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KriegKrieg

Krieg

Jochen Rausch
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Roman

„Autor Jochen Rausch versteht es, dem Leser Einblicke in die Seelenwelt des Protagonisten zu geben und dabei in einer schnörkellosen aber ergreifenden Sprache die Abgründe eines Lebens zu erzählen.“ - Hamburger Morgenpost

Alle Pressestimmen (16)

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Krieg — Inhalt

Kartographie der Angst

Seit Monaten schon lebt Arnold Steins zurückgezogen in den Bergen. Doch so einsam und abgeschieden ist das Leben nicht in dieser verwitterten Almhütte mit all ihren Geheimnissen: In einem kurzen Moment der Abwesenheit zerstört ein Fremder die letzten Dinge, die ihm wichtig sind, und als auch noch „Hund“, sein treuer Gefährte, verletzt wird, weiß Arnold, was ihm bevorsteht – ein Kampf auf Leben und Tod mit unbekanntem Gegner …

Meisterhaft lakonisch und in Bildern voll untergründiger Spannung erzählt Jochen Rausch von einem Mann im Krieg mit der eigenen Vergangenheit.

„Knallhart, ja, aber eben auch bewegend. Die Seele eines Menschen läuft Amok. Einen Psychothriller hat man diesen Roman genannt. Und der Roman ist ein Psychothriller - und was für einer!“ Christine Westermann, WDR 2 „Bücher“

€ 9,99 [D], € 10,30 [A]
Erschienen am 19.01.2015
224 Seiten, Broschur
EAN 978-3-8333-0988-5
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 17.09.2013
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7676-2
Download Cover

Leseprobe zu „Krieg“

Erster Teil

01

In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie. Aber wenn Arnold die Tür aufzieht, nicht weiter als einen Spalt nur, dann sind da nichts als die Dunkelheit und das Rauschen des Waldes, das harmlose Gluckern des Bachs und ein gelegentliches Knacken im Geäst. Hin und wieder schwingt sich ein Vogel auf und schlägt mit den Flügeln. Seit Arnold auf dem Berg ist, verging nicht eine Nacht ohne Schüsse und Schreie.
An der Kasse des M-Marktes ist er der nächste Kunde hin- ter einem Alten, der den Rücken nicht [...]

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Erster Teil

01

In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie. Aber wenn Arnold die Tür aufzieht, nicht weiter als einen Spalt nur, dann sind da nichts als die Dunkelheit und das Rauschen des Waldes, das harmlose Gluckern des Bachs und ein gelegentliches Knacken im Geäst. Hin und wieder schwingt sich ein Vogel auf und schlägt mit den Flügeln. Seit Arnold auf dem Berg ist, verging nicht eine Nacht ohne Schüsse und Schreie.
An der Kasse des M-Marktes ist er der nächste Kunde hin- ter einem Alten, der den Rücken nicht geradebekommt. Der Alte schiebt seine Einkäufe aufs Band. Die Päckchen, Tüten und Konserven sind ihm schwer wie Ziegelsteine.
Mach doch schneller.
Diesmal sind es keine Schüsse oder Schreie, die Arnold sich einbildet. Diesmal ist er überzeugt, es ist etwas mit der Hütte. Seit er am Weinregal nach einem trockenen Weißen gesehen hat, denkt er es: Die Hütte könnte in Flammen stehen. Oder ein Steinschlag ist über sie niedergegangen. Man hört auch von Einbrechern.
Mit wackligen Händen reicht der Alte der Kassiererin die
Geldbörse, dass sie die Scheine herausnimmt. Arnold legt sei-
ne Einkäufe aufs Band: Wein, Nudeln, Obst, Salz, Tee, bittere Schokolade, Zigaretten. Was ihm gerade fehlt dort oben. Nein, er hat keine Kundenkarte. Er will auch keine Bonuspunkte.
„Ich würd eine Kundenkarte nehmen“, sagt die Kassiererin.
„Aber ich brauch keine“, sagt er.
„Du gewinnst eine Reise nach Tunesien.“
Sie sitzt häufig an der Kasse des M-Marktes. Die Kassiere- rin ist jung und hat doch schon ein abgenutztes Lächeln. Eine Martina. Sie trägt das Namensschild am Kittelkragen. An ih- rem Scheitel wächst die Färbung raus. Sie ist gar nicht blond, sondern brünett. Was ihm so auffällt.
„Ich will nicht nach Tunesien“, sagt er.
„Ach was“, sagt die Kassiererin, „Hauptsache, ’s geht in die Sonne.“
Sie lacht. Eine geschickte Kassiererin ist sie. Der Scanner fiept und fiept, während sie redet und lacht. Und trotzdem dauert es für ihn zu lang. Wegen der verrückten Gedanken, die er sich um die Hütte macht. Er schiebt die Waren nach, bis die Martina aufsieht und den Kopf schüttelt.
„Was hast du’s so eilig heut?“
Was soll er antworten? Soll er sagen, er denkt, etwas ist auf der Hütte passiert, während er im Dorf Einkäufe erledigt und am Weinregal nach einem Weißen sieht? Du spinnst doch, wird die Kassiererin sagen, du bist doch kein Hellseher oder der Herrgott. Ja, er spinnt. Ja, ja. Immerzu bildet er sich ir- gendetwas ein. Der Hund muss nur ein paar Minuten länger draußen bleiben als gewöhnlich, und schon glaubt Arnold, der sei über eine Felskante gerutscht und hätte sich das Genick gebrochen. Oder im Bach ersoffen. Es soll auch Wölfe geben dort oben, die einen Hund reißen wie ein dummes Lamm. Aber er hat noch keinen Wolf gesehen, und dem Hund ist ja auch nie
etwas zugestoßen. Wie auch die Schüsse in der Nacht keine
Schüsse sind und die Schreie keine Schreie.
Er legt der Kassiererin zu viele Scheine hin.
„Wenn’s Geld über hast, dann brauchst auch keine Bonus- punkte“, sagt sie und lacht wieder.
Arnold grüßt, schiebt den Einkaufswagen auf den Parkplatz. Der Hund döst auf dem Beifahrersitz und schreckt hoch, als er die Fahrertür des Pick-ups aufzieht. Der Hund trippelt über die Sitze, bellt und wedelt mit dem Schwanz. Arnold verstaut die Einkäufe hinter den Sitzen.
„Platz“, sagt er, „Platz.“
Er tätschelt dem Hund den Hals, aber der springt weiter umher. Ein schlecht erzogenes Tier. Ein Straßenköter. Eine Mischung von irgendwas mit einem Labrador. Vor fünf Jah- ren hat Karen ihn auf einem Rastplatz an der Autobahn auf- gelesen.
Er lässt den Motor an. Ein gutmütiges, gleichmäßiges Brummen. Wenn er sich beeilt, sind es keine zwanzig Minuten vom Dorf bis auf den Berg. Er überholt eine Golfkarre, bei der Apo- theke laufen ihm Urlauber vor den Wagen. Sie schimpfen mit erhobenen Wanderstöcken. Er jagt den Pick-up durch den Tunnel unter der Landesstraße hindurch, zieht an einem Traktor vorbei, der lahm vom Feld holpert. Den Abzweig hinterm Golfplatz nimmt er so eng, dass der Hund vom Sitz rutscht.
Als Karen ihn fand, war der Hund noch ein Welpe und kau- erte halbtot und zitternd vor Angst an einem Altglascontainer, um den Hals ein Stück rostiger Stacheldraht.
Arnold lacht, als der Hund wieder auf den Sitz kriecht. Er glaubt jetzt schon weniger, dass etwas mit der Hütte ist. Auf dem unteren Teil des Weges geht es Kurve um Kurve durch Querrinnen, über Schotter und Geröll. Wenn er diesen Weg
fährt, besabbert der Hund sich das Fell. Er hat auch schon gekotzt im Wagen. Weshalb er jetzt den Kopf nach unten schiebt, dass er bloß nicht die Bäume und Sträucher und Farne sieht, die an dem Pick-up entlangfegen, davon kommt dem Hund ja das Kotzen.
Ab halber Höhe lauern Steinbrocken. Im Dämmerlicht könnten es auch Kadaver sein von Rotfüchsen und Dachsen. Wenn Arnold nicht ausweicht, schlitzen sie mit scharfen Kanten die Ölwanne auf wie eine Konservendose. Aber er weiß ge- nau, wo die Steine liegen. Er hat sie selber im Sommer auf den Weg geschoben. Eine ganze Woche hat er dafür gebraucht. Seither kam kein Wanderer, kein Bergsteiger und kein Jäger mehr mit dem Wagen bis nach ganz oben.
Ganz oben, das ist Arnolds Berg. Der Name des Berges ist auf die Wegweiser geschrieben. Aber er nennt den Berg Berg. So wie er den Hund Hund nennt. Als Karen das Tier fand, gab sie ihm gleich an der Autobahn einen Namen. An den Namen kann Arnold sich nicht erinnern.
Nein, so ist es nicht richtig.
Er könnte sich an den Namen erinnern. Aber er will nicht.


02

„Hast du das gehört?“
„Was?“
„Da hat jemand gerufen“, sagt Sandra.
„Wo?“
„Nebenan.“
„Ich hab nichts gehört, Baby.“
„Doch, da hat jemand gerufen.“
„Wenn du es sagst.“
Sie schweben in Dunkelheit. Nur das Licht der Straßen- laterne schimmert durch die Ritzen des Vorhangs. Sandra raucht. Die Glut ihrer Zigarette leuchtet wie ein Glühwürmchen. Sie lässt das Glühwürmchen die Buchstaben seines Na- mens fliegen. CHRIS. Eigentlich heißt er Christian. Aber so nennen ihn nicht mal seine Eltern.
Chris ist noch gar nicht richtig wach. Er schläft immer ein danach.
„Was hat er denn gerufen?“, fragt er.
„Ruhe oder so was.“
„Aber wir sind doch ruhig.“
„Was weiß ich denn.“
„Vielleicht hast du schlecht geträumt, Baby.“ Baby, Baby, Baby.
Sandra mag nicht, wenn Chris sie so nennt. Er ist doch gar kein Angeber. Sonst nennt er sie ja auch immer Liebling. Das gefällt ihr viel besser als Baby.
Aber es ist sein Tag, und da kann er sie nennen, wie er will. Seinen Tag hätten sie auch zu Hause verbringen können. Sie haben es schön dort. Drei Zimmer, Balkon, Einstellplatz im Innenhof. Sie wohnen in der Nähe des Bahnhofs, aber trotzdem ist es ruhig. Da können sie bleiben, auch wenn mal
ein Kind kommt.
„Wirst du mich vermissen, Baby?“, sagt er und nimmt ihre
Hand.
Gleichzeitig lässt er den Fernseher flimmern. Der Apparat ist auf tonlos gestellt. Sie streicht über sein Tattoo. Vorletztes Jahr hat er sich ihren Namen auf den Arm stechen lassen.
Sandra forever.
Das war sein Verlobungsgeschenk. Fetzen von Schlagermusik kriechen unter der Zimmertür durch. Nebenan ist ein Klingeln. Als läutete jemand ein Glöckchen. Es könnten auch Eiswürfel sein, die in einem Glas klirren.
„Lass mich auch mal, Baby“, sagt er.
„Natürlich werde ich dich vermissen, was denkst du denn“, sagt sie, als Chris an der Zigarette zieht.
Dass er so redet, dass sie rauchen im Bett und Sekt trinken und den Fernseher laufen lassen, dass ihre Kleider überall im Zimmer verstreut sind, ihren BH hat er über die Lampe geworfen, und sie musste lachen, als sie ihn dort baumeln sah, dass sie überhaupt hier sind, in diesem Hotel, das alles gehört zu ihrem Spiel.
Sie zieht an der Zigarette. Vierundzwanzig ist sie und seit vier Jahren mit Chris zusammen. Seit einem Jahr sind sie ver- lobt. Müsste sie sagen, wie sie sich fühlt mit ihm, wäre glück- lich das passende Wort.
Verliebt, verlobt, verheiratet, hat Sandra kürzlich zu Nicole gesagt. Nicole ist ihre beste Freundin.
„Und wann heiratet ihr?“
„Wenn Chris zurück ist.“
Sie sagte es so dahin. Ohne nachzudenken. Sie kann sich nichts anderes vorstellen. Nein, so ist es nicht ganz richtig. Sie kann schon, aber sie will nicht. Allein daran zu denken, macht ihr Angst.
Chris beugt sich zu ihr, saugt sanft an ihrer Brust. Sein Bart kitzelt. Den hat er sich stehen lassen, seit er weiß, dass er geht. Die Haare hat er sich abrasiert. Als wollte er dort ein anderer sein. Ein Chris mit Bart und ohne Haare. Sie streicht ihm über den Kopf. Wie sehr sie ihn liebt. Fein knistern die Härchen unter ihren Fingern.
„Mmh“, sagt er, „das ist geil.“
Von nebenan kommt ein Ploppen. Es könnte der Korken einer Sektflasche sein. Vielleicht machen die es sich dort auch gemütlich, so wie sie beide. Wer weiß.


03

Der Pick-up macht eine überraschende Bewegung, einen Ruck, einen Schlenker zur Böschung hin. Das Lenkrad verreißt. Ein Knall. Arnolds Kopf prallt gegen den Türholm, ein Schlag wie mit der Faust. Ein messriger Schmerz schießt ihm von der Schläfe bis hinter das Auge. Er reißt das Lenkrad herum, hält es fest, bremst ab.
Noch nie ist er gegen einen der verdammten Steine gefah- ren. Noch nie. Er dachte, er käme den Weg auch mit geschlossenen Augen herauf. Er hat die Bergfahrt schon in elf Minuten und dreiundvierzig Sekunden geschafft. Das ist sein Rekord. Der Motor ist aus. Der Hund hebt den Kopf. Arnold reibt sich die Schläfe, lässt den Motor wieder an.
Alle paar Tage fährt er hinunter ins Dorf. Heute hat er in der Buchhandlung eine Zeitschrift für Architektur gekauft, weil ihm die Fotos gefielen. Im Sportgeschäft probierte er Wanderschuhe an, die nicht passten. Er nahm dann einen Pul- lover. Zuvor war er noch auf dem Postamt gewesen.
„Wie immer, der Herr? Zweihundert?“
Der Postmann trägt einen Schnauzer mit Spitzen wie die Flügel von Libellen. Arnold holt die Zweihundert alle vier Wochen. Wenn es so weitergeht, reicht das Geld länger, als er lebt. Selbst wenn das noch dreißig Jahre dauert. In dreißig Jahren ist er achtzig.
Nach den Steinen kommt eine Steigung von fünfunddreißig
Grad. Auf das Verkehrsschild, das sie anzeigt, hat jemand mit einem Gewehr geschossen. Die Einschusslöcher sind angeros- tet. Am Anstieg muss er in den niedrigsten Gang, und jedes Mal, wenn der Pick-up den Hang emporkriecht, kommt es ihm vor, als ritten er und der Hund auf einer Schildkröte.
Auf dem letzten Stück hinter der Brücke über den Bach wird der Weg flacher. Er gibt Gas, lässt den Pick-up durch die Kurven driften, dass der Wagen ächzt und knirscht, dass sich der Hund in den Sitz krallt, dass er jault und den Kopf schüttelt wie der Alte an der Kasse des M-Markts. Worüber er nun lachen muss. Er lacht auch über seine Hirngespinste jetzt. Was soll denn schon sein mit der Hütte?
Der Weg ist aufgeweicht vom Regen. Auf dem flachen Stück unterhalb der Hütte drehen die Reifen durch. Er setzt den Wa- gen vor und zurück, zwei, drei Mal geht das, dann erst steht der Pick-up an seinem Platz zwischen den beiden Rotbuchen.


04

Ach ja, das Spiel. Es war Chris’ Idee. Er spielt ja so gern. Counter Strike, Fußballwetten, Poker, Paintball. Dummes Jungenzeug. Das Spiel, das sie beide spielen, funktioniert so: Sie gehen ins Hotel Central, einzeln natürlich. Es ist nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt. Wenn Sandra wollte, müsste sie nur den Vorhang zurückschieben und könnte den Balkon sehen, den rotweißen Sonnenschirm und die Blumen.
Also, das ist schon mal verrückt, gleich nebenan ein Hotel- zimmer zu nehmen. Das weiß sie auch. Es ist so verrückt, dass sie nicht mal Nicole von dem Spiel erzählt.
Wenn sie das Hotel betritt, hockt er schon an der Bar. Das
Central ist ordentlich. Drei Sterne. Da sind oft Geschäfts- leute. Wenn in der Stadt eine Messe ist, verlangen sie für die Zimmer das Doppelte. Sandra bleibt in der Lobby, blättert in Zeitschriften. Bis sie es kaum noch aushält. Manchmal drehen sich Geschäftsleute nach ihr um, und hin und wieder wird sie auf einen Drink eingeladen.
Wenn die wüssten.
Hat Chris lange genug gewartet, setzt sie sich ans andere Ende der Theke. Die beiden sehen in ihre Drinks und beachten sich nicht. Irgendwann lässt er ihr einen Caipirinha servieren, und ihr gleitet der Rocksaum nach oben.
„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragt er, wenn er sich neben sie setzt.
„Ich heiße Melanie“, sagt sie, manchmal auch, sie heiße
Jennie oder Nicki.
„Schöner Name“, sagt er.
Jetzt sind Schritte nebenan. Dann Stille. Eine Minute viel- leicht. Die Wasserspülung. Dann wieder Schritte, sie bewegen sich zum Fenster. Noch mal Stille, ein paar Sekunden nur. Für einen Blick auf die Straße könnte es reichen.
„Die Wände hier sind aus Papier.“
Sie denkt darüber nach, ob sie zu laut war vorhin, als sie mit
Chris schlief.
„Mmh“, sagt er.
An der Bar fängt er noch vor dem zweiten Caipirinha mit den Geschichten an. Er ist dann gar nicht Chris, sondern ein Joe aus Las Vegas, der Aston Martins verkauft, aber nur noch so lange, bis seine Band den Durchbruch schafft.
„Wir nennen uns The Asses.“
„Hört sich gut an“, sagt sie und rührt möglichst gelangweilt in ihrem Drink.
„Weißt du, was ›The Asses‹ bedeutet?“
„Denke schon.“
„Die meisten glauben, es heißt ›Die Ärsche‹. Wegen asshole, verstehst du?“
„Ist es nicht so?“
„Das ist ja der Witz, dass ›The Asses‹ auf Deutsch ›Die Esel‹
heißt.“
An der Stelle lachen sie beide.
Und dann erzählt dieser Joe aus Las Vegas noch andere selt- same Geschichten. Dass er im Hoover Dam mal einen Hai ge- angelt hat, dass er in der Wüste auf den Rotorblättern eines Hubschraubers einen Kojoten gegrillt, dass er beim Black Jack im Trump Tower eine halbe Million Dollar gewonnen und sie gleich darauf nebenan im MGM beim Roulette wieder ver- loren hat. Und während Joe all das erzählt, legt er die Hand auf ihren Schenkel.
Chris ist so süß.
Heute hat er nur gesagt, er heiße Joe und verkaufe Aston Martins in Vegas. Seine Hand war sofort auf ihrem Bein. Es ist ihr letzter Abend. Und dann waren sie auch schon auf dem Zimmer. Zimmer sieben. Das nehmen sie immer.
„Hey, Baby“, sagt er, streicht ihr über Brust und Bauch, schiebt die Hand zwischen ihre Schenkel und lässt einen per- fekten Kringel aus Rauch zur Zimmerdecke steigen.
„Hab ich dir schon gesagt, dass du das schärfste Girl der
Stadt bist?“
Soll er doch Baby zu ihr sagen, soll er doch so reden wie die Macker in diesen Ami-Filmen. Sandra weiß doch, was mit ihm los ist. Sie weiß, wann er Angst hat. Dann kriegt er die trockene Haut. Die Haut in seinem Gesicht wird so trocken, dass ihm die Schuppen runterrieseln wie Schnee.

05

Vom Parkplatz des Pick-ups bis zur Hütte sind es dreihundert- dreizehn Schritte. Wind raschelt in den Ästen der Bäume. Der Mond schimmert durch die Wipfel. Der Wald ist fins- terer heute als sonst. Arnold keucht vom Aufstieg. Der Hund läuft voraus. Alle zehn, zwanzig Schritte sieht er sich um. Der Rucksack mit den Einkäufen zerrt schwer an seinen Schultern, er beeilt sich, dem Hund auf dem seifigen Grund zu folgen.
Es hat geschneit in der Nacht. Der erste Schnee des Herbstes. Lockerer Pulverschnee nur, der lautlos zu Boden sank. Am Morgen klarte es auf, die Sonne stieg an den Himmel, wärmte den Wind, und die dünne weiße Decke schmolz schnell bis auf wenige Flecken dahin.
Jemand war auf dem Weg. Vor kurzem erst. Fußabdrücke sind da. Er leuchtet die Spur mit der Taschenlampe aus. Das Profil eines Sportschuhs vielleicht. Bergauf. Bei der Fichte, die im Winter umgestürzt ist, schlägt der Hund an. Arnold geht da hin, schiebt den nassen Farn beiseite, bückt sich. Ein Steinmarder in der Falle. Jemand hat dem Tier den Kopf zer- treten. Lange kann er da nicht liegen, das Blut ist hellrot. In den nächsten zwei, drei Fußabdrücken kleben Blut und Hirn des Marders, danach verliert sich die Spur.
Arnold hat jetzt kaum noch Luft. Schweiß rinnt ihm über Stirn und Rücken. Sein Herz hat einen wuchtigen Schlag. Un- wegsames Gelände hier oben, bloß weite Geröllfelder, Grate und Kanten. Seine Hütte hockt so dicht am Fels, als sei sie aus dem Stein gewachsen. Dahinter ragt senkrecht die Felswand empor. Dreißig Meter vielleicht. Nur vierzig Schritte seit- wärts springt ein Bach aus der Wand. Im Winter erstarrt sein
Wasser zu Eis. Im Sommer besprüht er Wiese und Moos am Fuße des Felsens. Hin und wieder stellen sich Urlauberkinder da auf, strecken dem Sprühregen die Arme entgegen und hö- ren gar nicht mehr auf mit dem Lachen.
Der Hund ist weitergelaufen. Schlägt an, muss jetzt an der Hütte sein. Alle paar Meter bleibt Arnold stehen, holt Luft. Vom Schlag gegen den Holm hat er ein Pochen in der Schläfe. Das Gelände um die Hütte ist von einem schulterhohen Holzzaun eingefriedet. Der Hund ist am Gatter, mit der Schnauze am Boden. Das Gatter steht offen, was nichts bedeuten muss. Es steht häufig offen. Seit Wochen schon schiebt er die Reparatur des Schlosses auf.
Der Hund schlüpft durchs Gatter, läuft auf die Veranda der Hütte. Sie ist überdacht, dort sind ein Stuhl und ein schmaler Tisch, wo Arnold häufig sitzt und ins Tal herunterblickt.
Die Hütte ist flach, die Decke nur drei Handbreit über sei- nem Kopf. Es gibt einen Wohnraum und eine Vorratskammer. Ein Schuppen lehnt sich an. Unterhalb der Veranda breitet sich eine steil abfallende Wiese aus. Sie ist hundertfünfzig Schritte tief und hundertsiebzig breit. Hinter dem Zaun ver- läuft ein Wanderpfad, wo aber selten Wanderer langkommen.
Das ist sein Stück Erde. Arnolds heiliges Land. Außer ihm hat keiner etwas verloren hier oben.

06

„Sei mal still“, flüstert Chris, „jetzt hab ich auch was gehört.“ Aber Sandra ist doch still. Sie hört die Schlagermusik. Eine Tür schlägt zu. Schnelle Schritte auf dem Flur. Der Lift rum- pelt laut aus dem Bauch des Hotels, als sei der Schacht zu eng.
Auf der Straße dröhnt ein Motorrad vorbei. Aus dem Saal weht fröhliches Schreien und Klatschen. Als Sandra nach dem Zimmerschlüssel fragte, trugen die Kellner gerade Schweinshaxen auf Kartoffelbrei und Rotkraut aus der Küche. Die Kellner schwitzten, und die Haxen zitterten.
„Hört sich an, als heult da jemand nebenan.“
„Ich höre nur die blöden Schlager.“
„Ist das vielleicht ein Hund?“
„Jetzt hör ich’s auch. Aber ein Hund heult ganz anders.“
„Wie denn?“
„Ein Hund jault doch mehr, als dass er heult. Und er zieht nicht die Nase hoch.“
„Du bist ein ganz schön schlaues Mädchen, Baby.“
Er steht auf, legt das Ohr an die Wand. Eine perfekte Figur hat er. Kein Gramm zu viel. Und groß ist er, viel größer als Sandra. Neben diesem Riesen ist sie wirklich ein Baby.
„Jetzt ist es wieder still da.“
„Komm her, du Spanner“, sagt sie und wirft mit dem Kis- sen nach ihm.
Er fängt es auf, deutet einen Korbwurf an, lässt sich ins Bett fallen, grapscht nach ihr, sie weicht aus, schreit auf, er packt sie, fasst ihr an den Hintern, sie schreit wieder, er stopft ihr mit der Zunge den Mund.
Sie liebt ihn wie sonst nichts auf der Welt.
„Was war das denn?“
Er sieht auf die Wand. Das Bild dort zeigt einen Holzsteg, der in ein blaugrünes Meer hinausführt. Der Steg hört nicht auf, reicht ganz bis zum Horizont.
„Der hat ein Glas an die Wand geworfen, oder?“
„So hat es sich angehört.“
„Der ist doch wohl verrückt geworden.“
„Vielleicht waren wir zu laut.“
„Ich geh da jetzt rüber.“
„Etwa so?“, fragt Sandra und lacht.
Er sieht an sich runter. Er ist ja nackt. Chris kann sich schnell aufregen. Vor allem, wenn er was nicht einsieht.
„Komm lieber her, Joe, und verkauf mir einen Aston Mar- tin.“
Er grinst, vergisst das Nebenan und kriecht zu Sandra aufs Bett. Sie küssen sich, als hätten sie sich noch nie geküsst. Sie machen es leise. Mal abgesehen vom Knarren des Betts. Schön ist das. Er ist hinter ihr, sein Atem flüstert ihr ins Ohr. Das Bett schaukelt wie ein Kahn auf windstillem Meer. Als sie so weit sind, drücken sie ihre Gesichter in die Kissen.
„Er geht baden“, sagt sie, als sie wieder bei Atem ist.
„Wer?“
„Der im Nachbarzimmer.“
„Woher willst du das wissen?“
„Er lässt Wasser in die Wanne.“
„Wir könnten auch in die Wanne gehen, was meinst du?“
„Liebst du mich?“
„Das weißt du doch, Baby.“
„Ich will’s aber hören“
„Ich liebe dich, Baby.“
„Nein, nicht so“, sagt sie. „Sag’s ohne Baby.“
„Ich liebe dich, Sandra.“
Sie muss schlucken, so schön ist das.
„Ich liebe dich auch.“
Fast fängt sie an zu heulen, als sie es sagt. Nebenan knarrt das Bett. Da sind auch Stimmen. Es hört sich nach Fernsehen an.
„Psst“, macht sie jetzt, ganz nah an seinem Kopf, „psst.“
Chris schläft. Sein Gesicht ist so friedlich. Sie streicht über den Flaum auf seinem Kopf. An irgendwas schluckt er. Sie pustet eine Schuppe von seiner Stirn. Er streckt sich. Seine Füße kriechen unter der Decke hervor. Er ist ein Riese, zwei Meter groß.
Ein friedlicher Riese.
Nebenan wird gehustet. Im Fernseher läuft ein Sommerhit. Sie mag das Lied und schläft ein.

07

Auch hier oben auf dem Berg gibt es also keinen Frieden. Arnold stellt den Rucksack ab. Die Tür steht eine Handbreit offen. Auf dem Boden die Türklinke, Holzspäne und Schrau- ben. Vermutlich haben sie es mit dem Brecheisen gemacht. Also doch kein Hirngespinst. Der Hund bellt in den schwarzen Spalt, wagt sich aber nicht weiter hinein.
„Sei still“, sagt er und ist verblüfft, als der Hund das Bellen aufhört.
Er schiebt die Tür auf. Die Lichter funktionieren nicht. Er findet die Taschenlampe, schaltet sie ein. Sein Stuhl liegt auf dem Rücken. Die Schranktüren hängen schief in den Angeln. Das Regal auf einem Berg aus Büchern. Auf den Holzdielen funkeln Scherben aus Porzellan und Glas. Sie haben den Topf mit der Suppe vom Herd gezogen und seine Koffer unter dem Bett hervorgeholt, haben Arnolds Hemden, Hosen und das Badezeug aus den Koffern gezerrt, wo die Kleider auf den nächsten Sommer warteten.
Karen hat einmal gesagt, man solle für Einbrecher immer zwei, drei Geldscheine auf der Kommode bereitlegen.
„Wenn sie kein Geld finden, schlagen sie alles kurz und klein aus lauter Wut.“
Sie haben alles kurz und klein geschlagen.
Karen war immer auf alles gefasst, auf Glatteis, Hitze, Moskitos und Zecken, auf Schnupfen, Zahnschmerzen und Einbrecher. Nur nicht auf das Schlimmste.
Die Wanduhr liegt zersplittert am Boden, der Minutenzei- ger steht ab. Die Aquarelle sind zerschnitten. Das Tischchen, auf dem Arnold Obst und Gemüse schneidet, liegt mit zer- schmetterten Beinen da. Der Schemel ist zertreten, das Glas des Spiegels ausgeschlagen.
„Sie können alles behalten, was in der Hütte ist“, hatte die Tochter des Bildhauers zu Arnold gesagt. Sie war erleichtert gewesen, als er ja sagte, sie wolle an ihren Vater, über den sie sagte, er sei bis zum letzten Atemzug ein galliger, starrköpfiger Mann gewesen, durch bloß kein Erbstück erinnert werden.
Wenn Arnold aus den Gläsern des Bildhauers trinkt, wenn er von dessen Tellern isst, wenn er im Bett des Bildhauers liegt, seine Gemälde und Schnitzereien betrachtet und dazu eine Radiosendung hört, gibt er sich gern der Illusion hin, das Leben eines anderen zu führen. Das Leben eines einsamen Künstlers weit oben in den Bergen, weit weg von allem und unerreichbar, während der Arnold Steins aus Königstein im Taunus, ein Lehrer für Geografie und Sport, nicht mehr existiert.
Der Hund schnüffelt an den Möbeln, jault und winselt. Kalt strömt der Abend durch die offene Tür. Auf der Brüstung der Veranda klopft Arnold eine Zigarette aus der Packung. Das Rauchen hat er angefangen, als er herkam vor zwei Jahren. Er blickt in den Himmel, sieht auf die Berge, den Bach und den Wald. Die Hotels und Gaststätten im Tal leuchten die Touristen zum Abendessen. Die Berge warten in dunstigem Grau auf
die Nacht. Der Hund legt sich zu seinen Füßen, hält den Kopf schräg und hechelt gegen den Mond.
Er zieht an der Zigarette. Im Radio hat er irgendwann mal eine Reportage über Elefanten gehört. Dass Elefanten ihre Feinde auf Hunderte Meter Entfernung wittern, selbst wenn sie sie weder sehen noch hören noch riechen.
Dann bin ich wohl ein Elefant.
In den Wolken brummt ein Flugzeug. Gleichmäßig blinkt das Positionslicht. Im Dorf schlagen die Kirchglocken. Der Hund fiept wie eine Katze jetzt. Der Abendwind bewegt die Fichten und bläst das Laub von Ahorn, Buche und Eiche. Im Licht des Mondes schimmern die Skulpturen des Bildhauers auf der Wiese grün und grau. Das ist das Erstaunliche, dass die Skulpturen immer wieder andere Farben annehmen.
Er wirft die Kippe auf einen Schneeflecken. Der Hund hebt den Kopf, folgt ihm in die Hütte. Er sieht nach dem Radio. Telefunken 1950. Mit sieben Schaltern, die wie zu kurz geratene Klaviertasten aussehen. Die Axt steckt tief im Nussbaum- gehäuse, als hätten die Einbrecher das Ding in zwei Teile zerschlagen wollen. Meist schaltet er Sender ein, die über Kurz- oder Mittelwelle kommen. Aus dem Rauschen und Knacken hört er die fremden Sprachen heraus, die seltsamen Musiken aus Japan, Alaska, Arabien oder Afrika. Abends lässt er sich Bücher vorlesen, und häufig schläft er darüber ein.
Er öffnet den Stromkasten, drückt die Sicherung rein. In der Hütte flammt Licht auf, doch das Radio bleibt stumm.

08

Sandra erwacht davon, dass wieder jemand schreit. Vielleicht träumte sie das Schreien auch nur. Sie hört Chris atmen. Sie könnte ihm ewig beim Schlafen zusehen.
Noch drei Stunden. Sie will nicht, aber dann kommen ihr doch die Tränen. Wegen Chris hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor Glück geweint. Und jetzt weint sie, weil sie ihn nicht verlieren will. Sie schiebt den Kopf an den Rand der Matratze. Die Tränen tropfen auf Laken und Teppich. Sie zündet sich eine Zigarette an, wischt mit dem Handrücken über die Augen. Dann ist der Lidschatten eben hin, und sie sieht aus wie eine Vogelscheuche in ihrer letzten Nacht.
Nebenan fällt eine Schranktür zu. Eine Schranktür klingt anders als eine Zimmertür. Was man so alles weiß. Sie ertastet eine Gummimatte unter dem Laken. In Hotelbetten ist das üb- lich. Jetzt weiß sie auch, warum. Dass ihnen die Mädchen mit ihren Tränen nicht die Matratzen ruinieren.
„Was ist, Baby?“
„Was soll sein?“
„Dachte nur, es ist was.“
„Nein, nichts.“
Sie behält das Lächeln und schluckt die Tränen weg. Chris drängt sich an sie. Er küsst ihre Schläfe, atmet in ihren Na-cken, streichelt ihr über den Bauch, über Beine und Brüste.
Sie will nicht, dass er geht.
Hinter der Wand ist ein Rauschen, ein Husten. Ein kehliges, rauchiges Husten. Sie kennt sich damit aus als Sprech- stundenhilfe bei einem Arzt. Da husten genug, die sich die Lungen schwarz geraucht haben.
„Das ist gar kein Mann.“
„Woher weißt du das?“
„Ich hör’s am Husten.“
„Du kannst Frauen und Männer am Husten unterscheiden?“
„Was denkst denn du?“
„Ich sag doch, du bist schlau, Baby.“
Das Bein ist ihr eingeschlafen. Als sie es unter Chris hervorzieht, kribbeln Wade und Fuß.
„Aua, mein Bein.“
„Komm her.“
„Ich will nicht, dass du gehst“, sagt sie.
„Aber ich komme doch zurück.“
„Ich will es trotzdem nicht.“
Er kniet auf dem Bett und massiert ihr den Schenkel.
„Wir könnten fernsehen, Baby.“
„Es ist deine Nacht.“
„Fernsehen und dann noch mal. Okay?“
Er schaltet den Fernseher ein. Videoclips. Sie sehen nicht hin, halten einander im Arm. Das Licht von den Videos flackert unter der Decke wie Kaminfeuer.
„Reißt die Alte da drüben die Tapete von der Wand?“ Jetzt hört Sandra es auch. Dann ein Plätschern.
Chris dreht sich zu ihr mit einem Kuss.
„Was meinst du, Baby, sollen wir uns einen Film reinziehen?“
Er schaltet das Pay-TV ein, sie hört ein Keuchen und Jammern, zwei Frauen stöhnen da. Sandra sieht hin, sieht einen riesigen steifen Schwanz, der einem Kerl gehört, der aus der Kehle grunzt.
„Mach das weg“, sagt sie, „bitte.“
„Klar, Baby, das können wir besser, oder?“
Er lacht und küsst sie.
Sie kriecht in seine Arme. So liegen sie da und sehen auf den toten Bildschirm. Nebenan wieder Husten. Dann Jaulen. Ein Jaulen ganz tief erst und dann sehr hoch. Als Kind hat Sandra gesehen, wie ein Junge eine Katze mit dem Springseil erwürgte. So ähnlich jaulte die Katze auch.
„Hört sich nicht gut an“, sagt Chris.
Er streichelt ihr über den Nacken, sie greift nach hinten, fasst nach seiner Hüfte, streichelt seinen Oberschenkel.
Sie will nicht, dass er geht.

09


Als Arnold die Möbel verrückt, die Scherben zusammenfegt und die Suppe aufwischt, als er das Regal wieder aufstellt und die Bücher einräumt, während das Feuer im Kamin knistert und auf dem Herd eine neue Suppe kocht, während all dieser Arbeiten vermisst er die Worte und Musik aus dem Radio.
Zuletzt schiebt er das Bett an seinen Platz, und dabei kommt ihm der Karton in den Sinn. Den er verschlossen hat, mit Schnüren und Dutzenden Knoten, um ihn vielleicht nie wie- der zu öffnen. Er kriecht unters Bett. Doch da ist kein Karton. Da ist nur Staub. Der Hund kommt herbei mit wedelndem Schwanz. Er hält es für ein Spiel und zwängt sich mit unters Bett, er jault und fiept, wie immer, wenn er spielen will.
„Geh weg“, sagt Arnold.
Doch diesmal gehorcht er nicht und jault nur noch lauter. Das Spiel unterm Bett hat er noch nie gespielt. Arnold muss niesen vom Staub. Er stößt sich am Rahmen, und da erst fällt ihm ein, dass er den Karton im Frühjahr in den Schuppen getragen hat. Dort ist unter einer Steinplatte ein Hohlraum, ein altes Versteck. Er hat Briefe und Schulzeugnisse des Bildhauers darin gefunden, Geldscheine, die nicht mehr gültig waren, Skizzen, Fotos und Postkarten. Nichts davon hat er angerührt, nur den eigenen Karton dazugelegt.
Asche zu Asche.
Erst jetzt fällt ihm auf, dass auch der Schuppen aufgebro- chen wurde. Aber sonst scheint alles an seinem Platz. Vielleicht fehlte die Zeit, den Schuppen zu durchwühlen. Vielleicht haben sie den Pick-up gehört, als er den Berg heraufkam, und sind davongelaufen.
Mit aller Kraft stemmt er sich gegen den Stiel des Spatens. Er schafft es, den Stein herauszuhebeln, der Hund kommt herbei, streicht um ihn rum und hält auch das für ein neues Spiel, während Arnold die Steinplatte zur Seite wuchtet und erleichtert ist, in der Aussparung den Karton zu ertasten, die Schnüre und Knoten.
Der Hund schmiegt sich an ihn und leckt ihm die Hand.
„Lass das“, sagt er und ist erstaunt, als das Tier davontrottet.

10

Sie wacht davon auf, dass ein Motorrad über die Straße heult. Gleich halb fünf, dann haben sie noch eineinhalb Stunden. Blöde Gummimatte, sie schwitzt davon, und nebenan rauscht weiter das Wasser durchs Rohr.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragt Chris.
„Ich will, aber ich schaff es nicht.“
„Geht mir genauso. Dieses verdammte Rauschen.“
„Ich könnte auch nicht schlafen, wenn’s still wär“, sagt sie.
„Ich will noch nicht sterben.“
Er sagt es ganz leise, kaum hörbar, und sie ist nicht sicher, ob sie richtig versteht.
„Du stirbst nicht“, sagt sie.
„Und wenn doch?“
„Du bist viel zu schlau.“
„Das hat nichts mit Schlausein zu tun.“
„Doch, ich weiß, dich kriegen sie nicht.“
„Sie haben schon welche gekriegt, die schlauer waren als ich.“
„Glaub ich nicht.“
„Und wenn doch? Was dann?“
„Ich denk nicht dran.“
„Nimmst du dir dann einen anderen?“
„Bist du verrückt?“
„Du bist viel zu jung für eine Witwe.“
„Sag doch nicht so was. Sonst krieg ich Angst.“
Auf dem Flur schlägt eine Tür. Jemand lacht. Der Aufzug rumpelt durchs Haus. Ein Lastwagen rattert unterm Fenster entlang. Vielleicht ist es auch schon der erste Bus.
„Versprichst du mir was?“
„Wenn ich kann.“
„Versprich, dass du dir einen anderen nimmst, falls ich nicht zurückkomm.“
„Sag doch nicht so was.“
„Ich will nicht, dass man uns beide mit einer einzigen Kugel abknallt, verstehst du?“
„Ich will das nicht hören“, sagt sie und fängt an zu weinen.
„Wein doch nicht. Ich sag’s doch nur, falls mal was passiert.“
„Sag ihnen, du bist krank.“
„Ich liebe dich, Liebling.“
„Ich liebe dich auch.“
Er nimmt sie in den Arm, sie küssen sich. Gerade denkt sie, sie küsst ihn vielleicht zum letzten Mal.
„Vergiss das mit dem anderen“, sagt er dann, „ich komme zurück, ich versprech’s dir hoch und heilig.“
„Dann bin ich beruhigt.“
Jetzt fahren schon viel mehr Autos da draußen. Einmal wird gehupt. Weit dahinter rattern die Morgenzüge.
„So, jetzt lach mal wieder“, sagt er.
„Ja“, sagt sie und wischt sich die Tränen weg.
„Besser?“
„Ja, besser.“
„Cool.“
„Willst du noch mal?“, fragt sie.
„Ich will dich nur im Arm halten, ist das okay?“
„Dachte nur, du willst vielleicht noch mal, weil du ja jetzt so lange weg bist.“
Sie versucht sich an einem Lachen.
„Du bist so cool, Kleines, du machst mich glücklich.“
„Und du mich erst.“
Er lacht, und sie lacht jetzt auch.
„Das Wasser läuft noch immer.“
„Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.“
„Ich auch nicht.“
„Es wird schon hell.“
„Von mir aus kann’s für immer dunkel bleiben.“

11

Arnold streicht über den Deckel des Radios, bläst die Splitter weg, fährt mit den Fingern über den Stiel der Axt. Für den Hieb muss jemand eine Menge Wut gehabt haben.
Er geht auf die Veranda hinaus, raucht eine Zigarette. Ein Geschwader aus dunkelgrauen Wolken schiebt sich vor den Mond. Es könnte wieder Schnee geben. Eine erste Flocke schwebt herab und trudelt zu Boden. Der Hund ist auf die Wiese gehetzt, schnappt danach und schluckt sie weg, bevor sie ins Gras sinken kann.
Die Skulpturen des Bildhauers sind jetzt schwarz und silbrig grau. Anfangs dachte er, sie stellten nichts dar als verdrehte, mannshohe Körper ohne Köpfe und Arme. Aber dann fielen ihm die Farbunterschiede auf, und er fand es heraus: Es sind sieben Paare, eng ineinander verschlungen im Tanz.
Der Hund springt nach den Schneeflocken. Sie fallen jetzt dicht an dicht, eine Armee aus Schneeflocken. Arnold pfeift auf den Fingern, der Hund springt herbei und schüttelt sie ab. Er zieht die Tür auf, der Hund drängt sich rein in die Hütte, der Wärme des Feuers entgegen.
Später löffelt Arnold die Suppe, und der Hund nagt am Knochen. Im Kamin zischt die Glut. Es schneit immer stärker.
Punkt elf geht der Doc auf Sendung.
„Good evening folks. This is Doc from Manchester.“
Bevor er auf den Berg kam, hat Arnold sich um Musik nicht groß gekümmert. Er hörte, was gerade in der Luft war. Erst der Doc lehrte ihn, Musik zu verstehen. Den Folk, den Blues, den Tango, das Chanson.
Der Doc hat Tricks. Er erzählt Geschichten. Geschichten von Anglern, die nie einen Fisch fingen, dass er in einem Museum eine Tasse heißer Schokolade trank oder im Zug neben einer Rothaarigen saß, der ein Schneidezahn fehlte. Wenn Arnold sich noch fragte, welche Bedeutung diese Geschichten hatten, spielte der Doc die Songs über Fische, die nicht schwimmen konnten, über Maler, die ihrer Liebe Bilder aus heißer Schoko- lade malten, und Frauen, die ihre Zähne in den Schultern ihrer Liebhaber verloren.
Der Wind treibt den Schnee über die Wiese, und ihm wird klar, dass es falsch war, zuerst das Türschloss zu reparieren und die Möbel aufzustellen, die Scherben wegzufegen und die Suppe zu kochen.
Besser, er wäre gleich in den Ort gefahren für ein neues Radio.
Der Hund sieht zu ihm, als erwarte er, dass irgendetwas ge- schieht, dass sie bloß nicht allein bleiben mit dieser Stille, mit dieser Nacht.
Vor der Arnold sich fürchtet, genau wie der Hund.
Der bringt ihm den zerbissenen Ball. Arnold bückt sich danach. Er öffnet die Tür, er schleudert den Ball in die Nacht hinaus. Sieht ihn fliegen und dann im Schnee versinken.
Der Hund jault auf, bleibt in der Tür stehen, schleicht in die Hütte zurück und streckt sich aus auf der Decke am Kamin. Während sich Arnold, noch in den Kleidern, aufs Bett legt und der Stille der Nacht ergibt.

12

Im Aufwachen greift sie nach ihm und fasst ins Leere.
„Chris?“
„Ich muss los. Es ist gleich sechs.“
Er ist bei der Tür. Trägt die Uniform und auch schon die Stie- fel. Der Kleidersack lehnt an der Wand. Daneben liegen ihre Schuhe, die schwarzen mit den hohen Absätzen. Er wedelt mit Sandras BH und hat ein Lachgesicht.
Aber er lacht nicht.
„Ich bring dich zum Zug“, sagt sie.
„Das musst du nicht.“
„Ich will es aber.“
„Dann musst du dich beeilen, Baby, sonst fahren die ohne mich.“
„Das wär mir lieber.“
„Mir auch.“
„Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Du siehst so süß aus, wenn du schläfst.“
Sie zerrt die Strumpfhose hoch, bis sie zerreißt, wirft sich den Mantel über die Schultern und schlüpft in die Schuhe.
Vom Flur kommen Stimmen.
„Na dann“, sagt er.
„Ja“, sagt sie.
„Komm her, Baby, ich trag dich.“
„Warum?“
„Weil ich will.“
Er schultert den Kleidersack, fasst sie unter den Achseln und Knien. So trägt er sie durchs ganze Treppenhaus. Sie muss nur aufpassen, dass ihr die Schuhe nicht von den Füßen rutschen.
Unten vor dem Hotel setzt er sie ab. Sie fassen sich bei den Händen. Straßenbahnen rattern vorbei, Busse, Autos, Taxen. Die Backstube am Bahnhof ist hell erleuchtet. Eine blonde und eine rothaarige Verkäuferin stehen da mit frisch gebügelten Schürzen und warten auf Kundschaft. Es duftet nach Brötchen
und Kaffee und Morgen. Die Passanten warten an der roten
Ampel und gehen bei Grün.
Sie will nicht, dass er geht. Sie drückt seine Hand, so fest sie nur kann. Sie hält ihn an, tupft eine Schuppe von seiner Braue, drückt fest ihren Kopf gegen seine Brust. Da, wo das Herz schlägt, steht sein Name geschrieben.
„Wenn du zurück bist, machen wir weiter mit uns, okay?“
„Und ob“, sagt er und macht sich los.

13

Hin und wieder ist da ein Knistern im Kamin, sonst herrscht Stille. Als Licht hat er nur die Reste der Glut. Er liegt auf dem Bett. Ohne Radiostimmen, ohne den Doc, ohne Musik, ohne Lesungen, die kein Ende haben. Die Maserungen und Kanten der Balken erscheinen ihm wie der Plan einer unbekannten Stadt. Seine Erinnerungen sind schneller als der Schlaf.
„Nein“, sagt er, „nein.“
Er setzt sich auf, schaltet das Licht an und blättert in einem Roman. Mit lauter Stimme liest er vor. Der Hund schüttelt sich, legt den Kopf auf die Vorderläufe.
Seiner eigenen Stimme zuzuhören ist etwas ganz anderes. Er klappt das Buch zu. Auf dem Dach ist ein Nagen und
Kratzen, durch die Tür hört er das Rauschen des Waldes und den Ruf eines Bussards. Zischelnd sackt ein Scheit in die Glut des Kamins.
Er steht auf, zieht den Pullover über, schiebt die Tür auf, läuft durch den Schnee zum Schuppen. Der Hund ist hinter ihm. Die Zither liegt auf dem Regal bei den Konserven, unbe- rührt seit Jahren und mit stumpfen Saiten, unter einer Schicht
aus schwarzem Staub. Er trägt sie in die Hütte, bläst den Dreck weg, schlägt die Saiten an, drückt und zupft, doch sosehr er sich müht, es ergibt keine Melodie, die er gerne hört.
Der Hund fängt an zu bellen.
„Sei doch ruhig“, sagt er, „verdammt noch mal.“
Aber der Hund hat ja recht. Es ist keine Musik. Er wirft die Zither in den Kamin, wo die Flammen über sie herfallen. Rasch frisst sich das Feuer ins Holz, lodert es aus dem Schall- loch, flirrende Knalle, wenn die Saiten aus den Verschraubun- gen platzen und in die Glut peitschen. Funken stieben auf, und er bildet sich ein, die Zither schreie um ihr Leben. Dann ist sie nur noch ein stummes Stück Holz, das, schweigend und tot, zu Asche verbrennt.
Tot. Wie sie ihn ansah. Mit diesem erloschenen Blick. Komm schon, mach die Augen auf.
Er springt auf, reißt die Jacke vom Haken, vielleicht verkau- fen sie ihm doch noch irgendwo ein Radio, auch wenn es tiefe Nacht ist, vielleicht muss er bis zur Autobahn, an die Rast- stätte, wo die Fernfahrer auf den nächsten Tag warten, oder er fährt herum und hört so lange Autoradio, bis es Morgen wird.
Der Hund rappelt sich auf, will mitkommen, doch Arnold ist schneller, schlägt die Tür hinter sich zu, springt von der Veranda, hört den Hund heulen und am Türholz kratzen. Er läuft bergabwärts, der Schnee gibt nach, einmal stürzt er über einen Ast, schlittert auf dem Bauch, stößt mit der Stirn an einen Stein, ein greller Schmerz, an einem Strauch findet er Halt, er greift in Dornen, zieht sich hoch, schüttelt den Schnee ab, läuft weiter, kommt an den Wagen und erschrickt, weil an dem Pick-up gelblich die Scheinwerfer glimmen.
Mit Fingern, die steif sind vor Kälte und bluten von Dornen, schließt er den Wagen auf, schiebt sich hinter das Lenkrad,
sticht den Schlüssel ins Zündschloss, aber zu mehr als einem Röcheln des Motors hat die Batterie keine Kraft. Er tritt noch ein paar Mal aufs Gas, dreht den Schlüssel im Zündschloss, doch der Motor bleibt still. Selbst das Licht in der Fahrerkabine erlischt. Er dreht das Radio auf, ein letzter Fetzen Musik fliegt aus den Boxen, eine Frauenstimme verebbt, und er sitzt da und sieht den Schnee im Licht des Mondes schimmern.
Tränen hat er schon lange nicht mehr.
Später, als die Kälte ihm unter die Kleider und in die Kno- chen kriecht, stapft er die dreihundertdreizehn Schritte zur Hütte hinauf, duckt sich unter dem schwarzen, leergeschneiten Himmel.
Er schiebt die Tür auf, der Hund springt an ihm hoch, mit bebendem Maul, und bellt, doch er hört ihn nur aus weiter Ferne, als verstopfte der Schnee ihm die Ohren.
Er legt sich aufs Bett, so starr und kalt und nass wie einer der Baumstämme da draußen, und breitet die Arme aus. Augen- blicklich beginnt die Matratze zu schwanken, schwankt wild wie ein Boot auf offenem Meer. Aus dem Schwanken wird ein Schweben, als treibe er dahin in der lackschwarzen See unter stockfinsterem Himmel. Eisbrocken bedrängen ihn mit ihren scharfen Kanten, wollen ihn hinunterstoßen von seinem frostkalten Lager, wollen, dass er versinkt in diesem unendlich tiefen Ozean, wo Karen schon wartet mit lächelnden Augen.
Er zieht die Luft ein wie ein Taucher, er braucht sie jetzt für den Gesang, er singt Kinderreime, Weihnachtslieder, Schla- ger, erinnert sich an Songs, die ihn der Doc gelehrt hat. Er singt ganz laut, so dass sie ihn hört auf dem schwankenden Bett aus pechschwarzem Eis. Und dann irgendwann singt auch der Hund. Sie singen zum Rhythmus des knisternden Feuers, sie singen, bis ihnen die Kräfte schwinden, bis aus Arnolds
Gesang ein heiseres Flüstern und aus dem Jaulen des Hundes ein tonloses Röcheln geworden ist. Erst jetzt schläft er ein und versinkt mit gebrochenem Herzen in trostlosem Schlaf.


Zweiter Teil

14

Die Uhr tickt gegen Mitternacht. Früher ging Arnold um diese Zeit ins Bett. Früher, als der Junge noch nicht im Krieg war.
Mit den Nachtwachen begann er am Tag, als Chris in den Krieg flog. Er erinnert sich, dass es ein Samstag war. Am Morgen jenes Tages hatte er mit Karen in der Küche am Fenster ge- standen. Sie hatten gehofft, die Zeit möge schneller vergehen. Die Nachbarn beluden das Auto mit Fahrrädern, sie blickten in den regengrauen Himmel und verzogen die Gesichter.
„Deren Sorgen hätte ich gern“, sagte Karen.
„Was denn für Sorgen?“
„Zu fürchten, dass es regnet.“
Sie standen dicht beieinander am Fenster, und aus den Au- genwinkeln sah er ihr Kinn beben. Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie wurde starr.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er, „der Junge kommt heil zurück.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es eben.“
„Du redest die Dinge schön, seit ich dich kenne.“
Er hatte sie doch bloß beruhigen wollen. Wie sie sich immer beruhigten und trösteten, seit einunddreißig Jahren schon. Sie
wollte sich aus seiner Umarmung lösen, er aber hielt sie fest. Der Hund verstand es falsch. Kam herbeigehetzt, bellte und jaulte, als müsste er Karen vor Arnold beschützen.
„Nun sei doch still“, sagte er.
Sie gab dem Hund die Umarmung, die er von ihr wollte.
„Ich geh noch mal raus mit ihm“, sagte sie, nahm die Leine vom Haken und war schon weg.
Mitternacht. In der Nachbarschaft leuchten nur verein- zelte Lichter. Man steht früh auf in der Siedlung, also geht man auch früh ins Bett. Hier leben ordentliche Leute. Irgend- wo röhrt ein Motor. Der Nieselregen scheint festgefroren im Licht der Laterne.
Dass er Karen noch immer liebt, auch nach dieser langen Zeit, denkt er. Wenn es Unstimmigkeiten gibt zwischen ihnen, dann fast immer wegen des Jungen. Sie ist eine andere Karen, wenn es um Chris geht. Sie ist dann eine Karen in Sorge, eine Mutter, die immer auf der Seite ihres Jungen ist, ganz gleich, was er denkt, sagt oder macht. Nicht selten dachte Arnold, er gehörte nicht mehr dazu, gehörte gar nicht mehr zu seiner eigenen Familie.
Selbst dem Jungen ist ihre Zuwendung manchmal zu viel. Sie wollte ihn sogar zum Bahnhof bringen und dem Zug hin- terherwinken, der Chris zur Kaserne brachte. Er lachte darü- ber wie über einen absurden Scherz, umarmte seine Mutter, hob sie an wie ein Kind.
„Mom, ich gehe nicht auf Klassenfahrt“, sagte er, als ihre Gesichter auf einer Höhe waren, „und außerdem bringt mich Sandra zum Zug.“
Karen hustet. Sie sitzt im Wohnzimmer vor dem Fernseher, und sicher liegt der Hund zu ihren Füßen.
Es ist jetzt sechs Jahre her, dass Chris nach Frankfurt gezogen ist. Es wäre ihnen lieber gewesen, er hätte studiert. So wie sie auch. Aber der Junge wollte nicht. Er fing an als Tischler in einer Schreinerei. Karen hat sein Zimmer nicht mehr ange- rührt, seit er weg ist. So ist es ein Chris-Museum geworden. Ein nackter Schrank, ein Bett ohne Bezug, ein leerer Schreib- tisch. An den Wänden die Poster seiner Lieblingsbands. Es gibt auch eine Dartscheibe ohne Pfeile und ein Regal, auf dem alte Schulbücher verstauben.
Vom Garten her kreischt eine Katze. Der Hund hat es gehört und bellt.
„Psst“, macht sie, und der Hund ist still.
Für die Nachtwachen hat Arnold den neuen Computer gekauft. Der öffnet die Internetseiten so schnell, wie ein Wim- pernschlag dauert. Noch wartet er, ihn einzuschalten, wartet, bis Karen im Bett ist.
Neben den Stundenplan für die Schule hat er die Fotos ge- heftet. Er ist ein begabter Fotograf. An der Schule leitet er die Foto-AG. Die neueste Aufnahme ist wenige Monate alt. Chris lächelnd im Basketballtrikot, den Ball unterm Arm, seine Haut glänzt vom Schweiß, und im Hintergrund werden die Fahnen geschwenkt. Ein riesiger Kerl ist der Junge. Ein Kerl von zwei Metern, hundertdrei Kilo und vierundzwanzig Jahren.
Auf einem anderen Foto ist er drei. Geburtstag. Er hat einen Fuß auf dem Tritt seines Rollers und schaut mit der Ernst- haftigkeit eines Kindes, das dem Tod schon einmal näher war als dem Leben. Er hatte ja auch um sein Leben gekämpft. Tag und Nacht hatten sie beide in der Klinik gewacht. Sie hatten die Transfusionsnadeln und Spritzen unter der eigenen Haut und in den eigenen Venen gespürt, hatten den Jungen auf ihren Armen gewiegt, wenn er vor Schmerzen schrie oder zitterte wie ein aus dem Nest gefallener Vogel.

Jochen Rausch

Über Jochen Rausch

Biografie

Jochen Rausch ist Autor, Journalist, Musiker. Der Grimmepreisträger veröffentlichte den Erzählungsband „Trieb“ (2011), den Roman „Krieg“ (2013, verfilmt von Rick Ostermann und vorgestellt beim Internationalen Film-Festival in Venedig 2017) sowie „Rache“ (2015) und „Im Taxi. Eine Deutschlandreise“...

Pressestimmen
WDR 2 "Bücher"

„Mich hat der Titel lange von diesem Buch ferngehalten. "Krieg". Zu laut klang mir das. Knallhart, brutal, blutig. Krieg, den sieht man jeden Abend im Fernsehen, warum soll man ihn sich mit einem Buch nach Hause holen? Weil es ein richtig gutes ist. Eines, das - in Bruchstücken - vom Krieg in einem fernen Land erzählt, der hier in Deutschland ein Familienleben zerstört. Das Erstaunliche ist die Distanz, die der Autor zu dieser Tragödie hält. Die Sätze sind knapp gehalten, fast schon schroff, als sollte man ferngehalten werden von allem, was sich an Rührung und Mitgefühl einstellen könnte. Und dennoch ist man ganz nah dran, an der Geschichte des Vaters in den Bergen, der seinen Sohn verloren hat. Knallhart ja, aber eben auch bewegend. Die Seele eines Menschen läuft Amok. Einen Psychothriller hat man diesen Roman genannt. Und der Roman ist ein Psychothriller - und was für einer!“

Die Presse am Sonntag

„"Krieg" ist sprachlich eine Wucht, sicherlich öfter zu lesen. Und hochbrisant.“

Freie Presse

„Ohne Einleitung wird der Leser in die Handlung hineinkatapultiert und mit dem Erzähler konfrontiert, der eine beängstigende Situation wie in einem Thriller heraufbeschwört, indem er die Hauptfigur Arnold Steins in den Nächten Schüsse hören lässt. Dadurch, aber vor allem durch das Benutzen der Simultantechnik als künstlerischer Verfahrensweise, baut der Autor eine Spannung auf, die den Leser bis zum Schluss fesselt. Das geschieht in meisterhaft lakonischer Sprache; schnörkellos, dennoch bildhaft, faszinierend und ergreifend zugleich. Am meisten jedoch begeistert Rauschs Figurengestaltung. Vor allem seine Hauptfigur hat der Autor psychologisch ausgelotet und in ihrem äußeren und inneren Konflikt überzeugend dargestellt.“

Hamburger Morgenpost

„Autor Jochen Rausch versteht es, dem Leser Einblicke in die Seelenwelt des Protagonisten zu geben und dabei in einer schnörkellosen aber ergreifenden Sprache die Abgründe eines Lebens zu erzählen.“

Berliner Zeitung

„Jochen Rausch ist mit seinem neuen Roman "Krieg" etwas Unerhörtes geglückt, nämlich die zutiefst menschliche Geschichte eines Mannes, der aus einer undurchdringlichen Schwärze gegen alle Vorstellungskraft und psychologische Logik wieder ins Licht zurückfindet, durch alle Fegefeuer hindurch, über alle inneren und äußeren Abgründe hinweg. Entstanden ist das Buch eines Seelenwanderers, dessen Seele in Rauschs wunderbar kargen Sätzen geborgen ist.“

Allgemeine Zeitung Mainz

„In seinem dritten Buch gelingt Radiomann Jochen Rausch ein faszinierendes wie seltenes Kunststück: Nicht nur in jedem einzelnen Wort, auch im Rhythmus der kargen Sprache findet die äußere und innere Einsamkeit des Protagonisten Widerhall.“

Südwest Presse

„Die Figurenzeichnung, die klare und kühle Sprache und der tolle Spannungsaufbau machen "Krieg" zu einem sehr lesenswerten und nachdenklich machenden Roman.“

Rolling Stone

„Jochen Rausch schafft einen hellsichtigen Montageroman um Verlust, Schmerz und Trauerbewältigung. Eine klare Sprache lässt das Unsagbare aus Krieg und Gewalt in einem vielschichtigen Psychogramm gewahr werden. Ein starkes, intensives Buch!“

Junge Welt

„In ‚Krieg‘ gibt’s tatsächlich nichts zu überblättern, und ähnlich wie bei der vorausgegangen Buchveröffentlichung ‚Trieb – 13/Storys‘ ist das, was Rausch erzählt, geeignet, sensiblen Lesern den Nachtschlaf zu rauben, oder zumindest für sehr beunruhigende Träume zu sorgen. Daran ändert auch der Schluss des Romans nichts, der zwar nicht mit dem Krieg versöhnt – wie sollte das auch gehen -, der aber zumindest die Perspektive eröffnet, dass auf Krieg immer Frieden folgt.“

Deutschlandradio Kultur

„Wie Jochen Rausch diese Geschichte eines Mannes erzählt, der aus seiner Zeit gefallen ist, das ist fesselnd und verstörend. […]. Fesselnd ist die Sprache: so karg, so schnörkellos - nahezu maulfaul. […]. Rausch ist ein Meister der Andeutung, des Nicht-Ausgesprochenen - was zu viel zwingenderen Gedanken beim Leser führt, als wäre das ausgesprochen, ausgeführt. Ihm ist so weit mehr als ein düsterer Krimi gelungen, der den Afghanistan-Krieg als aktuelles Motiv plündert. Er schildert das wohlfeile Arrangement der toleranten Lehrerehe und gleichzeitig liefert er eine knappe Milieuskizze der gebildeten, liberalen, pazifistischen Mittelschichts-Akademiker.“

Stern

„Thriller um einen Einsiedler, amerikanisch erzählt, mit harten Schnitten, viel Tempo und plötzlichen Stopps. Nimmt sich Zeit für präzise Beobachtungen. Lebenskluger Roman, der berührt, auch wenn man das Genre Krimi nicht mag.“

Neues Deutschland

„Jochen Rausch versteht anzudeuten, Bilder zu suggerieren, die Phantasie anzuregen. Seine Sprache ist geschliffen. Bei ihm ist kein Wort zu viel. Versiert in der kleinen Form, gelingt es ihm Begebenheiten derart zu verflechten, dass daraus ein rundes Ganzes entsteht, ein Roman sehr eigener Prägung. Indem er Assoziationen miteinander verknüpft, also Vorstellungen, von denen die eine die andere hervorgerufen hat, gibt er dem Roman eine Spannung, die äußere Spannung kaum braucht. [...]. Vor Jahren schon hatte ich Jochen Rauschs Erzählungen 'Trieb' als meisterlich empfunden. Das gilt auch für den Roman 'Krieg', der große Literatur ist.“

Westdeutsche Zeitung

„Mit 'Krieg' hat Rausch einen [...] kunstvollen und atmosphärisch dichten Psychothriller geschrieben, der emotional packt und bis zur letzten Seite spannend bleibt.“

FAZE Mag

„Halsbrecherischer Plot, grandios literarischer Style. Eines der besten Bücher der Herbstsaison.“

Top Magazin

„Jochen Rauschs Sprache ist lakonisch. Er erzählt nie zu viel. Es tut fast weh, das zu lesen. [...]. Der Text ist wie ein Flüstern. Auch dann, wenn Regen prasselt oder Schüsse fallen. Alle Gespräche sind wortkarg. Und die Gedanken, die parallel laufen zu den Wörtern, sind tief. Der Film, der dabei läuft im Kopf, ist schwarz-weiß. Und er läuft spät nachts. Es ist ziemlich selten, dass man so etwas wie 'Krieg' in die Finger bekommt.“

ZEIT online

„In Rückblenden gelingen Rausch hier beeindruckende, bedrückende Szenen. [...]. Wie eine pochende Wunde wird das Nebeneinander von grauem deutschen Alltag und der [...] unvorstellbar fernen Kriegsrealität immer wieder beschworen.“

Kommentare zum Buch
Lass es nicht geschehen – dass die Angst gewinnt!
Kasin von KeJas-Blogbuch am 18.08.2016

„Es ist die Dunkelheit, die Stille, die er gesucht hat auf dem Berg.“ (Buch Seite 68)   Diese Geschichte beschreibt einen ganz persönlichen Krieg. Es geht um Angst, Einsamkeit, Trauer, Wut, eben die ganze Bandbreite an Emotionen die einem Menschen schwer zu schaffen machen.   Eine sehr eindrucksvoll beschriebene Geschichte, sehr gefühlvoll, fast schon zart erzählt, trotz der Schwere und Ernsthaftigkeit.   Aber erst einmal kurz zur Story : Arnold ist auf den Berg gezogen, in die Hütte die mal einem Bildhauer gehörte. Fern ab von den Siedlungen und den Menschen. Einsam und doch nicht alleine, denn er hat ja „Hund“ dabei, seinen treuen Vierbeiner. Doch eines Tages wird der Hund schwer verletzt, mutwillig und grausam mutete die Tat an und Arnold muss es jetzt wissen. Wer stört seine innere Einkehr, seine Ruhe, sein Leben? Was hat es mit den Wanderinnen auf sich und wer will ihm etwas böses? Arnold beobachtet, forscht, liest Spuren, wappnet sich und beginnt damit seinen persönlichsten Krieg gegen diesen Unbekannten und ein Stück weit auch gegen seine eigene Vergangenheit, die ihn erst auf diesen Berg trieb.   Der Autor Jochen Rausch hat in „Krieg“, erschienen bei Berlin Verlag, einen Protagonisten geschaffen, dessen Leben komplett aus den Fugen gerät. In seinen Schilderungen folgt man Arnold durch sein Leben und den Grund warum es ihn auf diesen Berg gezogen hat. Eine Flucht könnte man es nennen, eine Flucht vor der Vergangenheit die lange Zeit gut war, sehr gut sogar, bis zu dem Tag als sein geliebter Sohn Chris als Soldat in den Krieg zieht.   Die Kapitel fliegen hin und her zwischen der Zeit damals, als Arnold auf Mails wartete um zu wissen dass es Chris gut geht und der Zeit auf dem Berg. Eine mehr als tragische Geschichte die immer wieder solch schöne Elemente trägt um dann im nächsten Augenblick zu erschrecken. Chris zählt die Tage seiner Einsatzzeit rückwärts, wie auch Arnold es tut. Es sind doch nur 3 Monate. Nur noch 2 Monate und 23 Tage und es werden immer weniger. Man hofft auf ein gutes Ende und stellt ernüchternd fest dass es nicht nur Arnold schlecht geht, sondern auch seiner Frau Karen, die als Mutter stiller leidet und sich immer mehr zurückzieht. Nur ‚Hund‘ ist der einzige Halt der beiden.   Die Stimmung im Buch ist von Anfang an sehr fesselnd. Man ahnt alles und weiß doch nichts. Dem Autoren ist es sehr gut gelungen in diese Seele blicken zu lassen. All diese Angst die Arnold mit sich trägt, wie sie entstand und dann in unbändige Wut umbricht als dieser Unbekannte dabei ist seine neue (heile) Welt zu zerstören.   220 Seiten in denen man mitleidet und doch diese enorme Stärke spürt. Leg dich nicht mit diesem Mann an dachte ich einige Male, nimm ihm nicht was im lieb ist, er hat eigentlich gar nichts mehr zu verlieren. Und je weiter ich in dem Buch voran kam umso mehr fürchtete ich um Arnold und ‚Hund‘. Eine Geschichte die definitiv nicht kalt lässt.   Die Sprache ist total unkompliziert und hat doch das gewisse Etwas. Sehr tiefgründig und berührend. Ohne Floskeln und Klischees, einfach eine Darstellung der Umstände und der Folgen – grandios. Es war alles spürbar, die Gefühle im Guten wie im Schlechten, das Wetter oben auf dem Berg, die Natur und Landschaft, alles bekam seinen Platz - ohne der Geschichte an sich etwas zu nehmen.   Ich bin begeistert und vergebe 5 von 5 Sternen plus einen extra für ‚Hund‘ (als Hundebesitzer kann ich gar nicht anders).

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