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Neue Horizonte

James Poskett
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Eine globale Geschichte der Wissenschaft

„Dieses Zusammenspiel von großer Geste und den örtlich bedingten Schicksalen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen viele in den eurozentrischen Geschichten der wissenschaftlichen Revolution keinen Platz gefunden haben, macht das Buch zu einer spannenden Lektüre.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Neue Horizonte — Inhalt

„Wissenschaft ist kein ausschließlich europäisches Unterfangen – und war es auch nie.“ James Poskett
Wer steckt hinter den großen Entdeckungen moderner Wissenschaft? Eine Frage, deren Antworten auf der Hand zu liegen scheinen, sind Namen wie Nikolas Kopernikus und Sir Isaac Newton doch untrennbar mit Ansätzen wie dem heliozentrischen Weltbild oder den Gravitationsgesetzen verbunden. Mit diesen Antworten einher geht eine eurozentrische Weltanschauung, und damit ein nicht nur einseitiges, sondern vor allem unvollständiges Bild wissenschaftshistorischer Entwicklungen.

»Superb ... Poskett hebt richtiger­weise die schändlich übersehenen Beiträge indischer, chinesischer und japanischer Wissenschaftler hervor.« Sunday Times

James Poskett nimmt uns mit auf eine Zeitreise um die Welt und zeichnet die Ursprünge moderner Wissenschaft nach. Von den Palästen der Azteken bis hin zu chinesischen Universitäten erzählt er die Geschichte vergessener Pioniere großer Erkenntnisse und zeigt, dass wissenschaftlicher Fortschritt unweigerlich vom globalen kulturellen Austausch abhängt – schon immer und noch heute.

€ 28,00 [D], € 28,80 [A]
Erschienen am 26.05.2022
Übersetzt von: Monika Niehaus, Bernd Schuh
592 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07008-9
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€ 27,99 [D], € 27,99 [A]
Erschienen am 26.05.2022
Übersetzt von: Monika Niehaus, Bernd Schuh
592 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60076-7
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„Dieses Zusammenspiel von großer Geste und den örtlich bedingten Schicksalen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen viele in den eurozentrischen Geschichten der wissenschaftlichen Revolution keinen Platz gefunden haben, macht das Buch zu einer spannenden Lektüre.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Leseprobe zu „Neue Horizonte“

Einleitung: Die Ursprünge der modernen Naturwissenschaften

Woher kommen die modernen Naturwissenschaften? Noch in jüngster Zeit hätten die meisten Historiker Ihnen die folgende Geschichte erzählt: Irgendwann zwischen 1500 und 1700 wurden die modernen Naturwissenschaften in Europa erfunden. Dies ist eine Historie, die gewöhnlich mit dem polnischen Astronom Nikolaus Kopernikus beginnt. In seinem Werk Über die Umschwünge der himmlischen Kreise (1543) behauptete Kopernikus, die Erde kreise um die Sonne. Das war eine radikale Idee. Seit der Zeit der alten [...]

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Einleitung: Die Ursprünge der modernen Naturwissenschaften

Woher kommen die modernen Naturwissenschaften? Noch in jüngster Zeit hätten die meisten Historiker Ihnen die folgende Geschichte erzählt: Irgendwann zwischen 1500 und 1700 wurden die modernen Naturwissenschaften in Europa erfunden. Dies ist eine Historie, die gewöhnlich mit dem polnischen Astronom Nikolaus Kopernikus beginnt. In seinem Werk Über die Umschwünge der himmlischen Kreise (1543) behauptete Kopernikus, die Erde kreise um die Sonne. Das war eine radikale Idee. Seit der Zeit der alten Griechen hatten Astronomen angenommen, die Erde stehe im Zentrum des Universums. Erstmals stellten wissenschaftliche Denker im Europa des 16. Jahrhunderts diese alte Weisheit infrage. Auf Kopernikus folgten weitere Pioniere einer Bewegung, die oft als „naturwissenschaftliche Revolution“ bezeichnet wird – der italienische Astronom Galileo Galilei, der 1609 erstmals die Jupitermonde beobachtete, und der englische Naturforscher und Mathematiker Isaac Newton, der 1687 die Bewegungsgesetze formulierte. Die meisten Historiker würden Ihnen dann erzählen, dass dieses Muster sich die nächsten 400 Jahre lang fortsetzte. Die Historie der modernen Naturwissenschaften, wie sie traditionell wiedergegeben wird, ist eine Geschichte, die sich fast ausschließlich auf Männer wie Charles Darwin konzentriert, den britischen Naturforscher, der im 19. Jahrhundert die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion entwickelte, und Albert Einstein, den deutschen Physiker, der im 20. Jahrhundert die Spezielle Relativitätstheorie formulierte. Vom Gedanken der Evolution im 19. Jahrhundert zur kosmischen Physik im 20. Jahrhundert sind die modernen Naturwissenschaften – so hören wir – allein ein Produkt Europas.[i]

Diese Geschichte ist ein Mythos. In diesem Buch möchte ich Ihnen eine ganz andere Geschichte über die Entstehung der modernen Naturwissenschaften erzählen. Die Naturwissenschaften waren nicht das Produkt einer einzigartigen europäischen Kultur. Vielmehr waren die modernen Naturwissenschaften stets darauf angewiesen, Menschen und Ideen aus verschiedenen Kulturen rund um den Globus zusammenzubringen. Kopernikus ist dafür ein gutes Beispiel. Er verfasste seine Schriften zu einer Zeit, als Europa neue Verbindungen mit Asien knüpfte, als Karawanen die Seidenstraße entlangzogen und Galeonen über den Indischen Ozean segelten. In seinem wissenschaftlichen Werk stützte sich Kopernikus auf mathematische Methoden, die er in arabischen und persischen Texten gefunden hatte und von denen viele erst kurz zuvor nach Europa gebracht worden waren. Ein ähnlicher wissenschaftlicher Austausch fand in ganz Asien und Afrika statt. Zur selben Zeit reisten die osmanischen Astronomen über das Mittelmeer, um ihre Kenntnisse in den islamischen Wissenschaften mit neuen Ideen christlicher und jüdischer Denker zu kombinieren. In Westafrika, an den Höfen von Timbuktu und Kano, studierten Mathematiker arabische Manuskripte, die von jenseits der Sahara stammten. Im fernöstlichen Peking lasen Astronomen chinesische Klassiker neben lateinischen wissenschaftlichen Texten. Und in Indien beschäftigte ein reicher Maharadscha hinduistische, muslimische und christliche Mathematiker und ließ sie einige der präzisesten astronomischen Tabellen zusammenstellen, die jemals angefertigt wurden.[ii]

All das spricht für ein völlig anderes Verständnis der Geschichte der modernen Naturwissenschaften. In diesem Buch argumentiere ich, dass wir die Geschichte der modernen Naturwissenschaften vor dem Hintergrund von Schlüsselmomenten der globalen Geschichte denken müssen. Wir beginnen mit der Kolonialisierung der beiden Amerikas im 15. Jahrhundert und bewegen uns bis in die Gegenwart. Unterwegs erforschen wir die wichtigsten Entwicklungen der Wissenschaftsgeschichte, von der neuen Astronomie im 16. Jahrhundert bis zur Genetik im 21. Jahrhundert. In allen Fällen möchte ich zeigen, dass die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften von einem globalen kulturellen Austausch abhing. Dabei soll jedoch betont werden, dass dies nicht einfach eine Geschichte des Triumphes der Globalisierung ist. Schließlich fand der kulturelle Austausch in ganz verschiedenen Formen statt, von denen viele ausgesprochen ausbeuterisch waren. Einen großen Teil der Frühen Neuzeit hindurch wurde Wissenschaft durch ein Primat von Sklaverei und Herrschaft geformt. Im 19. Jahrhundert wurde Wissenschaft vom Aufkommen des industriellen Kapitalismus geprägt, während sie sich im 20. Jahrhundert am besten unter dem Aspekt des Kalten Krieges und der Entkolonialisierung erklären lässt. Doch trotz dieser eklatanten Machtungleichgewichte haben Menschen aus allen Teilen der Welt bedeutende Beiträge zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften geleistet. Welche Zeitspanne wir uns auch ansehen, die Geschichte der Wissenschaft lässt sich nicht als ein Narrativ erzählen, das sich allein auf Europa konzentriert.[iii]

 

Die Notwendigkeit einer solchen Art der Darstellung war nie so groß wie heute. Das Gleichgewicht der wissenschaftlichen Welt verlagert sich. China hat die Vereinigten Staaten überholt, was die Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten angeht, und in den letzten Jahren haben in China tätige Forscher mehr naturwissenschaftliche Artikel veröffentlicht als Forscher in anderen Teilen der Welt. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben im Sommer 2020 eine unbemannte Mission zum Mars auf den Weg gebracht, während Computerwissenschaftler in Kenia und Ghana eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz spielen. Gleichzeitig haben europäische Wissenschaftler mit den Verheerungen des Brexit zu kämpfen, während russische und amerikanische Sicherheitsdienste einander per Cyberkrieg das Leben schwer machen.[iv]

Die Naturwissenschaften selbst werden von Kontroversen geplagt. Im November 2018 schockierte der chinesische Biologe He Jiankui die Welt mit der Erklärung, er habe erfolgreich die Gene zweier Babys verändert. Viele Genetiker waren der Ansicht, ein solcher Eingriff in die menschliche Keimbahn sei zu riskant, um ein solches Experiment zu rechtfertigen. Wie die Welt jedoch rasch erfuhr, ist es sehr schwierig, einen internationalen Kodex wissenschaftlicher Ethik durchzusetzen. Offiziell distanzierte sich die chinesische Regierung von Hes Forschung und verurteilte ihn zu einer dreijährigen Haftstrafe. Doch 2021 drohen Forscher in Russland bereits, sein umstrittenes Experiment zu wiederholen. Neben Problemen rund um ethische Fragen leidet die Wissenschaft heute wie schon in der Vergangenheit unter tiefgreifenden Ungleichheiten. Wissenschaftler, die ethnischen Minderheiten angehören, sind an der Spitze ihrer Profession unterrepräsentiert. Jüdische Wissenschaftler und Studenten leiden weiterhin unter Antisemitismus, während Forscher, die außerhalb von Europa und den Vereinigten Staaten arbeiten, oft keine Visa erhalten, um internationale Konferenzen zu besuchen. Wenn wir solche Probleme angehen wollen, brauchen wir eine neue Wissenschaftsgeschichte, die die Welt, in der wir leben, besser widerspiegelt.[v]

Heutige Naturwissenschaftler sind rasch bereit anzuerkennen, dass ihre Arbeit eine internationale Basis hat. Sie halten dies jedoch für ein relativ neuzeitliches Phänomen, ein Produkt der „Big Science“ des 20. Jahrhunderts, statt für eine Angelegenheit, die mehr als 500 Jahre zurückreicht. Wenn Beiträge zur Wissenschaft von außerhalb Europas anerkannt werden, werden sie in der Regel in ferner Vergangenheit verortet und nicht als Teil der Geschichte der naturwissenschaftlichen Revolution und des Aufstiegs der modernen Naturwissenschaften gesehen. Wir hören eine Menge über das „Goldene Zeitalter“ der islamischen Wissenschaft im Mittelalter, die Zeit um das 9. und 10. Jahrhundert, als Denker in Bagdad die Algebra und viele weitere neue mathematische Methoden entwickelten. Die naturwissenschaftlichen Leistungen des alten China werden ebenso betont, beispielsweise die Erfindung des Kompasses und des Schießpulvers, beides vor deutlich mehr als 1000 Jahren. Diese Geschichten dienen jedoch nur dazu zu unterstreichen, dass Regionen wie China und der Nahe Osten wenig mit der Historie der modernen Naturwissenschaften zu tun haben.[vi] Tatsächlich vergessen wir oft, dass der Begriff des „Goldenen Zeitalters“ im 19. Jahrhundert erfunden wurde, um die Expansion europäischer Reiche zu rechtfertigen. Britische und französische Imperialisten förderten die falsche Vorstellung, die Zivilisationen in Asien und im Nahen Osten seien seit dem Mittelalter im Niedergang begriffen und müssten modernisiert werden.

Überraschend ist vielleicht, dass diese Geschichten in Asien ebenso populär sind wie in Europa. Denken Sie nur an die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking 2008. Sie begann mit einer riesigen Schriftrolle, die auf die Erfindung des Papiers im alten China verwies. Die ganze Zeremonie hindurch sah ein Fernsehpublikum von mehr als einer Milliarde Menschen zu, wie China auch seine anderen in der Antike vollbrachten wissenschaftlichen Leistungen, darunter die Entwicklung des Kompasses, in Szene setzte. Passenderweise schloss das Spektakel mit einer weiteren grandiosen Errungenschaft der chinesischen Antike: Feuerwerk erhellte den Himmel über dem Vogelnest-Stadion, eine Verneigung vor der Erfindung des Schießpulvers in der Song-Dynastie. Doch während der ganzen Zeremonie gab es nur sehr wenige Anspielungen auf die vielen wissenschaftlichen Durchbrüche, zu denen China seitdem beigetragen hat, beispielsweise zur Entwicklung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert oder zur Quantenmechanik im 20. Jahrhundert. Dasselbe gilt für den Nahen Osten. Im Jahr 2016 hielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf dem türkisch-arabischen Kongress über höhere Bildung in Istanbul eine Rede. Darin beschrieb er „das Goldene Zeitalter der islamischen Zivilisation“, die mittelalterliche Periode, in der „islamische Städte wissenschaftliche Zentren“ waren. Doch offensichtlich war sich Erdoğan nicht der Tatsache bewusst, dass viele Muslime, einschließlich solcher, die in der heutigen Türkei leben, genauso viel zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften beigetragen haben und weiterhin beitragen. Von der Astronomie im Istanbul des 16. Jahrhunderts bis zur Humangenetik im Kairo des 20. Jahrhunderts reichte der naturwissenschaftliche Fortschritt in der islamischen Welt weit über das mittelalterliche „Goldene Zeitalter“ hinaus.[vii]

 

Warum sind diese Geschichten so weit verbreitet? Wie viele Mythen entstand die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa geboren wurden, nicht durch Zufall. Mitte des 20. Jahrhunderts begann eine Gruppe von Historikern in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, Bücher mit Titeln wie The Origins of Modern Science zu veröffentlichen. Fast alle Autoren waren davon überzeugt, dass die modernen Naturwissenschaften – und damit die moderne Zivilisation – irgendwann im 16. Jahrhundert in Europa entstanden waren. „Wir müssen die naturwissenschaftliche Revolution … als kreatives Produkt des Westens ansehen“, schrieb der einflussreiche Cambridger Historiker Herbert Butterfield 1949. Auf der anderen Seite des Atlantiks sah man die Dinge ähnlich. In den 1950er-Jahren lernten Studenten der Yale University, dass „der Westen die Naturwissenschaften geschaffen hat … der Osten tat dies nicht“, während Leser des renommierten Wissenschaftsmagazins Science erfuhren, dass „ein kleiner Kreis westlicher europäischer Nationen die ursprüngliche Heimat der modernen Naturwissenschaften“ bildete.[viii]

Die politische Absicht hinter alldem konnte nicht klarer sein. Diese Historiker lebten während der ersten Jahrzehnte des Kalten Krieges, einer Zeitspanne, in der der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus die Weltpolitik beherrschte. Sie stellten sich die zeitgenössische Welt als streng in Ost und West geteilt vor und projizierten diese Teilung dann – ob bewusst oder unbewusst – auf die Vergangenheit zurück. In dieser Zeit galten Naturwissenschaften und Technologie allgemein als Kennzeichen politischen Erfolgs, vor allem, nachdem die Sowjetunion im Oktober 1957 mit „Sputnik“ den ersten künstlichen Satelliten ins All geschossen hatte. Die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa entwickelt worden waren, diente deshalb als bequeme Fiktion. Für die politischen Führer in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten war es sehr wichtig, dass sich ihre Bürger auf der richtigen Seite der Geschichte sahen, als Träger des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Diese Wissenschaftsgeschichte sollte darüber hinaus postkoloniale Staaten davon überzeugen, den Weg des Kapitalismus einzuschlagen und sich von kommunistischen Ideen fernzuhalten. Im Verlauf des Kalten Krieges gaben die Vereinigten Staaten Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe aus, um eine Kombination aus freier Marktwirtschaft und wissenschaftlicher Entwicklung in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern zu fördern. Damit sollte ein Gegengewicht zum Auslandshilfe-Programm der Sowjetunion geschaffen werden. „Westliche Wissenschaft“ versprach in Kombination mit „Marktwirtschaft“ nichts weniger als ein wirtschaftliches „Wunder“, zumindest, wenn man amerikanischen Politikern Glauben schenkte.[ix]

Eine gewisse Ironie lag darin, dass sowjetische Historiker schließlich eine sehr ähnliche Geschichte erzählten, was den Ursprung der modernen Naturwissenschaften anging. Sie ignorierten in der Regel die Leistungen früher russischer Wissenschaftler im Zarenreich und betonten stattdessen den spektakulären Aufstieg der Wissenschaft im Kommunismus. »Bis ins 20. Jahrhundert gab es so gut wie keine Physik in Russland«, schrieb der Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften 1933. Wie wir noch sehen werden, stimmte das nicht. Peter der Große förderte einige der wichtigsten astronomischen Beobachtungen, die Anfang des 18. Jahrhunderts gemacht wurden, während russische Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des Radios spielten. Einige sowjetische Historiker unternahmen später den Versuch, frühere russische Leistungen in den Naturwissenschaften zu betonen, doch zumindest in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es viel wichtiger, die revolutionären Fortschritte während des Kommunismus zu unterstreichen statt irgendwelche Errungenschaften unter dem alten Regime.[x]

In Asien und im Nahen Osten entwickelten sich die Dinge etwas anders, wenn auch letztlich mit ähnlichen Konsequenzen. Der Kalte Krieg war eine Zeit der Entkolonialisierung, in der viele Länder schließlich ihre Unabhängigkeit von europäischen Kolonialmächten erlangten. Politische Führer in Ländern wie Indien und Ägypten waren verzweifelt darum bemüht, ein neues Gefühl nationaler Identität zu schaffen. Viele griffen dafür auf die antike Vergangenheit zurück. Sie feierten die Leistungen mittelalterlicher und antiker naturwissenschaftlicher Denker und ignorierten viel von dem, was während der Kolonialzeit geschah. Tatsächlich wurde die Vorstellung eines islamischen und hinduistischen „Goldenen Zeitalters“ in den 1950er-Jahren populär – nicht nur in Europa, wie im 19. Jahrhundert, sondern auch im Nahen Osten und in Asien. Indische und ägyptische Historiker griffen die Idee einer glorreichen wissenschaftlichen Vergangenheit auf, die es wiederzuentdecken galt. Damit verstärkten sie unabsichtlich den Mythos, der von europäischen und amerikanischen Historikern verbreitet wurde. Die moderne Wissenschaft war westlich, die antike Wissenschaft war östlich, erzählte man den Menschen.[xi]

 

Der Kalte Krieg ist vorbei, doch die Geschichte der Naturwissenschaften steckt noch immer in der Vergangenheit fest. Von der gängigen Geschichtsdarstellung bis zu akademischen Lehrbüchern bleibt die Vorstellung, dass die modernen Naturwissenschaften in Europa erfunden wurden, einer der populärsten Mythen der modernen Historie. Es gibt jedoch nur sehr wenige Belege, die sie stützen. In diesem Buch liefere ich eine neue Geschichte der modernen Naturwissenschaften, die nicht nur besser belegt ist, sondern auch besser in die Zeit passt, in der wir leben. Ich zeige, dass die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften grundlegend auf dem Austausch von Ideen zwischen verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt basierte. Das galt für das 15. Jahrhundert genauso, wie es heute gilt.

Von aztekischen Palästen und osmanischen Sternwarten bis hin zu indischen Laboren und chinesischen Universitäten folgt dieses Buch den modernen Naturwissenschaften rund um die Welt. Aber dies ist keine Enzyklopädie. Ich habe nicht versucht, jedes Land oder jede wissenschaftliche Entdeckung abzudecken. Ein solcher Ansatz wäre verrückt und zudem kein besonderes Lesevergnügen. Vielmehr möchte dieses Buch zeigen, wie die Weltgeschichte die modernen Naturwissenschaften formte. Aus diesem Grund habe ich mir vier Schlüsselperioden herausgesucht, in denen es zu einem weltweiten historischen Wandel kam, und jede von ihnen mit einigen der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte der Naturwissenschaften verknüpft. Dadurch, dass dieses Buch die Geschichte der Naturwissenschaften ins Zentrum der Weltgeschichte stellt, enthüllt es auch eine neue Perspektive hinsichtlich der Entstehung der modernen Welt – wenn wir die moderne Geschichte, von der Geschichte der Großreiche bis zur Geschichte des Kapitalismus, verstehen wollen, müssen wir uns der globalen Geschichte der Naturwissenschaften zuwenden.

Und schließlich möchte ich betonen, dass ich das Betreiben von Wissenschaft als ureigene menschliche Tätigkeit ansehe. Die modernen Naturwissenschaften wurden zweifellos von umfassenderen weltweiten Entwicklungen geformt, doch sie basierten nichtsdestoweniger auf den Leistungen wirklicher Menschen. Diese Menschen lebten zwar zu ganz anderen Zeiten an ganz anderen Orten, doch sie unterschieden sich nicht grundsätzlich von Ihnen oder mir. Sie hatten Familien und Beziehungen. Sie kämpften mit ihren Gefühlen und hatten Gesundheitsprobleme. Und jeder von ihnen wünschte sich mehr als alles andere, das Universum, in dem wir leben, besser zu verstehen. In diesem Buch habe ich versucht, diese menschlichere Seite der Wissenschaft herauszuarbeiten: ein osmanischer Astronom, der von Piraten im Mittelmeer gefangen genommen wurde, ein versklavter Afrikaner, der auf einer südamerikanischen Plantage Heilpflanzen sammelte, ein chinesischer Physiker, der vor dem Angriff der Japaner aus Peking floh, und ein mexikanischer Genetiker, der Blutproben von Olympioniken sammelte – sie alle haben wichtige Beiträge zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften geleistet. Dies ist ihre Geschichte – die der Wissenschaftler, die von der Historie vergessen wurden.


[i]               Diese Geschichte wird mehr oder weniger ausführlich in fast allen Übersichtswerken über die Geschichte der Naturwissenschaften wiederholt, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Beispiele dafür sind Herbert Butterfield, The Origins of Modern Science (London: G. Bell and Sons, 1949), Alfred Rupert Hall, The Scientific Revolution (London: Longmans, 1954), Richard Westfall, The Construction of Modern Science: Mechanisms and Mechanics (Cambridge: Cambridge University Press, 1977), Steven Shapin, The Scientific Revolution (Chicago: University of Chicago Press, 1996), John Gribbin, Science: A History, 1543 – 2001 (London: Allen Lane, 2002), Peter Bowler und Iwan Rhys Morus, Making Modern Science: A Historical Survey (Chicago: University of Chicago Press, 2005), und David Wootton, The Invention of Science: A New History of the Scientific Revolution (London: Allen Lane, 2015).

[ii]              Kapil Raj,Relocating Modern Science: Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650 – 1900 (Basingstoke: Palgrave, 2007) kommt meinem eigenen Werk argumentativ am nächsten, beschränkt sich aber auf eine bestimmte Region (Südasien) und einen bestimmten Zeitabschnitt (vor 1900). Arun Bala, The Dialogue of Civilizations in the Birth of Modern Science (Basingstoke: Palgrave, 2006) argumentiert ebenfalls ähnlich, beschränkt sich aber wiederum auf eine frühere Periode. Andere Werke, die einen breiteren Bereich an Regionen abdecken, unterstreichen in der Regel einfach die europäische Ausnahmestellung, zum Beispiel H. Floris Cohen, The Rise of Modern Science Explained: A Comparative History (Cambridge: Cambridge University Press, 2015), Toby Huff, Intellectual Curiosity and the Scientific Revolution: A Global Perspective (Cambridge: Cambridge University Press, 2010), und James E. McClellan III und Harold Dorn, Science and Technology in World History: An Introduction, 3. Aufl. (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2006).

[iii]              Was die Notwendigkeit einer globalen Geschichte der Naturwissenschaften angeht, siehe Sujit Sivasundaram, ›Sciences and the Global: On Methods, Questions, and Theory‹, Isis 101 (2010).

[iv]              Jeffrey Mervis, „NSF Rolls Out Huge Makeover of Science Statistics“, Science, abgerufen am 22. November 2020, www.science.org/content/article/nsf-rolls-out-huge-makeover-science-statistics, Jeff Tollefson, „China Declared World’s Largest Producer of Scientific Articles“, Nature 553 (2018), Elizabeth Gibney, „Arab World’s First Mars Probe Takes to the Skies“, Nature 583 (2020), und Karen Hao, „The Future of AI is in Africa“, MIT Technology Review, abgerufen am 22. November 2020, www.technologyreview.com/2019/06/21/134820/ai-africa-machine-learning-ibm-google/.

[v]              David Cyranoski und Heidi Ledford, „Genome-Edited Baby Claim Provokes International Outcry“, Nature 563 (2018), David Cyranoski, „Russian Biologist Plans More CRISPR-Edited Babies“, Nature 570 (2019), Michael Le Page, „Russian Biologist Still Aims to Make CRISPR Babies Despite the Risks“, New Scientist, abgerufen am 13. Februar 2021, www.newscientist.com/article/2253688-russian-biologist-still-aims-to-make-crispr-babies-despite-the-risks/, David Cyranoski, „What CRISPR-Baby Prison Sentences Mean for Research“, Nature 577 (2020), Connie Nshemereirwe, „Tear Down Visa Barriers That Block Scholarship“, Nature 563 (2018), A Picture of the UK Workforce: Diversity Data Analysis for the Royal Society (London: The Royal Society, 2014), und „Challenge anti-Semitism“, Nature 556 (2018).

[vi]              Joseph Needhams vielbändiges Werk Science and Civilisation in China (Cambridge: Cambridge University Press, 1954 bis heute; deutsch: Wissenschaft und Zivilisation in China, Suhrkamp 2001) ist das berühmteste Werk, das die Naturwissenschaften im alten China feiert, weitgehend auf Kosten des neuen China. Seyyed Hossein Nasr, Science and Civilization in Islam (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1968) liefert ein (einbändiges) Äquivalent für die islamische Welt. Siehe auch Jim Al-Khalili, Pathfinders: The Golden Age of Arabic Science (London: Allen Lane, 2010), das eine populäre Einführung in die islamischen Naturwissenschaften des Mittelalters bietet. Was Geschichte und Politik des „Goldenen Zeitalters“ angeht, siehe Marwa Elshakry, „When Science Became Western: Historiographical Reflections“, Isis 101 (2010).

[vii]             „President Erdoğan Addresses 2nd Turkish-Arab Congress on Higher Education“, Presidency of the Republic of Turkey, abgerufen 14. Dezember 2019, tccb.gov.tr/en/news/542/43797/president-erdogan-addresses-2ndturkish-arab-congress-on-higher-education.

[viii]            Butterfield, Origins of Modern Science, 191, James Poskett, „Science in History“, The Historical Journal 62 (2020), Roger Hart, „Beyond Science and Civilization: A Post-Needham Critique“, East Asian Science, Technology, and Medicine 16 (1999): 93, und George Basalla, „The Spread of Western Science“, Science 156 (1967): 611. Wissenschaftshistoriker des 20. Jahrhunderts stützten sich auf eine frühere orientalistische Tradition, die ins späte 18. Jahrhundert zurückdatiert, „Europa“ mit „Modernität“ gleichzusetzen, eine Tradition, die sich während des Kalten Krieges und vor allem nach der Entkolonialisierung signifikant durchgesetzt hat, siehe Elshakry, „When Science Became Western“.

[ix]              Elshakry, „When Science Became Western“, Poskett, „Science in History“, und Nathan Rosenberg und L. E. Birdzell Jr., „Science, Technology and the Western Miracle“, Scientific American 263 (1990): 42.

[x]              David Joravsky, „Soviet Views on the History of Science“, Isis 46 (1955): 7.

[xi]              Elshakry, „When Science Became Western“, Benjamin Elman, „›Universal Science‹ versus ›Chinese Science‹: The Changing Identity of Natural Studies in China, 1850 – 1930“, Historiography East and West 1 (2003), und Dhruv Raina, Images and Contexts: The Historiography of Science and Modernity in India (New Delhi: Oxford University Press, 2003), insbesondere 19 – 48 und 105 – 38.

James Poskett

Über James Poskett

Biografie

James Poskett ist außerordentlicher Professor für Wissenschafts- und Technologiegeschichte an der University of Warwick, Vereinigtes Königreich. Er schloss seine Promotion an der University of Cambridge ab, wo er auch das Adrian Research Fellowship am Darwin College innehatte. Poskett hat unter...

Aufbau des Buches

Teil I Die naturwissenschaftliche Revolution, ca. 1450–1700

Teil II Imperien und Aufklärung, ca. 1650–1800

Teil III Kapitalismus und Konfikt, ca. 1790–1914

Teil IV Ideologie und ihre Nachwirkungen, ca. 1914–2000

Pressestimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Dieses Zusammenspiel von großer Geste und den örtlich bedingten Schicksalen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen viele in den eurozentrischen Geschichten der wissenschaftlichen Revolution keinen Platz gefunden haben, macht das Buch zu einer spannenden Lektüre.“

P.M.

„Eine wichtige Korrektur der Wissenschaftsgeschichte.“

Deutschlandfunk Kultur „Buchkritik“

„Es hat auf jeden Fall meine Perspektive auf die Wissenschaft verändert.“

Kleine Zeitung

„Es ist ein großer Gewinn, dieses Buch.“

kulturbote.de

„Spannende und informative Lektüre.“

Buchkultur

„Posketts Buch ist eine packende Zusammenfassung einer lebhaften Diskussion in der Fachwelt.“

Mint Zirkel

„Erhellend!“

Inhaltsangabe

Einleitung: Die Ursprünge der modernen Naturwissenschaften

Teil I

Die naturwissenschaftliche Revolution,  ca. 1450 –1700

1 Neue Welten

Naturkunde in der Neuen Welt

Aztekische Medizin

Die Entdeckung der Menschheit

Die Kartierung Amerikas

Schlussfolgerungen

2 Himmel und Erde

Die Alten übersetzen

Islamische Wissenschaft im Europa der Renaissance

Die osmanische Renaissance

Afrikanische Astronomen

Astronomie in Peking

Indische Observatorien

Schlussfolgerungen

Teil II

Imperien und Aufklärung,  ca. 1650 –1800

3 Newtons Sklaven

Gravitation in Gorée

Inka-Astronomen

Pazifische Navigatoren

Newton in Russland

Schlussfolgerungen

4 Die Ökonomisierung der Natur

Sklaverei und Botanik

Naturgeschichte in Ostindien

Das China-Getränk

Das Studium der Natur während des Tokugawa-Shogunats in Japan

Schlussfolgerungen

Teil II

Kapitalismus und Konflikt,  ca. 1790 –1914

5 Kampf ums Dasein

Fossilienjäger in Argentinien

Evolution im zaristischen Russland

Darwinismus im Japan der Meiji-Zeit

Natürliche Selektion im China der Qing-Zeit

Schlussfolgerungen

6 Industrielle Experimente

Krieg und das Wetter im zaristischen Russland

Osmanische Technik

Wellen schlagen im kolonialen Indien

Erdbeben und Atome im Japan der Meiji-Epoche

Schlussfolgerungen

Teil IV

Ideologie und  ihre Nachwirkungen,  ca. 1914 – 2000

7 Mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt

Physik im revolutionären Russland

Einstein in China

Quantenmechanik in Japan

Die Physik und der Kampf gegen das Empire

Schlussfolgerungen

8 Genetik und Politik

Mutationen in Mexiko

Indische Genetik nach der Unabhängigkeit

Der Vorsitzende Mao und die Genetik der Kommunisten

Genetik und der Staat Israel

Schlussfolgerungen

Epilog: Die Zukunft der Wissenschaft

Danksagung

Abbildungsnachweis

Register

Anmerkungen

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