Noras Welten (Noras Welten 1)
Durch den Nimbus
„Ein überaus gelungener Auftaktroman der jungen Autorin.“ - Geek!
Noras Welten (Noras Welten 1) — Inhalt
Nora Winter hat Angst vor Büchern, und das aus gutem Grund: Sobald Nora anfängt zu lesen, fällt sie mitten hinein in die Handlung des Buches und muss die Geschichte am eigenen Leib erleben. Sie hofft, das Problem mithilfe des Hypnosetherapeuten Ben in den Griff zu bekommen, aber natürlich gerät sie jetzt erst recht in Schwierigkeiten. Denn diesmal wird nicht nur Nora in die Handlung hineingezogen, sondern der Therapeut gleich mit. Gegen ihren Willen landen die beiden in einer Welt voller Intrigen, die eigentlich nicht existieren dürfte – zwischen Rittern, Magiern und vorlauten Drachen. Es gibt nur einen Weg zurück: Sie müssen die Geschichte bis zum Ende durchstehen.
Leseprobe zu „Noras Welten (Noras Welten 1)“
1. Kapitel
Ein leises Summen erklang. Doktor Benjamin Pawell sah auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand: zehn Minuten vor sechs.
Sie kam zu früh.
Mit einem leisen Seufzen schob Ben das Lesezeichen zwischen die Seiten seiner Lektüre. Er klappte das Buch zu, legte es beiseite und drückte auf den Knopf, der die Haustür öffnete. Dann warf er einen letzten Blick in seine Unterlagen.
Nora Winter, Erstanamnese. Sie hatte telefonisch um einen Termin gebeten – dringend – und nicht verraten wollen, worum es ging. Sie hatte jung geklungen, also tippte er auf eine [...]
1. Kapitel
Ein leises Summen erklang. Doktor Benjamin Pawell sah auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand: zehn Minuten vor sechs.
Sie kam zu früh.
Mit einem leisen Seufzen schob Ben das Lesezeichen zwischen die Seiten seiner Lektüre. Er klappte das Buch zu, legte es beiseite und drückte auf den Knopf, der die Haustür öffnete. Dann warf er einen letzten Blick in seine Unterlagen.
Nora Winter, Erstanamnese. Sie hatte telefonisch um einen Termin gebeten – dringend – und nicht verraten wollen, worum es ging. Sie hatte jung geklungen, also tippte er auf eine Lebenskrise. In diesem Alter waren es fast immer Lebenskrisen. Depressionen, Leistungsdruck, das Ende der großen Liebe …
Er nahm einen Schluck von seinem Tee, putzte gemächlich seine Brille und setzte sie wieder auf.
Um Punkt sechs öffnete er die Tür zum Wartezimmer.
„Frau Winter?“ Er zögerte. „Bitte, kommen Sie doch herein.“
Die Patientin war jung, soweit behielt er recht. Mitte zwanzig, schätzte er. Acht, vielleicht zehn Jahre jünger als er. Überraschend war die dunkle Sonnenbrille, die sie trotz der eher schummrigen Beleuchtung im Vorraum nicht abgenommen hatte. Ben entdeckte keinen Blindenstock. Sie trug auch keine Armbinde.
„Brauchen Sie Hilfe?“ Er streckte eine Hand aus, um sie zu führen.
„Wäre ich sonst hier?“ Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und strich ihren Rock glatt. „Es geht schon, danke. Haben Sie Bücher in Ihrem Behandlungsraum?“, fragte sie. „Oder Magazine?“
Irritiert sah Ben auf den Stapel GEO-Hefte, neben dem sie gesessen hatte. „Nein, nur im Wartezimmer.“
„Gut.“
Ohne ein weiteres Wort trat sie an ihm vorbei durch die Tür und nahm die Sonnenbrille ab. Zwei dunkle Augen kamen zum Vorschein. Blind war sie also nicht. Mit einem raschen Blick erfasste sie seinen Arbeitsbereich.
„Und wie nennen Sie das da?“ Anklagend wies sie auf das Regal mit Fachliteratur, das die Wand hinter seinem Schreibtisch einnahm, gefüllt mit Lexika und Therapiehandbüchern. Standardwerke seines Fachgebiets.
„Die sind nicht zum Lesen gedacht.“ Eigentlich blätterte er nicht einmal darin. Sie standen da, weil … Nun, weil in das Zimmer eines Therapeuten eben Bücher gehörten, Punkt.
„Bücher sind immer zum Lesen gedacht“, sagte sie und seufzte. „Na, wenigstens sind sie weggeräumt.“
Ben runzelte die Stirn. Was sollte dieser Auftritt?
Nun, das herauszufinden war seine Aufgabe. Er war hier, um Leuten wie Nora Winter zu helfen.
„Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er deutete einladend auf das Sofa und ließ sich in den dazugehörigen Sessel sinken. Das Leder ächzte leise unter seinem Gewicht. Als sie Platz genommen hatte, eröffnete er das eigentliche Gespräch. „Frau Winter, Sie haben mich in einer dringenden Angelegenheit um einen Termin gebeten. Was führt Sie zu mir?“
„Ihr Spezialgebiet, Doktor Pawell.“
„Sie möchten, dass ich Sie hypnotisiere?“, hakte er nach.
„So ist es.“ Nicht der geringste Zweifel lag in ihrer Stimme.
Für gewöhnlich ging eine solche Bitte immer mit einem Gemisch von Aufregung, Hoffnung und Furcht einher. Nora Winter hingegen saß aufrecht und selbstbewusst auf seiner Couch, die Knie sittsam aneinandergelegt, die Hände im Schoß gefaltet.
„Und was erhoffen Sie sich von einer Hypnosetherapie?“ Sie wirkte nicht, als bräuchte sie Hilfe, um das Rauchen aufzugeben.
„Es gibt etwas, das ich vergessen muss“, lautete ihre wenig hilfreiche Antwort.
Ben unterdrückte ein Seufzen. Also doch eine Beziehungskrise. Vom Mann verlassen, vermutete er. Schade. Nach dem eigenartigen Begrüßungsszenario hatte er sich etwas Spannenderes erhofft. Patienten, die den leichtesten Weg suchten, um unbequeme Erinnerungen loszuwerden, kannte er zur Genüge. Er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. „Und was müssen Sie vergessen?“
„Das Lesen.“
Nun war er doch überrascht. „Tut mir leid, ich verstehe nicht …“
Sie lächelte verbissen. „Ganz einfach: Ich darf nichts lesen.“
„Sie dürfen nicht?“ Was sollte das denn bedeuten? Dieses Gespräch wurde allmählich bizarr. „Und deshalb bitten Sie mich, Sie zur Analphabetin zu machen?“
„Genau. Es ist wichtig.“
Ben hatte wirklich schon viele seltsame Patientenwünsche gehört und dieser hier rangierte bestimmt unter den Top Ten. Dazu ihr merkwürdiges Gebaren … Er griff nach einem Stift und kritzelte eine kurze Notiz in die Akte Nora Winter: Angst vor Büchern? Falls sich sein Verdacht bestätigte, wäre es der erste Fall von Bibliophobie, dem er begegnete.
„Erzählen Sie mir doch bitte, weshalb Sie das möchten“, sagte er.
„Es ist nicht leicht zu erklären.“ Mit einer Hand strich sie sich über den Hals und zupfte am Kragen ihrer Bluse. „Es ist gefährlich für mich, zu lesen. Aber ich kann es nicht verhindern, es passiert so schnell. Nur ein kurzer Blick und … Ich bin mir bewusst, wie das klingt. Aber ich versichere Ihnen, ich bin nicht verrückt!“
„Natürlich nicht.“ Er würde niemals einen Patienten als verrückt bezeichnen, jedenfalls nicht direkt. Denn je größer ihre Probleme waren, desto eher sahen sie sich selbst als geistig völlig gesund an. „Was meinen Sie damit, es ist gefährlich? Was geschieht, wenn Sie lesen?“
Nora zögerte. Wie sollte sie ihm erklären, was sie selbst nicht verstand? Er würde ihr nicht glauben. Niemand hatte ihr jemals geglaubt. Aber Doktor Pawell verlangte eine Antwort. Also gab sie ihm die einzige, die sie hatte, so haarsträubend diese auch klang.
„Ich … falle in alles, was ich lese“, sagte sie. „Körperlich.“
Der Psychologe reagierte nicht sonderlich verwundert. Nur ein leichtes Zucken um seine Augen verriet, dass er die Seltsamkeit ihrer Worte erfasste. Er kritzelte wieder etwas auf seinen Block und sah sie mit neutralem, beinahe gelangweiltem Gesichtsausdruck durch die randlose Brille hindurch an. „Können Sie das genauer ausführen?“
Er hielt sie für verrückt. Natürlich tat er das. Schließlich klang es auch verrückt, was sie erzählte.
Sie hätte sich genauer über Doktor Pawell informieren sollen. Hypnosetherapeut – irgendwie hatte sie dabei an einen Alternativling gedacht, jemanden, der sein Büro nach den Regeln von Feng Shui einrichtete und es einmal die Woche gegen schlechte Schwingungen ausräucherte. Jemanden, der spirituellen oder paranormalen Dingen nicht völlig abgeneigt war.
Stattdessen saß sie diesem geschniegelten Kerl gegenüber, mit gebügeltem Hemd und Designer-Kugelschreiber. Unerklärlich war diesem Mann ganz bestimmt ein Fremdwort.
Also musste sie ihn davon überzeugen, dass sie noch alle Tassen im Schrank hatte. Dass er es mit einem gefestigten Menschen zu tun hatte, der von einem ungewöhnlichen Problem geplagt wurde.
Nora straffte die Schultern. „Ich erlebe Bücher, als wären sie die Realität.“ Nein, das traf es nicht. Das führte in die völlig falsche Richtung. Sie holte tief Luft und sprach den entscheidenden Satz aus: „Ich verschwinde dabei aus dieser Welt und tauche in einer anderen wieder auf.“
So, jetzt war es raus.
Der Psychologe blinzelte überrascht. Langsam ließ er seinen Notizblock sinken. „Sie … verschwinden?“
„Ja.“ Endlich begriff er, worum es hier ging. Ob er ihr glaubte, war jedoch eine ganz andere Frage.
„Hören Sie“, fuhr sie fort. „Es fällt mir nicht leicht, Sie um Hilfe zu bitten. Ich bin es gewohnt, meine Angelegenheiten selbst zu regeln. Aber ich bin am Ende meiner Weisheit angelangt. Ich kann es nicht kontrollieren und es wird immer schlimmer. Ein kurzer Blick in ein Buch, und schon bin ich aus meinem Leben gerissen. Ohne die dunkle Brille traue ich mich nicht mehr aus dem Haus und sie hilft auch nur bedingt. Ich ertrage das nicht länger! Ich … ich kann so nicht mehr leben. Ständig diese Angst …“ Ihre Stimme brach. Rasch legte Nora eine Hand an die Stirn, damit er ihre Tränen nicht sah. So viel zu ihrem Plan, ruhig und besonnen zu wirken.
„Wovor haben Sie Angst?“ Seine Stimme klang sanft. Verständnisvoll.
Doch er verstand gar nichts. Wie sollte er auch?
Sie atmete tief durch, sammelte ihre Gedanken. „Davor, eines Tages nicht zurückzukommen. Ich bin eine Gefangene der Geschichte. Etwas, das dort nicht hingehört. Ich habe versucht, Büchern aus dem Weg zu gehen, aber das hilft nicht. Schrift ist überall. Es gibt keine Möglichkeit, zu entkommen.“ Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte sie sich die Wangen trocken, ehe sie zu ihm aufsah. „Ihre Behandlung ist mein letzter Ausweg, verstehen Sie? Bitte, helfen Sie mir.“
Ben griff in die Schachtel auf dem Schreibtisch und reichte ihr ein Taschentuch. Gefühlsausbrüche war er gewohnt. Das Anliegen hingegen war ihm neu. Nachdenklich schob er seine Brille hoch und massierte die Druckstellen an seiner Nase.
Nora Winter hatte Angst davor, in Büchern zu verschwinden. Besaß sie zu viel Vorstellungskraft und verlor den Bezug zur Realität, wenn sie eine Geschichte las?
Der letzte Ausweg … Der Meinung waren alle, die sich von Hypnose einen schnellen Erfolg für ihre Probleme versprachen. Sie wollten nicht hören, dass eine dauerhafte Lösung vor allem eines brauchte: Zeit.
„Sie wollen also das Lesen vergessen, damit Sie nicht mehr Gefahr laufen, zu … verschwinden“, fasste er zusammen.
„Genau.“ Sie knüllte das Taschentuch zusammen und sah sich um.
Ben deutete auf den Papierkorb neben dem Sofa. Während sie das Tuch entsorgte, fragte er: „Und dieses Fallen geschieht immer, wenn Sie etwas lesen? Ausnahmslos?“
Sie nickte.
„Könnten Sie es demonstrieren?“
Nora Winter zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Dann verschränkte sie die Arme vor dem Körper und sah ihn zornig an. „Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, dass ich diesen Zustand loswerden möchte!“
„Das habe ich verstanden. Meine Frage lautete nur, ob es Ihnen möglich wäre – “
„Ja!“, schnappte sie. „Ja, ich könnte es demonstrieren. Aber ich will nicht.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Verstehen Sie nicht, dass es gefährlich ist?“ Erneut tasteten ihre Finger über ihren Hals, und diesmal sah er die schmale silberne Kette, die sie unter der Bluse trug. „Ich weiß nie, wo ich lande. Wer mich dabei sieht. Was mir widerfährt, sobald ich dort bin. Das ist keine harmlose Sache!“
„Natürlich“, sagte er. „Sie sind hier in Sicherheit. Sie müssen nichts tun, was Sie nicht wollen.“ Wäre ja auch zu schön gewesen. Nicht, dass er tatsächlich erwartet hätte, sie vor seinen Augen verschwinden zu sehen. Er wollte einfach wissen, auf welche Weise sich ihre Psychose äußerte. Denn dass sie eine hatte, daran bestand kein Zweifel.
„Sie glauben mir nicht.“ Ihre Stimme klang bitter. Vorwurfsvoll.
Er ging nicht darauf ein. „Erzählen Sie mir von Ihrem Problem. Wann hat das angefangen?“
Sie schnaubte. „Das hat doch keinen Sinn, solange Sie mir nicht glauben. Und Sie werden mir nicht glauben, solange Sie es nicht sehen.“ Sie warf dem Bücherregal hinter ihm einen feindseligen Blick zu. „Geben Sie mir etwas zu lesen. Aber kein Sachbuch!“
Überrascht setzte Ben sich auf. Er hatte keine Ahnung, was er sich unter einer Demonstration vorstellen sollte, aber entgehen würde er sich das nicht lassen. „Eines der Magazine …?“
„Nein!“
Er sah sie verwundert an.
Als wäre sie von ihrer eigenen Reaktion eingeschüchtert, strich sich Nora Winter eine Haarsträhne hinters Ohr und schlug die Augen nieder. „Auch keine Prospekte, bitte“, fuhr sie leise fort. „Haben Sie keine Geschichte? Etwas Fiktives?“
Eine wählerische Psychose also. Vielleicht brauchte sie die Fiktion, um ihre Fantasie anzuregen und sich in den Zustand zu versetzen, von dem sie dachte, dass er sie aus der Wirklichkeit beförderte? Ben sollte es recht sein.
Er griff nach dem Buch, das er beiseitegelegt hatte, als sie an der Tür geklingelt hatte. Eldinor, ein Geschenk seiner Schwester, das vor allem zeigte, wie schlecht sie ihn kannte. Doch für die Wartezeit zwischen den Terminen genügte es.
Seine Patientin nahm den Wälzer entgegen, ohne einen Blick darauf zu riskieren. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Lesezeichen tastete. „Was geschieht an dieser Stelle?“
Einen Moment lang erwog er, sie anzulügen. Ihr eine falsche Information zu geben, um zu sehen, wie es sich auf ihre Demonstration auswirkte. Doch er entschied sich dagegen. Erst einmal ein neutraler Versuch. „Nichts. Seit drei Seiten gibt es nur Landschaftsbeschreibung.“
„Gut.“ Sie wirkte ehrlich erleichtert, das Zittern nahm ab. „Das sollte funktionieren.“
Gespannt beobachtete er, wie sie zurückblätterte. Zwei von den drei Seiten, die er ihr genannt hatte. Sie sah ihn an, ihre dunklen Augen furchtvoll geweitet.
„Sie müssen mir etwas versprechen, Doktor Pawell.“
„Und zwar?“
„Schließen Sie das Buch, wenn ich weg bin. Und beeilen Sie sich damit. Ich will nicht zu lange da drinbleiben.“
Erst als er nickte, senkte sie den Blick und begann zu lesen. „Die Strahlen der Morgensonne krochen die grünen Hügel von Eldinor herab.“
Ben ließ seine Patientin keine Sekunde lang aus den Augen. Sie las mit klarer, wenn auch unsicherer Stimme. So banal der Text war, die eigenwillige Art von Nora Winter machte ihn zu etwas Besonderem.
„Sie warfen ihr güldenes Licht auf Weiden und Wiesen …“ Sie schluckte. Ihr dunkles Haar bewegte sich, als würde es von einem unmerklichen Lufthauch in Bewegung versetzt. „… auf Gehöfte und die einsame Straße, die sich wand bis zum Düster-“
Es knackte. Nicht laut, eher so, als hätte in seinem Ohr ein Druckausgleich stattgefunden. Dann krachte das Buch zu Boden.
Nora Winter war verschwunden.
„-weiher.“ Nora sah sich um. Eine grüne, saftige Wiesenlandschaft. Im Osten, sofern diese Welt nach demselben Prinzip funktionierte wie ihre, ging gerade die Sonne auf. Ein paar einsame Bauernhöfe lagen dort, verbunden durch eine einzige Straße, die kaum mehr war als ein staubiger Trampelpfad. Im Westen erstreckte sich ein dunkler Tannenwald vom Horizont bis zu dem kleinen See, an dessen Ufer sie stand. Das war dann wohl besagter Düsterweiher.
Irgendwo im Wald schrie ein Käuzchen. Vielleicht war es auch ein ausgewachsener Uhu, was wusste sie schon. Käuzchen klang weniger bedrohlich, deshalb blieb sie lieber bei diesem Begriff.
Besser, sie machte sich auf den Weg. Sie musste ihren Landeplatz verlassen. Bloß, wohin sollte sie gehen? Düsterweiher klang unheilvoll, also kehrte sie dem See den Rücken. Blieben die Straße und der Wald. Sie entschied sich für Letzteres. Was auch immer hier geschehen würde, zwischen den Bäumen war sie wenigstens vor Blicken geschützt.
Drei Seiten Landschaftsbeschreibung, hatte er gesagt. Das klang einigermaßen sicher. Es klang, als hätte sie einen kleinen Vorsprung, ehe die Handlung losging. Aber Zeit war relativ in der Welt der Bücher. Doktor Pawell hatte versprochen, das Buch rasch zu schließen. Sie schätzte, dass er dafür nicht länger als eine Minute brauchen würde. Bloß dass eine Minute ein Jahr sein konnte oder auch nur ein Wimpernschlag. Und ein Wimpernschlag konnte ausreichen, um nie mehr dieselbe zu sein.
Sie schritt kräftiger aus. Ein paar Meter noch, dann hatte sie den Waldrand erreicht. Das Käuzchen schrie erneut, deutlich näher diesmal.
Nora zögerte, verlangsamte ihre Schritte. Was, wenn sie direkt auf die Handlung zulief? Als hätten ihre Gedanken es heraufbeschworen, drang ein tiefes Knurren aus dem Wald. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte den Hügel hinunter, so schnell sie konnte.
Benjamin Pawell sprang auf. Fassungslos blickte auf die Stelle, an der eben noch seine Patientin gesessen hatte. Jetzt lag dort nur noch das aufgeschlagene Buch auf dem Boden. Das Lesezeichen war zwischen den Seiten heraus- und halb unter das Sofa gerutscht. An der Wand tickte leise die Uhr.
Ben räusperte sich. Es klang unnatürlich laut. Er war es gewohnt, allein im Zimmer zu sitzen, wenn er seinen Papierkram erledigte. Bloß sollte er in diesem Moment nicht alleine sein. Was ging hier vor, verflucht noch mal?
Auf der Couchlehne lag noch der leichte Mantel, den Nora Winter dort abgelegt hatte. Er streckte den Arm aus, befühlte den weichen Stoff. Eingebildet hatte er sich die Besucherin also nicht.
Er war ratlos. Wie hatte sie das gemacht?
Ben ließ die Hand über die Stelle gleiten, an der eben noch seine Patientin gesessen hatte. Nichts. Er machte sich daran, unter die Couch zu sehen, doch darunter waren kaum fünf Zentimeter Platz, eindeutig zu wenig für eine erwachsene Frau.
Misstrauisch hob er das Buch auf. Er klappte es zu – und riss gerade noch rechtzeitig die Arme in die Luft, um seine Patientin abzufangen, die über seine Füße stolperte und auf ihn fiel.
Wo war sie so plötzlich hergekommen? Etwa aus dem Buch? Das war unmöglich! Absolut undenkbar! Aber sie war hier. Und zuvor war sie weg gewesen.
Ungeschickt half er ihr auf die Beine. „Ist alles in Ordnung?“
„Es geht schon.“ Sie klang außer Atem. Sichtlich erschöpft ließ sie sich auf die Couch sinken.
Ben setzte sich ebenfalls, wenn auch mehr aus Gewohnheit. Seine Gedanken rasten. Er kannte seine Praxis. Hier gab es keine Falltüren, keine Spiegel oder sonstigen Vorrichtungen, die für eine solche Scharade notwendig gewesen wären. War das Unmögliche tatsächlich passiert? Diese Möglichkeit auch nur zu erwägen war völlig absurd! Aber welche Erklärung gab es sonst? Er zweifelte nicht länger bloß an ihrem, sondern nun auch an seinem Verstand.
„Also, wie sieht es aus?“, fragte sie nach einer Weile. „Werden Sie mich jetzt behandeln oder nicht?“
Im ersten Moment wusste er überhaupt nicht, wovon sie sprach. Seine Gedanken kreisten immer noch um die Erkenntnis, dass soeben eine Frau erst aus seiner Praxis verschwunden und anschließend wie aus dem Nichts wiederaufgetaucht war. Und sie tat, als wäre nichts dabei!
Andererseits: Es war genau das geschehen, was sie angekündigt hatte. Er atmete tief durch. Sagte sie etwa die Wahrheit? Konnte sie in jedes beliebige Buch fallen, aus der Realität hinein in Fiktion? Aber das war doch Humbug. Wie sollte das möglich sein?
„Doktor Pawell?“
Er hob die Hand und bedeutete ihr, zu warten. Sie das Lesen vergessen lassen … Der Beginn dieses Gesprächs schien Jahre her zu sein. Würde er sie behandeln? Sie hypnotisieren, einen Teil ihrer Fähigkeiten einfach auslöschen?
Ben seufzte. Die eigentliche Frage war doch: Glaubte er ihr? Oder war sie nur eine verwirrte Frau, die sich irgendwelcher Taschenspielertricks bediente, um ihn zu manipulieren? Wozu der Aufwand? Was hätte sie davon? Wieso sollte sie das tun, nur um das Lesen zu verlernen?
Aber falls sie die Wahrheit sagte, falls es tatsächlich stimmte … Seine Fingerspitzen kribbelten.
Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte sich in Luft aufgelöst und war danach wiederaufgetaucht. Es war kein Trick. Aber was dann? Etwa Magie? Der Gedanke war lächerlich. Doch wenn es real war … Nicht nur ihre Fähigkeit, sondern auch das Problem, das sie damit hatte? Was dann? Medikamente würden ihr nicht helfen, und eine Therapie benötigte sie nicht.
Er konnte sie hypnotisieren, ihren Wunsch erfüllen, wenn auch nicht so einfach, wie Frau Winter sich das vermutlich vorstellte – es gab keinen Schalter im Gehirn, auf dem „Lesen“ stand und den man bloß umzulegen brauchte. Das war auch gar nicht nötig. Es würde genügen, sie einzelne Buchstaben vergessen zu lassen, um das sinnerfassende Lesen zu verhindern.
Aber das wäre ein grober Einschnitt in ihr Leben. Analphabetismus war keine leichte Bürde. Und außerdem … So sehr er sich auch für diesen Gedanken schämte, Ben konnte ihn nicht leugnen. Außerdem würde ich dann nie erfahren, was es mit ihrer Fähigkeit auf sich hat.
Er verschränkte die Hände. Legte nachdenklich die Daumen Kuppe an Kuppe und tappte sie ein paarmal gegeneinander. Schließlich sagte er: „Ich denke, dass wir Ihr Problem auch ohne Hypnose in den Griff bekommen können.“
Nora Winter kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Heißt das, Sie glauben mir? Oder haben Sie bloß vor, mich mit Medikamenten vollzustopfen? Nur damit das klar ist: Ich nehme keine Tabletten, das können Sie gleich vergessen.“
„Nein, keine Medikamente. Ich möchte nur sichergehen, dass wir alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben, bevor wir zu einem derart drastischen Mittel greifen, wie Sie es wünschen. Es muss einen Weg geben, Ihre Fähigkeit zu kontrollieren.“
Sie schnaubte und ließ sich zurück in die Couch sinken. „Glauben Sie wirklich, ich hätte das nicht bereits versucht? Ich denke, ich kann meine Situation besser einschätzen als ein Fremder – Psychodoktor hin oder her.“
„Ich möchte Ihnen helfen, Frau Winter.“ Auf keinen Fall wollte er, dass sie einfach aufstand und zur Tür hinausspazierte, dafür war seine Neugier zu groß. „Aber vielleicht gibt es eine Alternative, die Sie noch nicht kennen. Bitte, geben Sie mir die Gelegenheit, Ihr Problem zu verstehen, bevor wir einen solchen Schritt gehen.“
Ein einzelner Piepton ertönte und erinnerte ihn daran, dass ihre Stunde vorbei war. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn ignorierte Ben das Signal.
Nora zögerte. Ein Leben, in dem sie lesen könnte, ohne Gefahr. Ohne Furcht. Sie war bereit gewesen, alles aufzugeben, nur um sich wieder sicher zu fühlen. Ihre Arbeitsstelle. Sogar ihr Augenlicht, wenn Doktor Pawell ihr eine Behandlung verweigert hätte. Alles, nur um endlich keine Angst mehr haben zu müssen.
Es funktionierte nicht, das wusste sie. Sie hatte oft genug versucht, es zu kontrollieren. Und trotzdem … Ein Funken Hoffnung regte sich in ihr. Sie war schließlich hier, um Hilfe zu erhalten. Vielleicht fand der Psychologe tatsächlich eine Lösung für ihr Problem. War es den Versuch nicht wert?
Sie atmete noch einmal durch und nickte. „Was wollen Sie wissen?“
Doktor Pawell sank zurück. Er wirkte erleichtert. „Wann hat das angefangen?“, fragte er. „Das … Wie nannten Sie es? Das Fallen?“
Die Erinnerung brachte ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. Gedankenverloren zupfte sie ihr silbernes Kettchen hervor und betastete den Anhänger daran. „Das erste Mal ist es passiert, als ich dreizehn war. Ich habe mich durch Romeo und Julia gequält, für den Unterricht. Und auf einmal war ich dort, mitten auf den Straßen von Verona, zwischen Montagues und Capulets. Das war ein ganz schöner Schock. Aber den Test habe ich mit einer Eins bestanden.“ Sie lachte auf. „Natürlich habe ich es gleich darauf mit dem erstbesten Schundroman ausprobiert, den ich in die Finger bekommen habe. Damals hat es nur sehr selten funktioniert, und nur, wenn ich alleine und entspannt war.“
„Demnach hat es eine Zeit gegeben, in der Sie gerne in Geschichten gefallen sind.“
Nora ließ die Kette los. „Ich hätte es nicht wiederholen sollen. Aber ich war jung und naiv, und auf diese Art war es mir möglich, Dinge zu sehen und zu erleben, von denen andere nicht einmal zu träumen wagen. Wie hätte ich da widerstehen können?“
Er sah sie wieder mit diesem verständnisvollen Therapeutenblick an. Nur dass sie diesmal das Gefühl hatte, dass er verstand. Sie sah zu dem Buch, das er ihr für ihren Beweis geliehen hatte. Womöglich trug der Schnösel eine ebenso tiefe Literaturverbundenheit in sich wie sie. Und vielleicht wehrte er sich deshalb so sehr dagegen, ihr das Lesen zu nehmen? Ein Hauch Sympathie keimte in Nora auf.
„Sie tragen diese Fähigkeit also seit Ihrer Jugend in sich“, fasste er zusammen. „Weshalb ist es Ihnen ausgerechnet jetzt so ein dringendes Anliegen, sie loszuwerden? Was hat sich verändert?“
Schlagartig kehrte die Angst zurück. Sie schlang die Arme um den Körper, presste sie eng an sich. „Es ist schlimmer geworden. Viel schlimmer.“
„Sie haben die Kontrolle darüber verloren.“
„Und es sind nicht länger nur Bücher. Auch kleine Artikel in Magazinen, die Nachrichten … Ich habe Angst, in einem Kriegsgebiet zu landen, oder am Schauplatz eines Verbrechens. Zeitungen traue ich mich nicht einmal mehr anzusehen, geschweige denn aufzuschlagen. Und vor zwei Wochen ist es dann mit einer Anzeige passiert.“
„Sie meinen ein Inserat?“
„Nein, eine Plakatwand auf dem Weg ins Büro. Drei Meter breit, schwer zu übersehen. Also habe ich hingesehen, und im nächsten Moment fand ich mich vor der Freiheitsstatue wieder.“ Sie stieß ein kurzes, angespanntes Lachen aus. „Haben Sie schon einmal versucht, ohne Reisepass oder Kreditkarte einen Flug zu buchen? Noch dazu in Amerika? Bis ich jemanden gefunden hatte, der mir ein Ferngespräch ermöglicht, damit ich meine Mutter bitten konnte, meine Dokumente nach Amerika zu schicken … Von der Erklärungsnot meinem Chef gegenüber fange ich gar nicht erst an, die habe ich ohnehin regelmäßig.“
Sie zupfte an ihrem Rocksaum, suchte nach den richtigen Worten. „Ich habe nicht nur keine Kontrolle über das, was ich lese – mein gesamtes Leben entgleitet mir. Freunde haben nur bedingt Verständnis für jemanden, der sich in ihren Augen merkwürdig verhält und ständig einfach abhaut. Haustiere kann ich mir nicht erlauben, und eine Zukunft … Darüber traue ich mich nicht einmal nachzudenken.“
„Sie haben ein Büro erwähnt. Wenn ich fragen darf: Was machen Sie beruflich?“
„Buchhaltung.“
Er weitete verblüfft die Augen. „Das ist …?“
„Langweilig?“ Sie lächelte. Das bekam sie regelmäßig zu hören. Sie selbst fand die klare Struktur ihres Arbeitsalltags überaus beruhigend.
„Nicht das, was ich erwartet habe“, korrigierte er. „Wie kommen Sie dabei mit dem Lesen zurecht?“
„Rechnungen und Bilanzen waren bisher ungefährlich. Ich konzentriere mich auf die Zahlen.“
Er nickte, griff nach seinen Unterlagen und notierte sich das. „Weiß ihre Familie von Ihrem Problem?“, fragte er.
Die Frage versetzte ihr einen Stich. „Nein. Ich habe versucht, mit meinen Eltern über diese Erlebnisse zu sprechen. Damals, als es angefangen hat. Ich konnte es nicht beweisen, und sie haben mich zum Arzt geschleppt. Drei Jahre Psychopharmaka, bis ich mich selbst so überzeugend verleugnet hatte, dass sie es glaubten. Das war das letzte Mal, dass ich mich ihnen anvertraut habe.“
„Das tut mir leid.“
So sah er auch aus. Vielleicht dämmerte ihm endlich, wie viel Überwindung sie ihr Besuch hier gekostet hatte. Sie hatte gewusst, dass er ihr nicht glauben würde. Selbst, wenn sie es geschafft hätte, eine Kamera in ein Buch zu schummeln – in Zeiten von digitaler Bildbearbeitung war ein Foto nicht mehr der Beweis, der es einmal gewesen war. Sie hatte also auch gewusst, dass sie es vorführen musste. Und nun fürchtete sie, dass er ihr trotzdem nicht glaubte und sie umgehend in die Klapse einwies. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Nora kämpfte sie zurück.
„Dann ist es vermutlich nicht erblich bedingt“, fasste der Psychologe zusammen. „Sonst hätte Ihre Familie Bescheid gewusst. War New York das einzige Mal, dass Sie in eine Anzeige gefallen sind?“
„Bisher, ja.“ Das eine Mal hatte ihr auch gereicht. Seitdem scheute sie vor Magazinen und Nachrichten noch mehr zurück als vor Büchern.
„Und es war anders als bei den Geschichten. Sie sind in unserer Welt geblieben.“
„Richtig.“
„Warum?“
Sie hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Das ist es ja. Falls es eine Bedienungsanleitung für mein Problem gibt, hat man leider vergessen, mir das blöde Ding zu geben.“
„Schon gut. Genau deshalb sprechen wir ja darüber – um gemeinsam die Regeln und Grenzen Ihrer Fähigkeit zu ergründen. Damit wir sie besser verstehen können und Sie eine Möglichkeit finden, sie zu beherrschen.“ Er hielt inne, strich nachdenklich mit dem Finger über die Goldgravur seines Kugelschreibers. „Es ist nur ein Gedanke, aber so wie ich das sehe, könnte Sie Ihre Furcht vor dem Fallen darin behindern, es zu kontrollieren.“
Nora ließ sich zurück in die Couch sinken. „Na das hilft mir jetzt weiter.“
Unbeeindruckt fuhr er fort: „Sie sollten üben. So viel wie möglich, bis Sie Ihre Fähigkeit steuern können.“
„Sie haben leicht reden.“
„Ich lasse Sie damit nicht allein. Sie können hier üben, unter kontrollierten Bedingungen. Ich schlage das Buch zu, sobald Sie fort sind. Ich bin bei Ihnen, Sie müssen keine Angst haben.“
„Ja, klar. Ich soll also täglich eine Stunde in Bücher hinein- und wieder hinausfallen? Das ist Ihr toller Plan?“
„Im Prinzip läuft es darauf hinaus, ja. Aber denken Sie daran: Mein Ziel ist es, dass Sie gar nicht erst verschwinden.“
„Wenn das so leicht wäre, müsste ich nicht hier sitzen.“
„Versuchen wir es doch.“ Erneut reichte er ihr den Wälzer mit den Landschaftsbeschreibungen … und mit dem knurrenden Tier im Wald. Die Bestie, die sie dicht hinter sich gefühlt hatte. „Konzentrieren Sie sich nicht auf den Text, sondern auf Ihre Umgebung. Das Gefühl des Sofas, das Ticken der Uhr, den Geruch der Praxis. Alles, was Ihnen hilft, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren.“
Wusste der Kerl eigentlich, wie armselig sein Vorschlag klang? Als ob sie das nicht schon oft genug versucht hätte! Aber welche Alternative hatte sie schon? Jeder andere Therapeut hätte sie bereits in eine Zelle mit weichen Wänden und einer täglichen Ration Glücklichmacherpillen gesteckt. Und allein … allein hatte sie nichts. Keine Sicherheit. Niemanden, der sie zurückholen konnte. Nur die Angst.
„Und wenn es nichts bringt?“ Ihre Stimme zitterte.
Doktor Pawell griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. „Dann werden wir einen anderen Weg finden.“
„Hinter dem Haus wucherte eine Blumenwiese. Margeriten, Mohn- und Kornblumen kämpften um die Aufmerksamkeit der Sonnenstrahlen …“
Wind kam auf, aber Nora Winter hielt mit aller Macht an der Wirklichkeit fest, presste den Rücken in die Polster der Couch. Ihre freie Hand klammerte sie Halt suchend um die Kante der Sitzfläche.
„Durchhalten, Sie schaffen das!“
Der Sturm wurde stärker, die Seiten des Taschenbuchs flatterten und schlugen gegen die Hand, die sie auf das Papier drückte. Sie verstärkte ihren Griff um den Sitzpolster. „Ein schmaler Pfad aus Steinplatten führte zum Gatter hinaus …“
„Nicht aufhören!“ Mittlerweile musste Ben gegen das Brausen des Sturms anschreien.
„… und vorbei am Apfelbaum –“
Es krachte.
Als hätte man ein Fenster zugeschlagen, kehrte die Stille zurück, und der Wind verschwand. Diesmal hatte sie länger durchgehalten, aber auch der Sog des Buches schien zu wachsen. So jedenfalls interpretierte Ben seine Beobachtung. Die Bücher wollten Nora.
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.
Er klappte das Buch zu und hielt es Nora hin, die ein wenig unsicher danach griff.
„Es wird nicht funktionieren, oder?“, fragte sie.
„Seien Sie nicht so streng mit sich. Das hat doch schon ganz gut geklappt. Aber es ist spät, wir sind beide müde. Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.“
„Nein!“
Sie hatte darauf bestanden, sofort mit dem Üben zu beginnen. Jetzt drückte sie das Buch an sich, als wäre es der Schlüssel zu ihrer Zukunft. Möglicherweise war es das auch. Einen derart langweiligen Roman fand sie sicher nicht so bald wieder.
„Bitte“, drängte sie. „Ein letztes Mal noch.“
„Gut, einmal noch.“ Es war bereits nach neun, sie übten nun schon seit fast zwei Stunden. Aber Ben brachte es nicht über sich, Nora abzuweisen, die endlich Vertrauen zu ihm fasste. Sie lächelte ihm zu. Ein warmes, aufrichtiges Lächeln, so kurzlebig es auch war.
Dann öffnete sie das Buch erneut. „Abendrot tauchte das Land in goldenes Licht.“ Ein Kugelschreiber rollte über die Schreibtischplatte und fiel zu Boden. „Wie ein Scherenschnitt erhob sich der schwarze Umriss der Burg vor dem Horizont.“
Mit unvermuteter Heftigkeit brach der Sturm los, riss ihr beinahe das Buch aus den Händen. Etwas stimmte hier nicht. Hatte sie zu oft aus demselben Buch gelesen? Forderte es endgültig ein, was auch immer es von Nora wollte?
„Warten Sie!“ Ben brüllte, doch sie schien ihn nicht zu hören. Wie kam es dann, dass er ihre Stimme ohne Mühe verstehen konnte?
„So schön war dieser Anblick, so fremd …“
Reihe um Reihe wurden die Bücher aus dem Regal gerissen und krachten zu Boden. Bekam sie das denn nicht mit? Sie musste aufhören, und zwar sofort!
„Nora!“ Ohne darüber nachzudenken, griff Ben nach ihrem Arm. Er wollte sie vom Weiterlesen abhalten, ihr notfalls das Buch aus den Fingern reißen.
Sobald er sie berührte, knackte es. Der Wind traf ihn mit einer solchen Wucht, dass es ihm die Luft aus der Lunge presste. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.
Dann hörte er Noras Stimme. „Was haben Sie getan?“
Ben sah zu ihr auf. Blinzelte gegen das goldene Abendlicht und erkannte den Schatten, der sich in der Ferne abzeichnete. „Oh, verflucht.“
Wie ein Scherenschnitt erhob sich der schwarze Umriss der Burg vor dem Horizont.
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