Kurz vor dem Vergessen
Roman
„Alice Zeniter – selbst Absolventin einer Elite-Hochschule – ist eine herrliche Satire auf den Wissenschaftsbetrieb gelungen. Es geht um Standesdünkel, der sich bis hinein in Liebesdinge auswirkt, um soziale Schranken und um die Umwertung tradierter Geschlechterrollen.“ - WDR 3 „Buchkritik“
Kurz vor dem Vergessen — Inhalt
Der Club des toten Dichters
Franck liebt Emilie – aber liebt Emilie ihre Arbeit mehr als ihn? Das fragt er sich, als er sie nach endloser Trennung auf der verlassenen Hebriden-Insel Mirhalay besucht. Dort war die Doktorandin für ein mehrmonatiges Aufenthaltsstipendium. Und nun, wo er endlich da ist, hat sie kaum Zeit für ihn, denn als krönenden Abschluss muss sie eine Tagung organisieren und leiten. Es geht dabei um Galwin Donnell, der seine weltberühmten Kriminalromane hier auf Mirhalay schrieb - bis er eines Tages spurlos verschwand. Bald wimmelt die sonst so einsame Insel vor Professoren und Lektorinnen, Studentinnen und verkannten Dichtern. Franck allerdings ist Krankenpfleger und unter all den Geistesgrößen fühlt er sich nicht besonders wohl. Also sucht er, sehr zu Emilies Missfallen, die Gesellschaft von Jock, dem schweigsamen, ein wenig skurrilen Wächter der Insel... Ein wunderbares literarisches Vexierspiel.
Leseprobe zu „Kurz vor dem Vergessen“
DAS NAMENSPROBLEM
„Trotz seiner Schlafstörungen hatte Adrian Dickson Carr sich stets geweigert, vor dem Einschlafen Schäfchen zu zählen. Es war eine Grundsatzentscheidung. Ferien auf dem Land kotzten ihn an.“
Galwin Donnell, Süchtig(e)
Franck hatte Pech mit seinem Vornamen. Das wusste er. Manche Vornamen killen dich, sobald du sie bekommst. Noch in Momenten größter Seligkeit war Franck überzeugt, dass er unter einer anderen Identität ein besseres Leben führen könnte. Die Leute sahen ihn anders, als wenn er Guillaume oder Théo geheißen hätte. Sie sahen ihn [...]
DAS NAMENSPROBLEM
„Trotz seiner Schlafstörungen hatte Adrian Dickson Carr sich stets geweigert, vor dem Einschlafen Schäfchen zu zählen. Es war eine Grundsatzentscheidung. Ferien auf dem Land kotzten ihn an.“
Galwin Donnell, Süchtig(e)
Franck hatte Pech mit seinem Vornamen. Das wusste er. Manche Vornamen killen dich, sobald du sie bekommst. Noch in Momenten größter Seligkeit war Franck überzeugt, dass er unter einer anderen Identität ein besseres Leben führen könnte. Die Leute sahen ihn anders, als wenn er Guillaume oder Théo geheißen hätte. Sie sahen ihn so, wie er selbst die Kevins sah. Er fristete ein klägliches Dasein ganz unten in der Vornamenshierarchie.
Seine Mutter hatte ihm die Gründe ihrer Wahl nie erläutert. Oder er hatte sie nie verstanden. Sie behauptete, sie fände den Namen schön. Sie zählte ihm diverse Persönlichkeiten auf, die der Vorname Franck nicht daran gehindert hatte, erfolgreich und vergnügt zu sein: Sinatra, Zappa – trotz der großen musikalischen Diskrepanz, die das Nebeneinander dieser beiden Namen bedeutete –, Provost – der ein Haarimperium regierte – und eine Horde mit Titeln und Medaillen überhäufter Fußballer und Windsurfer. Seltsamerweise gehörte auch Benjamin Franklin zu ihrer Liste, als wäre sein Name Benjamin-Franck Lin gewesen – was Franck seine gesamte Kindheit über auch glaubte.
Während seiner Jahre auf dem Lycée hatte er versucht, diese schwärende Wunde zu vergessen, indem er sich in Rollenspiele stürzte. Dort nannte man ihn, wenigstens für einige Stunden, Herr der Berge, Krieger des verlorenen Königreichs, Oumane den Großen … Kurz verfiel er dem Schreiben von Space Operas, bei denen er nie über die ersten Seiten hinauskam, aus dem reinen Vergnügen, scharenweise Figuren mit Namen zu versehen, die etwas zu bedeuten hatten, mit strahlenden Identitäten. Eines Tages hatte er diese losen Blätter Émilie gezeigt. Er bewahrte sie immer noch auf, in einem Papphefter mit angestoßenen Ecken, und sie hatte sie interessant gefunden.
Doch diese Fluchten waren nur von kurzer Dauer, wie er jeden Morgen aufs Neue einsehen musste, wenn er im Unterricht aufgerufen und sein bürgerlicher Name heruntergeleiert wurde. „Franck Lemercier?“, fragte eine Stimme, der jeglicher Zauber abging. Er hob regelrecht widerwillig die Hand und hoffte jedes Mal für einen Sekundenbruchteil, dass ein anderer sich melden, die Verantwortung für diesen ihn so belastenden Namen übernehmen würde und dass er wie aus einem zu langen Albtraum erwachen und feststellen würde, dass er eigentlich anders hieß.
„Würde die Blume, die wir als Rose kennen, unter einem anderen Namen genauso gut duften?“, fragte eines Tages ihr zarter Englischlehrer, der sich damit abmühte, ihnen Shakespeare nahezubringen. Die Klasse verschlief derart unnütze Spitzfindigkeiten, Franck jedoch verstand die Frage des Dichters auf Anhieb. Und er hatte sie bereits beantwortet: Nein, natürlich nicht. Würden die Rosen Franck heißen, wäre viel weniger von ihrem Duft die Rede. Und vermutlich würden die Rosen/Franck, da man sie weder beschnupperte noch erwähnte – durch eine Art Darwin’sche Evolution –, allmählich allen Duft verlieren. Nichts und niemand rackerte sich ab, um Schönheit völlig umsonst hervorzubringen.
Man hatte Franck schon mehrmals vorgeschlagen, seinen Namen zu ändern. Er hätte nicht einmal den offiziellen Weg gehen, sondern die anderen einfach nur bitten müssen, ihn nicht länger Franck zu nennen oder seinen zweiten Vornamen zu verwenden, Joseph, den er von einem nur noch auf Fotos existierenden Großvater geerbt hatte. Einige Jahre nährte er bei jeder neuen Begegnung die schwache Hoffnung, dass er sich endlich einmal zum Lügen durchränge (und war es überhaupt eine Lüge, diesen Vornamen zu verschweigen, der nicht zu ihm passte und nichts über ihn aussagte?) und sich mit anderem Namen vorstellen würde. Doch er wusste, dass es zu spät war: Er war bereits zum Franck geformt worden, hatte die Komplexe und Unsicherheiten eines Franck übernommen. Ein neuer Name wäre nunmehr nichts als sinnlose Fassade.
Franck war Krankenpfleger. Wenn er den Leuten das erzählte, bemerkte er häufig, dass sie darin die Folge eines erfolglosen Medizinstudiums vermuteten. Als hätte er sich mangels anderer, angesehenerer Posten, die ihm entgangen waren, mit einer solchen Stelle zufriedengegeben. Er erklärte ihnen also vorsichtig, dass Krankenpfleger für ihn keine Notlösung war, sondern diese Berufswahl sich ihm schon sehr früh aufgedrängt hatte. Als sein Vater gestorben war, hatten die Pfleger einen deutlich besseren Eindruck bei ihm hinterlassen als die Ärzte – die Onkologen, die ebenso schnell auftauchten, wie sie verschwanden, als wären sie allzu rasch von den Patienten gelangweilt und sogleich auf der Suche nach einem neuen Spiel. Den Pflegern hingegen wurde der Kontakt mit der Krankheit niemals lästig (beteuerte Franck seinen Gesprächspartnern). Sie wussten, dass Heilen ein Job war, der langen Atem erforderte, viel eher Fürsorge als Wunderwerk. Es waren die Pflegekräfte, die das Leben in den rundum verkabelten Krankenhausbetten geduldig bewahrten, die die Familien, Vornamen und Gerüche der Kranken kannten. Franck hatte sofort gespürt, dass er ihrem diskreten und widerständigen Heer angehörte.
Es kam auch vor, dass die Leute ihn, nachdem er seinen Beruf genannt hatte, fragten, ob er unter seinem Kittel noch irgendetwas anhabe. Ihnen erklärte er nichts. Sie hatten es nicht verdient.
Neben dem Müllverschlag machte er eine Zigarettenpause (die zweite des Tages) und betrachtete die schwache Sonne, die noch schwankte, ob sie den Sommer beenden oder den Herbst einläuten sollte, und von den vielen verschiedenen Gedanken, denen sein Hirn nachzugehen versuchte, war er ganz durcheinander. Er sah die Zigarette zwischen seinen Fingern schrumpfen und war sich ängstlich bewusst, dass er keinen dieser Gedankengänge bis ganz zum Schluss verfolgen konnte, bevor er seine Kippe ausdrückte, und das rief noch eine weitere Überlegung in ihm hervor: Muss man es während der kurzen Pausen, die man sich im Laufe des Tages gönnt, schaffen, Ordnung in sein Leben zu bringen, oder sollte man sich besser treiben lassen und an gar nichts denken?
Oft hätte Franck das Leben gern wie einen Film verlangsamt und nur für sich selbst die Normalgeschwindigkeit beibehalten, um sich so einen Vorsprung zu verschaffen.
Er drückte die Zigarette auf dem grünen Plastik der Mülltonne aus und ging wieder hinein. In der Notaufnahme des Bichat-Krankenhauses herrschte wie üblich reinstes Chaos.
Im Eingangsbereich hockte eine dicke Dame mit einem ebenso dicken Koffer. Sie wartete darauf, dass man sich um sie kümmerte, und wirkte wild entschlossen, keinesfalls den ersten Schritt zu machen. Das wohl beleidigte Pflegepersonal tat daraufhin so, als wäre sie unsichtbar.
Auch Franck ignorierte sie und kehrte zu dem Patienten zurück, den er früher am Tag aufgenommen hatte: einen glücklosen Dieb, der von einem besser bewaffneten Ladeninhaber verwundet worden war. Die Pfleger hatten sich in eine Debatte darüber gestürzt, ob der Patient es quasi darauf angelegt hatte, spielten Juristen, um zu definieren, was noch unter Notwehr fiel und was nicht. Franck, der solche Diskussionen vor der Kaffeemaschine normalerweise schätzte, hatte sich nicht dazu geäußert. Für ihn war an jenem Tag jeder Mann mit einer Waffe und dem Vorsatz, sie auch zu benutzen, ein Schwachkopf, der zwei mögliche Resultate herausforderte:
1. Sterben
2. Franck den Tag versauen, indem er in der Notaufnahme des Bichat-Krankenhauses landete.
(Letzteres natürlich nur unter der Bedingung, dass sich Mann und Waffe im 17., 18. oder 19. Arrondissement oder in der Gemeinde Saint-Ouen befanden.)
Er hätte sich viel lieber nicht um von Kugeln zerfleischte Patienten gekümmert, denn am folgenden Tag würde er eine komplizierte, aber erfreuliche Reise antreten, und gern hätte er sich in Gedanken ausschließlich damit beschäftigt. Er hatte stets die Sorge, sich die Dinge im Voraus nicht reiflich genug zu überlegen, und damit einhergehend die Sorge, dass sie plötzlich vor ihm auftauchen und ihn überrumpeln könnten, bloß weil er sich nicht ausreichend vorbereitet hatte, indem er sie, ehe er sie lebte, von Anfang bis Ende durchdachte.
Sein Patient war bereits vor der Einlieferung ins Koma gefallen. Nach Meinung der Ärzte würde er wahrscheinlich nicht wieder daraus erwachen. Franck las in der Krankenakte, dass er neunzehn Jahre alt war. Man brachte keine Neunzehnjährigen um, verdammt. Das sollte ein allgemeiner Grundsatz sein.
„Ich denke mir oft, dass du zu lieb oder zu blöde bist, um diesen Job zu machen“, sagte Leïla, eine Pflegehelferin, beiläufig zu ihm, während sie ihm die Akte aus der Hand nahm.
Manchmal zeigte sie Anwandlungen bärbeißiger Sympathie, wenn sie Francks Verzweiflung bemerkte. Manchmal bot sie ihm auch Schokoladenkekse an. „Man könnte meinen, du fängst bei jeder schlechten Nachricht an zu heulen.“
Da hatte sie gar nicht so unrecht. Franck war oft nach Heulen zumute. Und nach Kotzen.
Frühmorgens, wenn er vom Nachtdienst kam, sah er sich Liebeskomödien oder Trickfilme an (am liebsten die vier Teile von Ice Age), bis die Bilder aus dem Krankenhaus durch jene blonder Schönheiten, blendend lächelnder Münder und durch und durch gutwilliger Tiere ersetzt worden waren. Er glitt dann langsam in eine Welt hinüber, in der es noch Mammuts und Dodos gab – eine Welt, in der aussterbende Tierarten überhaupt nicht denkbar waren –, in der man mit solch übertriebener Ungeschicklichkeit einer Eichel nachjagte, dass es zum Kunststück wurde, in der die Scharten des ewigen Eises bloß dazu gemacht schienen, als Rutschbahn zu dienen, eine Welt, die den solidarischen Beistand zwischen Arten verherrlichte, die sich eigentlich hätten auffressen müssen, und die dem Zuschauer versicherte, dass die Bösewichte bestraft werden, dass in jedem Dummkopf ein Genie schlummert und jedes Missgeschick mit einem Song endet.
Wenn Émilie ihn beim Aufstehen vor dem Fernseher fand, strich sie ihm mitfühlend lächelnd durchs Haar. Sie setzte sich nur selten zu ihm aufs Sofa; das Reich der sprechenden Tiere interessierte sie nicht besonders. Sie schrieb eine Doktorarbeit über Galwin Donnell – „den Papst der Grausamkeit“, wie sie ihn manchmal nur halb im Scherz nannte.
Sie hatte im vorigen Jahr die Erlaubnis des Herzogs oder Fürsten erhalten – Franck wusste nicht mehr, welchem zur Hälfte erloschenen Zweig des schottischen Adels das Fleckchen Erde noch heute gehörte –, auf die Insel Mirhalay zu reisen, wo der Autor seine letzten Lebensjahre zugebracht hatte, um ihre Recherchen abschließen zu können. Sie war seit drei Monaten fort, und nun war es an Franck, eine komplizierte Abfolge von Flugzeugen und Schiffen zu besteigen, um sie dort zu treffen. Auch wenn ihre Beziehung in letzter Zeit schwierig gewesen war, hatte die Entfernung Franck gezeigt, dass er ohne Émilie nicht leben konnte. Er hatte beschlossen, ihr das in aller Demut zu sagen und, so sie es denn wollte, mit ihr glücklich zu sein, bis dass der Tod sie schied.
Er hatte nur noch vier Stunden Dienst vor sich (darunter vermutlich eine letzte Zigarettenpause), dann könnte er sich einzig und allein dieser Aussicht widmen.
DIE NÄCHTE DES REISENDEN
„Dieses Gesicht über ihm, als er wieder zu Bewusstsein kam, und das ihm eine widerliche Nähe aufdrängte, dieses Gesicht einer Krankenwärterin oder Prostituierten, in dem sich die klaren Linien des Make-ups mit unscharfen, aufgedunsenen Zügen mischten, lächelte ruhig, als wollte es sagen: Alles ist gut. Dabei war gar nichts gut.“
Galwin Donnell, Bleiche Lippen
Francks Reise bestand aus einem ersten Flug von Beauvais nach Glasgow, dann einem zweiten von Glasgow nach Barra, von wo aus er schließlich das Schiff bis nach Mirhalay nehmen würde.
Die Vorbereitung dieser Expedition war beängstigend gewesen. Franck bewegte sich fast ausschließlich per Auto fort. Er steuerte sein Fahrzeug gern selbst. Er folgte gern den Verkehrsschildern, in dem Gefühl, dass er das System des Straßennetzes, den Blutkreislauf eines Landes, verstand und den Wagen anhalten konnte, wann immer er sich dazu entschloss – manchmal aus einer rein geometrischen Laune heraus (Mitte eines Streckenabschnitts, rechter Winkel aus zwei Bundesstraßen), manchmal, um technischen Erfordernissen früh genug Rechnung zu tragen (volltanken, den Motor nicht zu heiß laufen lassen), manchmal ganz einfach, weil die Schönheit einer Landschaft es gebot.
In einem Sommer waren Émilie und er auf diese Weise bis nach Rom gekommen, und als sie die italienische Hauptstadt erreicht hatten, ertrugen sie es nicht, die Pracht der Ruinen und Kirchen mit anderen zu teilen, und waren wieder umgekehrt. Später hatten sie so getan, als hätten sie die klebrige römische Augusthitze nicht ausgehalten, aber was sie in Wahrheit zur Abreise getrieben hatte, war das Wissen, dass die Ewige Stadt von Rhythmen bestimmt wurde, die sich um ihr langes Ausschlafen, ihre wiederholten Mittagsschläfchen und ihre nächtlichen Energiespitzen nicht scherten, ganz anders als der Kokon ihres Fahrzeugs, in dem sie die Zeit nach Belieben krümmen konnten. Sie hatten beschlossen, jegliche gesellschaftliche Konvention über Bord zu werfen (die Pflicht, Rom zu bewundern und dem universellen und überschwänglichen Diskurs über die Statuen Berninis, die Bilder Caravaggios und die Pietà Michelangelos ein paar Sätze hinzuzufügen). Stattdessen folgten sie einzig und allein ihren unmittelbarsten Gelüsten (das Meer sehen, Weißwein trinken, Oliven essen). Als sie zurück ins Auto stieg, lachte Émilie wie ein Kind.
„Franck“, wiederholte sie immer wieder und konnte gar nicht glauben, dass sie Jahrhunderten der Kultur den Rücken kehrte, „Franck, Franck, wir pfeifen auf Rom. Rom ist gar nicht so wichtig.“
„Natürlich pfeifen wir drauf“, meinte Franck und grüßte spöttisch zum Circus Maximus hinüber.
Sie waren der Hauptstadt entflohen. Von da an war ihr Urlaub wundervoll gewesen. Sie hatten erkannt, dass ihre Reise kein Ziel hatte: Sie selbst waren ihr Ziel. Die Liebe machte sie egoistisch, oder narzisstisch, genug, sich als Andenken an diesen Sommer nur Postkarten mit sich selbst als Motiv zu wünschen.
Nun zu Émilie zu fahren, hatte weder die gleiche Leichtigkeit noch den gleichen Reiz wie das gemeinsame Reisen mit ihr. Die zurückzulegende Strecke war kein schöner Moment mehr, den sie teilen konnten, sondern ein Hindernislauf. Franck dachte an Odysseus und an seine lange Irrfahrt nach Haus.
Er hatte geplant, die Flugzeugetappe der Reise am ersten Tag abzuhaken und die Nacht auf Barra zu verbringen. In See stechen würde er am Folgetag. Die Bootsfahrt war nicht leicht zu organisieren gewesen, weil nach Mirhalay keine regelmäßige Fähre verkehrte; die Insel war Privateigentum des Duke of Alberg. Zudem ging die milde Jahreszeit vorüber, und es wurde schwer, einen Schiffer davon zu überzeugen, im September hinauszufahren, wenn der Wind bereits kräftig blies. So sorgfältig Franck seine Reise auch geplant hatte, der erste Flug hatte zwei Stunden Verspätung, und nachdem er in Glasgow gelandet war, ging keine Maschine mehr nach Barra.
Nach einem kurzen Moment der Panik – die Odyssee beginnt – begann sein Gehirn instinktiv, auf effiziente Weise zu arbeiten, Möglichkeiten durchzugehen, Lösungsvorschläge vorzulegen. Zehn Jahre im Krankenhaus hatten Francks Gedanken fast gegen seinen Willen in geordnete Bahnen gelenkt. Er begab sich in ein Bed and Breakfast, das auf Aushängen am Flughafen beworben wurde und in einer langweiligen Wohngegend lag (dabei versicherte ihm sein Schottlandführer, dass Glasgow seinen Besuchern unzählige architektonische Überraschungen bereithielte). Das Zimmer war in Weiß und Blasslila gehalten, und es roch nach nasser Wäsche. Auf dem Bett zeigte ihm ein Reigen Plüschmäuse die langen Filzzähne. Der Grat zwischen niedlich und schaurig war hier relativ schmal.
Er schickte Émilie eine E-Mail und hoffte, dass sie sie rechtzeitig lesen würde, rief dann den Schiffer an, der ihn auf die Insel bringen sollte, um ihre Verabredung zu verschieben. Der Mann schien verärgert über diese Planänderung. Franck war sich nicht ganz sicher. Zu gleichen Teilen beeinträchtigten der schottische Akzent und die Telefonverbindung sein Vermögen, Stimmungen zu lesen.
Nachdem er sich dieser Reisepanne einmal angenommen hatte, kehrte seine Gelassenheit merklich zurück. Das war kein böses Omen, nicht einmal eine sanfte Bodenwelle. Er ging in einen nahen Coop, um sich etwas zum Abendessen zu kaufen, irrte durch die gekühlten Gänge und konnte keinerlei Appetit für die perfekt runden oder perfekt rechteckigen Lebensmittel unter Plastik entwickeln, die dort aufgereiht lagen. Wie gelähmt stand er lange vor den perfekt dreieckigen Club-Sandwiches, die klebrige Zünglein aus Ei und Gurke gegen ihre durchsichtigen Verpackungen pressten.
Er entschied sich für einen Pork Pie, den er kalt auf seinem Bett verspeiste, nachdem er die grinsenden Plüschtiere entfernt hatte. Die Krümel rieselten lautlos auf sein T-Shirt, und seine Finger gruben sich in die unter dicker Teigkruste und Fleisch verborgene Gelatine. Die Fernsehsender boten ihm Kochshows, in denen die Kandidaten unwahrscheinliche Meisterwerke erschufen, mit unangenehmen „Biiiiips“ durchsetzte Streitereien des Reality-TV und Talentshows, die einen glauben ließen, das ganze Land wolle auf einer Bühne in Vegas enden.
Seit Émilies Abreise hatte seine Sucht nach idiotischen Fernsehsendungen unsägliche Abgründe erreicht. Trickfilme genügten ihm nicht mehr. Er durchforstete das Internet nach dem Schlimmsten vom Schlimmen. Manche sehen sich in Abwesenheit ihrer Freundin Pornos an; Franck zog sich, mit dem gleichen Schamgefühl, Staffel für Staffel von America’s Next Top Model rein. Er versuchte sich einzureden, dass er damit bloß sein Englisch verbessern wollte, doch in Wirklichkeit weidete er sich an vorgefertigten Allerweltsfloskeln, die die Kraft des Lebens und den Sieg der Mutigen priesen. „Ich habe mich aus einer toxischen Beziehung befreit, und jetzt bin ich im Finale. Es gibt wirklich Licht am Ende des Tunnels.“ In dieser Sendung waren die Menschen keine Menschen, sondern wandelnde Beweise dafür, dass der amerikanische Traum noch immer funktionierte, und Franck konnte nicht umhin, in diesem vollkommen unironischen Eigensinn eine gewisse Würde zu erkennen.
Das britische Fernsehen bot an jenem Abend nichts mit vergleichbarem Tiefgang. Er schaute zu, ohne wirklich etwas zu sehen, dabei vor sich hin kauend. Er dachte an den Streit zurück, den er und Émilie am Vorabend ihrer Abreise gehabt hatten. Er machte sich Vorwürfe. Es war bescheuert, sich vor einer dreimonatigen Trennung zu streiten. Sie hätten sich mit vor Liebe feuchten Augen verabschieden sollen, auf einem Bahnsteig, mit weißem Taschentuch in der Hand. Sie hätten sich zu unendlich trauriger Geigenmusik voneinander entfernen sollen, inmitten verschwommener Gesichter von Passanten, die für sie nicht mehr existierten. Doch Franck hatte, panisch angesichts von Émilies Entschwinden, die schlechte Idee gehabt, erneut die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen, sich jetzt in eine Doktorarbeit zu stürzen und ihrer Paarbeziehung dieses Leben in zwei Geschwindigkeiten aufzuerlegen. Es war ihm gelungen – obgleich diese Großtat vollkommen unnütz war –, das Ende dieses Gedankens nicht auszusprechen, der da lautete: statt hierzubleiben und es, zum Beispiel, mit der Familiengründung zu versuchen.
Franck wünschte sich ein Kind mit Émilie. Er wollte unbedingt ein Kind. Manchmal war er kurz davor, einen Kinderwagen zu stehlen. Er wusste, dass er damit unter seinen gleichaltrigen Freunden und Kollegen ziemlich allein dastand. Die anderen durchlebten eher Krisen ihrer Unabhängigkeit, fingen an, wie wild ihre Verlobten zu betrügen, sie nach zehn Jahren Beziehung plötzlich zu verlassen, oder sie flohen wenige Wochen vor dem Entbindungstermin.
Doch Franck fand, dass diese Umtriebe – von denen die Frauen später, in eisiger Verallgemeinerung, sagten, sie bewiesen, dass die Männer doch alle gleich seien – der Tatsache entsprangen, dass seine Kollegen die eigene Virilität grob überschätzten. Sie sahen sich als Löwen im Käfig, noch die sanftesten und fadesten unter ihnen, von denen man kaum je ein Brüllen vernahm. Sie wähnten einen riesigen sexuellen Appetit in sich, den eine einzige Frau niemals befriedigen konnte, sogar die, die nur schwer einen Ständer kriegten, selten Frauen aufrissen oder eigentlich lieber Fußball guckten, als zu vögeln. Sie hielten sich für zu unabhängig für die Kompromisse einer Paarbeziehung, diese Männer, die sich ihre Lebensentscheidungen ansonsten von der Gesellschaft diktieren ließen und perfekt spurten.
„Jungs“, hätte Franck ihnen gern gesagt, „ich weiß ja nicht, wo ihr diese Idee herhabt, ihr wärt unbezähmbare Steppenwölfe, aber wenn ihr euch mal ein bisschen beruhigen würdet, würdet ihr schnell einsehen, dass nichts an euch einer Partnerschaft widerspricht.“ Er sagte es nicht, weil er wusste, dass seine Kollegen gekränkt gewesen wären. Sie wollten unbezähmbare Steppenwölfe sein, das war im Leben ihre große Schwäche.
Als Franck Émilie gegenüber seinen Kinderwunsch angesprochen hatte – nach einem klitzekleinen, schwachen Kind, einem unendlichen Werden, einem Kind, dessen Namen er mit ungeheurer Sorgfalt aussuchen würde, damit es niemals darunter leiden musste –, hatte sie gesagt: „Ich denk drüber nach.“ Zwei Monate später hatte sie verkündet: „Ich möchte aufhören, als Lehrerin zu arbeiten, und eine Doktorarbeit schreiben.“
Eine Doktorarbeit, das war kein Kind, das war das genaue Gegenteil davon. Das hatte Franck sehr genau verstanden. Ihre gemeinsame Zukunft war auf diese brutale Weise zu einer Art Gabelung geworden. Und manchmal ertappte er sich dabei, wie er bereute, von der Möglichkeit dieses Babys gesprochen und damit die Doktorarbeit provoziert zu haben.
Am Vorabend der Abreise, drei Monate zuvor, hatte er das Thema noch einmal zur Sprache gebracht, obwohl er haargenau wusste, dass es zum Streit führen würde.
„Ich frage mich ja bloß“, hatte Franck gesagt, „ob für diese Doktorarbeit wirklich akuter Handlungsbedarf besteht. Ob das gerade jetzt sein muss. Ich kann nicht verstehen, warum das gerade jetzt sein muss.“
Es war eine Berufskrankheit, dass Franck häufig das Vokabular der Notaufnahme verwendete.
„Du bist ein Mann“, hatte Émilie in genervtem Tonfall erwidert, „und deine Arbeit besteht mehr oder weniger darin, Menschen das Leben zu retten. Also nein, ich schätze, du kannst mich tatsächlich nicht verstehen. Du weißt nicht, was das heißt: seine Daseinsberechtigung beweisen zu müssen, sich nützlich und anerkannt fühlen zu wollen, Zweifel am eigenen Wert und Platz in der Gesellschaft zu haben.“
Das stimmte. Und trotzdem war es unfair. Franck war nicht mit dem Gefühl seiner eigenen Nützlichkeit geboren worden. Er hatte es sich erschaffen, um eine Kindheitsverletzung zu heilen. Das hatte er Émilie nie erzählt. Er hatte Angst, dass sie Mitleid mit ihm haben würde.
„Aber könntest du deine Recherchen nicht auch hier machen? Von zu Hause aus?“
„Und könntest du deine Patienten nicht auch aus der Ferne retten? Indem du deine Hände über ihren Fotos hin- und herbewegst?“
Der Abend war ein langer Streit gewesen, begleitet von Entschuldigungen, wenn einer von ihnen das Gefühl hatte, zu weit gegangen zu sein. Das Kalb mit Oliven, das Émilie gekocht hatte, wurde kalt und trug Fettaugen auf seiner Sauce zur Schau, die ihre Gabeln kaum aufstörten. Franck hatte schließlich verkündet, dass er zu Bett gehe, dass er früh rausmüsse und dass er im Unrecht gewesen sei (den letzten Teil des Satzes meinte er nicht wirklich so). Er war unter die Decke gekrochen, wütend und verbittert, und hatte Émilie im Wohnzimmer ihren Koffer packen lassen. Er konnte nicht wissen, dass sie trotz der gewonnenen Schlacht insgeheim eine Verwundung davontrug. Ähnlich wie ein angeschossenes Wildschwein.
Er konnte nicht wissen, dass sie, während er einschlief und dabei Doktorarbeiten im Allgemeinen und solche über Donnell im Besonderen verfluchte, lange duschte und weinte.
Sie zählte die Dehnungsstreifen und Falten, die ihren Körper zu überziehen begannen, ihn nachzeichneten, ihn in fremde Territorien zerteilten. Und sie dachte, dass sie allmählich in ein Alter kam, in dem ihr Äußeres sie nach und nach im Stich ließ, und dass die Gesellschaft ihr das nur verzeihen würde, wenn sie als Begründung eine gewisse Zahl an Schwangerschaften und Stillzeiten anzuführen hätte. Denn die Mutter war heilig, auf die eine oder andere Weise. Aber wer verzieh Doktorandinnen von fünfunddreißig Jahren die noch kaum sichtbaren Fältchen, die das Dekolleté ihres Sommerkleides enthüllte, wenn sie auf der Terrasse Aperitifs tranken? Niemand. Weder die Männer, die es nicht ertrugen, das natürliche Verfallsdatum ihrer Partnerinnen anzuerkennen – zugleich entsetzt über die Erkenntnis, dass ihr Beschützerinstinkt angesichts des Alters vollkommen nutzlos war, und angewidert vom Anblick des geliebten Körpers, der zum Hexenhaus mutierte –, noch die Jugendlichen, die ihre makellose Haut grausam machte und die sich weigerten einzusehen, was sie selbst in zwanzig Jahren sein würden.
In seinem Reiseführer studierte Franck eine Karte der Äußeren Hebriden, die einen Halbkreis vor dem grenzenlosen Atlantik formten und als schmales Schutzschild die Isle of Skye und die schottische Küste beschirmten. Weiter hinten, im Westen, gab es nichts mehr in der großen, blauen Masse als die winzigen Pünktchen von St. Kilda und Soay. Die Hebriden waren ein letzter Erdgürtel, zerbrechlich vor den Wellen. Er versuchte, ihren gälischen Namen laut auszusprechen: Na h-Eileanan Siar. Der Name eines schaurigen Ungeheuers oder eines Barbarenprinzen – er hätte gern so geheißen, dachte er. Émilie erwartete ihn dort, auf dieser grauen Kreisfläche südlich von Barra, nicht einmal groß genug für ihren eigenen Namen. Das „y“ von Mirhalay tauchte in den Papierozean ein.
Im Zimmer des Bed and Breakfast zog er sich langsam aus und warf seine Kleider neben das blasslila Bett, wo sie die Plüschmausfamilie zudeckten, die bei ihrem Sturz unterschiedliche Haltungen eingenommen hatte: Nase am Boden, Pfoten in der Luft, auf der Seite liegend, ein absurdes Schlachtfeld. Spielzeuge in einem Zimmer ohne Kinder hatten immer etwas Trauriges.
Franck knipste das Licht aus und träumte, dass sein Boot unterging.
„Alice Zeniter – selbst Absolventin einer Elite-Hochschule – ist eine herrliche Satire auf den Wissenschaftsbetrieb gelungen. Es geht um Standesdünkel, der sich bis hinein in Liebesdinge auswirkt, um soziale Schranken und um die Umwertung tradierter Geschlechterrollen.“
„Mit ihrem ausgeprägten Sinn für Spannung lädt uns die bereits mehrfach ausgezeichnete 30-jährige Autorin Alice Zeniter in eine isolierte Umgebung ein, in der sich ein wahrer Kriminalroman abspielt.“
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.