sie im Geäst einer hochgewachsenen Edelpinie. Pola war geübt im Sitzen. Ganze Tage verbrachte sie hier, betrachtete die mattgrüne Ebene der Baumwipfel und stellte sich vor, eine im tiefen Finsterwald gefangene Prinzessin zu sein. In ihrer Vorstellung trug sie ein weiß glitzerndes Kostüm wie jene Tamara Karsavina mit dem stängelschmalen Hals, die am St. Petersburger Mariinski-Theater tanzte. Pola hatte die Ballerina am Kiosk von den Magazinen lächeln sehen. Heute aber war Pola keine Prinzessin. Seit Stunden wagte sie sich nicht hinab. Noch immer ätzte die Lüge in ihrer Kehle. Am Nachmittag hatte sie neben ihrem Vater auf der verschlissenen Plüschbank im Zelt des kleinen Wanderzirkus’ gesessen, der seit ein paar Tagen bei ihnen in Lipno gastierte und nun seine letzte Vorstellung gab. Das Zelt war klein und stank, die Leute auf den Bänken neben ihnen stanken, das feuchte Stroh aus den umliegenden Tierkäfigen stank, und das grelle Licht ließ das Ganze noch trostloser aussehen. Nur von den Gesichtern, die nach oben sahen, ging ein stilles Leuchten aus. Eine Tänzerin schwebte mit ausgestreckten Armen und Beinen schwerelos wie eine seltsam geformte Feder über den Köpfen. Polas Füße hingen von der Bank. Noch nie hatte sie so deutlich Luft unter sich gespürt. Jäh schmetterte ein Tusch durch die Reihen. Die Tänzerin erschrak und kämpfte mit dem Gleichgewicht. Das Licht der Scheinwerfer traf sie hart im Gesicht. Schweiß schimmerte unter der weißen Schminke hindurch, sie rappelte sich aus dem Spagat hoch und rutschte mit verkniffenem Mund am Seil hinab. Zu den Klängen einer Zirkusrumba kamen eine Handvoll Kamele in die Manege getrabt. Die abgeknickten Höcker wankten hin und her, ein kleinwüchsiger Dompteur, der wie aus dem Nichts am Rande des Geschehens aufgetaucht war, dirigierte sie. Dann war die Vorstellung auch schon vorbei. Als der Applaus vertröpfelt war, der Pulk sich gelichtet hatte und Pola unter freiem Himmel stand, verschwand der Vater sofort hinter dem Zelt. Zuvor hatte er mit einem der Zirkusmänner slowakisch geredet, was nur bedeuten konnte, dass er mit ihm über einen Armreifen oder ein paar Ohrringe verhandelte. Polas Mutter, eine ebenso strenge wie stolze Frau mit dem ebenso strengen wie stolzen Namen Eleonora de Kiełczewska, verabscheute dieses, wie sie sagte, bäurische Gebaren. Sie hasste es, dass der Vater sich auf halbseidene Geschäfte einließ, nur, um der Tochter Geschenke zu machen. Immer gab es Streit deswegen. Pola trat von einem Bein aufs andere. Schließlich entschied sie, den Vater suchen zu gehen. Pola schlenderte über den Platz. Sie kickte winzige Steine über die zertretene Wiese und wollte schon wieder umkehren, als ein Mädchen vor sie hintrat. Es trug Wollstrümpfe, einen einfachen Rock und über der verwaschenen Bluse ein leuchtend blaues Tuch um die Schultern. Die hellen Locken hingen ihm tief in die Stirn, und es schielte bewundernd nach dem dünnen Silberring an Polas Arm. Kommentarlos streifte sich Pola das verbogene Metall vom Gelenk. Erfreut zog die andere es über. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. „Sollen wir uns zusammen die Kamele ansehen?“, bot das Mädchen an. Pola schüttelte hochmütig den Kopf. An den stinkenden Käfigen hatte sie kein Interesse. „Dann lass uns zu dir nach Hause gehen“, schlug es vor. „Auf keinen Fall“, rief Pola. Sie errötete, hielt dem verwunderten Blick aber stand. Pola liebte die beiden Zimmer, in denen es immer nach Blaubeerkuchen und geschmorten Pilzen duftete. Doch war die Wohnung winzig und alles darin ärmlich und windschief. „Zu mir nach Hause, das geht nicht.“ Verzweifelt sann sie nach einem Ausweg. „Wir sind nicht von hier“, sagte sie dann. Die Lüge hing als still glimmende Wolke über ihren Köpfen. Pola biss sich auf die Lippen. Ihre Mutter pilgerte alljährlich nach Jasna Gora, um dort zur Schwarzen Madonna von Częstochowa zu beten. Von ihr hatte Pola eingebläut bekommen, dass Lügen eine Todsünde war. Sie schwankte. Noch hätte sie das Gesagte zurücknehmen können. Da aber öffnete sich die Tür eines der umstehenden Wohnwagen und der Vater trat hervor. Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, hatte Pola es am Arm gefasst und zu Boden gezogen. Wann immer man den Vater in Gegenwart eines anderen Kindes antraf, brachte er Pola in Verlegenheit. Er verbeugte sich tief und behauptete beispielsweise, der berühmte Opernsänger Jerzy Chalupiec zu sein. Wenn man ihn dann aber bat, ein Lied zu singen, riss er nur den Mund auf und schnitt stumm Grimassen, er konnte nicht singen. Das Mädchen sah Pola erwartungsvoll an. In seinen bewundernden Blick hatte sich ein Funke Neugier gemischt. Verschwörerisch legte Pola die Hand vor die Lippen. Sie hockten einander gegenüber wie zwei Freundinnen, die sich im nächsten Augenblick ihre Unterhosen abstreifen und versuchen würden, ihre Urinstrahlen in die Höhe zu schicken, damit sie sich dort kreuzten. „Springbrunnen“ hieß das Spiel, das für nasse Hosen und mütterliche Schelte sorgte, die Lipnoer Dorfkinder aber hellauf begeisterte. Noch immer schuldete sie dem Mädchen eine Erklärung. Fiebernd kramte Pola in ihrem Gedächtnis nach Fetzen, die sie aus Erzählungen der Eltern kannte. Mutter Eleonora erklärte ihre Armut damit, dass ihre Familie sie enterbt habe. Man hatte nicht dulden wollen, dass eine de Kiełczewska sich einen dahergelaufenen slowakischen Zigeuner mit Namen Jerzy Chalupiec zum Bräutigam nahm. Vater Jerzy zufolge aber stammte die Mutter lediglich von einem verarmten Adelsgeschlecht ab, so dass es im Grunde nicht allzu viel zu enterben gegeben habe. Pola wusste nicht, was stimmte. Sie wusste nur, dass für ein großes Schloss, in dem die Familie dem Dafürhalten der Mutter nach eigentlich hätte leben müssen, kein Geld da war. Abwesend sah Pola auf einen Punkt am Horizont. Schließlich begann sie mit schleppender Stimme zu sprechen. „Meine Mutter ist eine Adlige. Und mein Vater hat vor der Revolution auf Seiten der Nationalen gekämpft. Der Zar hat uns enteignet und droht, uns nach Sibirien zu bringen. Jetzt leben wir im Untergrund“, log sie weiter, im vollen Bewusstsein darüber, dass sie sich um Kopf und Kragen redete. Die Wörter „Untergrund“ und „Revolution“, die Pola bei einer von Jerzys Stammtischreden aufgeschnappt hatte, sprach sie mit jenem dramatischen Wackeln in der Stimme aus, das sie der Mutter abgelauscht hatte, wenn diese bei einem Streit ihre schluchzend hervorgepressten Sätze mit „Ich, Eleonora de Kiełczewska“ begann. Das Mädchen sah sie an. Wie zum Beweis ihrer noblen Herkunft umfasste Pola den Schmuck, der nun wieder von ihrem Handgelenk baumelte. Die Stimme des Mädchens klang erstaunt. „Aber deine Mutter hat doch den kleinen Gemischtwarenladen vorne an der Ecke. Und dein Vater ...“ Pola hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. „... dein Vater“, fuhr die andere mit unschuldigen Augen fort, „ist doch der Klempner hier im Ort.“ Das Mädchen sah ihr ruhig und fragend ins Gesicht. Angestrengt suchte Pola nach einer Möglichkeit, um das lästige Ding loszuwerden, als plötzlich Rauch in ihre Nase kroch. Der Vater hatte sich in der Wohnwagentür eine Zigarette angezündet. Zwischen seinen Beinen hindurch konnte Pola ins Innere spähen. Aus den Kissen der Sessel quoll Rosshaar hervor, überall lag Wäsche, Geschirr stapelte sich. Jäh musterte Pola die blondgelockte Gestalt neben ihr im Kies. Die Zähne waren schief, die Nägel schmutzig. „Was ist, hast du keinen Mund, um zu reden?“, fragte das Mädchen, nun allmählich verärgert, dass Pola sich so beharrlich in Schweigen hüllte. Noch immer saßen sie geduckt, und es wurde allmählich unbequem. Unruhig wippte das Mädchen mit dem Hintern auf und ab. „Lass uns endlich was spielen. Das hier ist langweilig.“ Pola strich sich mit einer anmutigen Geste das Haar aus dem Gesicht. Leicht reckte sie das Kinn in die Luft. „Ich kann dich nicht zu uns nach Hause mitnehmen.“ „Ach nein? Und warum nicht?“ Pola nahm allen Mut zusammen. „Eben deshalb. Ihr seid Zigeuner. Wir nicht.“ Mit offenem Mund sah das Mädchen sie an. Für einen Moment schien es zu zögern, dann wurden seine schönen Augen schmal. Wie eine Kobra richtete es sich auf und trat, als es zu voller Größe angewachsen war, einen Schritt von ihr weg. Den Blick stur auf ihr Gegenüber gerichtet, saugte es die Wangen so stark nach innen, dass sich auf beiden Seiten tiefe Krater bildeten. In hohem Bogen flog ein weißer Tropfen durch die Luft. Pola starrte auf den Fetzen Schaum, der sie nur knapp verfehlt hatte, und nun auf dem dunklen Weg zwischen ihren Füßen knisterte. Aus den Augenwinkeln sah Pola, dass der Vater sie entdeckt hatte. Noch nie waren ihr seine Augen und sein Haar so schwarz und nie seine Haut so dunkel erschienen. Im Nu hatte sie kehrtgemacht und war über die breite Straße in Richtung Wald fortgerannt. Oben im Baum dämmerte es jetzt schon. Pola entschied, so lange auf ihrem Ast sitzen zu bleiben, bis es ganz dunkel geworden war und sie sicher sein konnte, dass der Zirkus seine Zelte abgebrochen hatte und davon gezogen war. Sie blickte hinauf in die schwarzen Stäbe. So wach und reglos saß sie, als wäre sie Vogel und Wolke zugleich. Ein Rascheln riss ihren Blick in die Höhe. Im Baum über ihr kreuzten sich Äste. Eine Eule hatte dort Platz genommen. Mit einem klatschenden Geräusch fiel ein Klumpen weißen Matschs auf sie herab. Angewidert hob Pola die Hand, spreizte die Finger und kratzte die scharf riechende Masse vom Scheitel. Sie war kein Vogel. Auch keine Wolke. Sie rutschte herum, beugte sich ein klein wenig vor und spähte in die Tiefe. Was konnte der Tod anderes sein als ein großer, geräuschloser Wind, der aus dem Himmel fuhr und nach den Menschen griff? Pola wankte. Dann ging ein Ruck durch sie hindurch, und sie kippte wie ein steif gefrorenes Eichhörnchen vom Ast. Das Letzte, was sie sah, war ein langer, endlos schwarzer Balken, an dem vorbei sie in die Tiefe stürzte. Am anderen Nachmittag betrat Pola David O. Selznicks Büro in der Gower Street und feuerte den Vertrag mit dem Radio-Keith-Orpheum-Label über den Tisch. „Das soll ich spielen? Eine Kosmetikstudiobesitzerin? In einer Ne-ben-rol-le?“ Mit jeder Silbe, die sie in die Luft ausstieß, piekste ihr ausgestreckter Zeigefinger drohend in Richtung Zimmerdecke. „Und? Wie war die Tournee?“, begann Selznick. „Lenk nicht ab. Was denkst du, was ich bin? Eine Zigeunerin, die den Rest ihres Lebens durch Nachtklubs tingelt?“ Selznick strich sich mit der Kappe seines saphirbesetzten Füllfederhalters über den Mund. Dicke Lippen saßen über einem fleischigen Kinn. Die Ähnlichkeit mit einer Kröte war nicht zu übersehen. Der funkelnde Stift wurde geschlossen und abgelegt. Selznick stand auf und trat ans Fenster. Auf der gegenüberliegenden Kreuzung hatten sich Leute auf der Suche nach Arbeit versammelt. Sie trugen Transparente und wedelten mit ihren leeren Wochenlohntüten. In die Menge hinein mischte sich nun eine Reihe von Verehrern, die sehnlich die Ankunft irgendwelcher RKO-Stars wie Fred Astaire oder Joan Crawford erwarteten. Eine Traube von Menschen schloss sich um jedes an der Pforte ankommende Automobil. „Sie mögen es eben nicht, wenn du sprichst“, sagte Selznick nach zwei schier endlos langen Sekunden. „Dieser verdammte Ton“, stieß Pola hervor. „Das Englisch der Garbo ist auch nicht besser. Wir sind hier in Amerika.“ Ihr rollendes ‚r’ erzeugte den Klang von Donnergrollen. Seit dem Aufkommen des Tonfilms versuchten alle ausländischen Stars wie wild, sich ihren Akzent abzutrainieren. Pola hatte dies abgelehnt, teils aus Scheu vor dem stumpfsinnigen Unterricht, teils aus der Überzeugung, sich nicht verformen lassen zu wollen. Pola Negri sprach eben, wie sie sprach. Selznick sah sie eindringlich an. Seine Stimme war ungewohnt ruhig. „Der Ton ist die Zukunft, Pola. Und er ist teuer.“ „Aber die Garbo ist auch immer noch am besten, wenn sie den Mund hält.“ „Garbo, Garbo, du bist aber nicht die Garbo“, brach es aus Selznick hervor. „Und die Garbo ist im übrigen auch nicht mehr das, was sie mal war.“ Pola schnappte nach Luft. „Du passt eben in kein Fach mehr. Komödien, Musicals, Screwball, Spionage. Das ist es, was die Leute wollen.“ Sie sprang auf und lief vor dem Schreibtisch auf und ab. „Horror nicht zu vergessen“, zählte Selznick unbeirrt auf. Polas Blick fiel auf ein großes Filmplakat, das sich in Selznicks Rücken erstreckte. Ein riesiger Affe blickte schmachtend auf eine Blondine herab. Am Fuße des Bildes stand, hinter Vitrinenglas verborgen, ein ausgestopfter, lebensecht wirkender kleiner Gorilla. Ganz Hollywood lachte über die Attrappe mit dem aufgerissenen Maul, die man mit den neuesten technischen Tricks zu einem Giganten aufblasen konnte. Pola deutete auf das Plakat. Ihre Stimme überschlug sich, als sie zu reden fortfuhr. „Es soll eine Fortsetzung geben davon, oder nicht? Ich habe Erfahrung mit Tieren. Was denn? Niemand vor mir ist mit einer Schlange um den Hals aufgetreten.“ Selznick stöhnte hörbar auf. „Für die Rolle braucht es einen jungen, blonden, amerikanischen Typ. Du bist nichts davon.“ Pola tastete nach ihren schwarzen Locken. Sie hatte sie am Morgen unglücklicherweise zu einer wilden Mähne aufgebauscht. Selznick wandte sich mit unheilvollem Blick wieder der Straße zu. „Himmel noch mal, Pola, warum zwingst du mich, es zu sagen?“, rief er, um dann ebenso genüsslich wie dramatisch innezuhalten. „Deine Zeit ist vorbei.“ Die sechs Silben klirrten wie zerbrochenes Glas in Polas Ohr. So in etwa musste sich Isadora Duncan in den Sekunden ihres Todes gefühlt haben, als ihr Seidenschal sich in einer Reifenspeiche ihres Bugattis verfangen und ihr das Genick gebrochen hatte. „Ist es das Geld?“ Ihre Stimme war belegt, und es blieb zu hoffen, dass Selznick dies als Arroganz missverstand. „Ich spiele für weniger.“ Für einen Moment schwelte die Luft vor unsichtbaren grünen Dollarnoten. Jäh ratterte die sechsstellige Ziffer herab, die sie sich als Gehalt ausgemalt hatte. Pola sah Selznick mit einem sehr geraden Blick in die Augen. Das enge Kleid hing schwer an ihr, und zugleich war es, als würde jetzt, wo alles zu scheitern drohte, alle Schwere von ihr abfallen. „David“, sagte sie in vertraulichem Ton, „alles, was ich will, ist, morgens aufzustehen und ins Studio zu fahren. Um abends beim Einschlafen zu wissen, wer ich bin.“ „Wer du bist? Nun, ganz einfach, du bist eine Schauspielerin, würde ich sagen. Von Kennern der Branche auch ‚A’ genannt. Du bist A, die B verkörpert, während C zuschaut und Geld dafür zahlt. A, B, C. Das ist das ganze Geschäft.“ „Ein A“, rief Pola empört. „Ich habe deinem Vater den Laden hier groß gemacht, Schätzchen, da hast du noch in den Bauch deiner Mutter geglotzt und verschwommene Schwarz-Weiß-Fotos geknipst. Du kannst froh sein, dass ich dir nicht den Hintern versohle.“ Selznick holte Luft. Seit er denken konnte, hatte er im Schatten seines Vaters, des Filmpioniers Lewis J. Selznick, gestanden. Selbst das „O.“ im Namen des Juniors war hinzuerfunden. Kurz schien es so, als ob der Produzent losschreien wollte, nach einem kurzen Augenblick des inneren Kampfes aber hatte er sich wieder unter Kontrolle und begnügte sich damit, an seinen Platz zurückzukehren, um dort in einem Stapel Manuskripte herumzukramen. Er zog eines hervor, schlug es auf, zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich, die Beine lang über den Schreibtisch ausgestreckt, in seinem Sitz zurück. Augenblicklich hatte auch Pola sich hingesetzt und die Füße auf dem Tisch abgelegt. Der Produzent wandte nur kurz den Kopf. Ihre mehlweißen Beine, die in Netzstrümpfen steckten, wirkten wie zwei prall gegessene Kreuzottern. Selznick linste abfällig über den Rand der Seite. Mit einem Ruck zog Pola die Füße vom Tisch. Selznick gähnte hemmungslos. Es war die Geste eines Mannes, der es sich leisten konnte, am Bürotisch zu sitzen und Papierflieger zu werfen, wann immer ihm der Sinn danach stand. Pola runzelte die Stirn. Selznicks Gelassenheit irritierte sie. Der Erfolg von King Kong hatte RKO nach dem Crash vor dem Ruin bewahrt. Schwarze Zahlen aber schrieb das Unternehmen deswegen noch lange nicht. Nacheinander fiel ihr Blick erst auf die Zigarre, die in Selznicks Aschenbecher rauchte, dann auf den saphirbesetzten Füllfederhalter und schließlich auf ein gerahmtes Portrait auf dem Sideboard. Das Bild zeigte die Tochter Louis B. Mayers, des Vorsitzenden von Metro-Goldwyn-Mayer. Sie und Selznick hatten etwa zwei Jahre zuvor geheiratet. Alle hatten ihn dafür verspottet, dass er sein Bett aus Karrieregründen mit einem so hässlichen Entlein teilte. Polas Blick verharrte auf dem Bild, und schließlich errötete Selznick bis unter die Haarwurzeln. Es gab nur eine Erklärung, warum der Produzent sie nicht, wie er es sonst mit unliebsamen Schauspielern tat, einfach niederschrie. David O. Selznick bereitete sich auf seine künftige Rolle als MGM-Vorstandsvorsitzender vor. Irving Thalberg, der momentan noch diese Position innehatte, war nach Mayer der zweitmächtigste Mann der Firma. Geduld galt als sein Markenzeichen und als Garant dafür, dass MGM die launische Greta Garbo bei der Stange hielt. Gerade dadurch aber drohte er Mayer zu mächtig zu werden. Auch führte Thalberg eine ‚Lavendel-Ehe’, eine Ehe also, die nur der Tarnung diente, um zu verschleiern, dass ein Mann Männer bevorzugte. Seine Frau, eine in Wahrheit drittklassige Schauspielerin, bekam nur deshalb die besten Rollen von ihm zugeschanzt, damit sie ihn deckte – ein Kuhhandel, der Mayer sicher schon lange ein Dorn im Auge war. Seit ein paar Wochen lag Thalberg, der einen angeborenen Herzfehler hatte, im Krankenhaus. Nur knapp war er einem Herzanfall entgangen. Pola zögerte. Sie musterte Selznick, der Mühe hatte, sein Gesicht unter Kontrolle zu bringen. Dann ging sie zum Angriff über. „Ich muss telefonieren“, befahl sie. Selznick schob den kleinen weißen Telefonapparat mit einer lässigen Bewegung zu ihr hinüber. „Schrei aber nicht so“, knurrte er. „Wenn du am Apparat bist, denkt man immer, du versuchst, in Texas Gehör zu finden.“ Ohne ihr Gegenüber weiter zu beachten, wählte Pola die Nummer ihres Agenten. Da der windige Hund sich wie zu erwarten verleugnen ließ, wählte sie sogleich ihre eigene Nummer. Ihre Hände waren schweißnass, und sie hatte Mühe, die Scheibe zu bewegen. „Lena, hör zu, informier die Zeitung“, flötete Pola in die Muschel. „Pola Negri feiert ihr Comeback.“

Daniela Dröscher

Über Daniela Dröscher

Biografie

Daniela Dröscher, geboren 1977 in München, wurde für ihr Schreiben mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Bayer 2-Wortspiele-Preis und zuletzt mit dem Koblenzer Literaturpreis 2012. Im Berlin Verlag erschienen bisher die Romane „Die Lichter des Georg Psalmanazar“ (2009) und...

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