Gotteszahl (Yngvar-Stubø-Reihe 4)
Kriminalroman
›Gotteszahl‹ ist atemlos und packend – Holt in Höchstform. Dies ist eines ihrer besten Bücher.« - Aftenposten
Gotteszahl (Yngvar-Stubø-Reihe 4) — Inhalt
Die Romanvorlage zur Krimiserie „Modus - Der Mörder in uns“
Eine bis zur Unkenntlichkeit verweste Leiche und eine angesehene Bischöfin, die auf heimtückische Weise erstochen wird – das ist nur der Beginn einer grausamen Mordserie, der ein teuflisches Muster zugrunde liegt. Kommissar Yngvar Stubø ist schnell klar, dass Beten nicht der Schlüssel zur Lösung sein wird ...
Leseprobe zu „Gotteszahl (Yngvar-Stubø-Reihe 4)“
Für Ann-Marie, für fünfzehn gute Jahre
der Zusammenarbeit
TEIL I
Weihnachten 2008
Das unsichtbare Kind
Es war die zwanzigste Nacht im Dezember.
Einer dieser Samstagabende, die so viel versprechen, was sie niemals halten,war fast unmerklich in den letzten Adventssonntag übergegangen. Die Menschen schwankten noch immer von einem Lokal zum anderen, während sie den heftigen Schneefall verfluchten, der einige Stunden zuvor über Oslo hereingebrochen war. Die Temperatur war danach auf drei Grad über null geklettert, und alles, was noch an Weihnachtsstimmung [...]
Für Ann-Marie, für fünfzehn gute Jahre
der Zusammenarbeit
TEIL I
Weihnachten 2008
Das unsichtbare Kind
Es war die zwanzigste Nacht im Dezember.
Einer dieser Samstagabende, die so viel versprechen, was sie niemals halten,war fast unmerklich in den letzten Adventssonntag übergegangen. Die Menschen schwankten noch immer von einem Lokal zum anderen, während sie den heftigen Schneefall verfluchten, der einige Stunden zuvor über Oslo hereingebrochen war. Die Temperatur war danach auf drei Grad über null geklettert, und alles, was noch an Weihnachtsstimmung erinnerte, war grauer Matsch auf Eisbuckeln neben Seen aus geschmolzenem Schnee.
Mitten in der Stortingsgata stand ein Kind.
Es war barfuß.
„Haltet in den dunklen Tagen“, sang die Kleine zaghaft, „euer Herz bereit …“
Ihr Nachthemd war hellgelb und auf der Brust mit Marienkäfern bestickt. Die Waden, die unter dem Hemd hervorsahen, waren dünn wie Essstäbchen, und ihre Füße bohrten sich in den Matsch. Das schmächtige, halbnackte Kind war in diesem nächtlichen Stadtbild dermaßen fehl am Platze, dass niemand es bisher auch nur bemerkt hatte. Die Saison der Weihnachtsfeiern näherte sich dem Höhepunkt, und alle waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Ein halbnacktes, summendes Kind auf einer Hauptstadtstraße mitten in der Nacht wurde einfach unsichtbar, wie in einem der Bücher, die die Kleine zu Hause hatte, woTiere aus Afrika sorgfältig in Zeichnungen von norwegischen Landschaften versteckt waren, hinter Rinde und Laub kaum zu entdecken, wenn man sich dort nicht auskannte.
„… Tannen werden Lichter tragen …“
Alle waren unterwegs, um sich zu amüsieren, was nur den wenigsten gelang. Vor dem Laden von Juwelier Langgaard stützte sich eine Frau an das Panzerglas und starrte ihr Erbrochenes an. Unverdaute tiefrote Himbeersoße zwischen Resten von Schweinerippe und Frikadellen, Schneematsch und Streusand. Eine Bande junger Männer johlte auf der anderen Straßenseite Schmählieder auf die Kotzerin. Sie zogen einen abgestürzten Kollegen zwischen sich am Nationaltheater vorbei, ohne darauf zu achten, dass der nur noch einen Schuh anhatte. Vor jedem Lokal drängten sich die Raucher fröstelnd im kalten Wind. Durch die Straßen zog eine salzige Brise vom Fjord her und mischte sich mit dem Geruch von brennendem Tabak, Schnaps und Parfüm, dem Geruch einer norwegischen Großstadt in einer Nacht kurz vor Weihnachten.
Aber niemand bemerkte das kleine Mädchen, das so leise auf der Straße sang, zwischen zwei silbrig schimmernden Straßenbahnschienen.
„… und die leuchten … und die leuchten …“
Sie kam nicht weiter.
„… und die leuchten …“
Eine Straßenbahn der Linie 19 riss sich von der Haltestelle hundert Meter weiter in Richtung Schloss los. Wie ein bleischwerer Schlitten voller Menschen, die nicht so genau wussten, wohin sie wollten, fuhr sie langsam den Hang zum Hotel Continental hinab. Einige Fahrgäste wussten kaum noch, wo sie gewesen waren. Sie schliefen. Andere tuschelten über ein mögliches Nachglühen, mehr zu trinken und mehr Frauen, bei denen sie ihr Glück versuchen könnten, ehe es zu spät wäre.Viele starrten nur in die kompakte Wärme, die sich als feuchte Undurchdringlichkeit auf die Fensterscheiben legte.
Ein Mann am Eingang zum Theatercafé hob den Blick von den teuren Schuhen, die er für diesen Abend in der Annahme gewählt hatte, der Schnee würde noch auf sich warten lassen. Seine Füße waren nass, und die Streusalzstreifen würden sich nur mit Mühe entfernen lassen, wenn die Schuhe überhaupt je trockneten.
Er war der Einzige, der das Kind sah.
Sein Mund öffnete sich zu einem Warnruf. Ehe er Atem holen konnte, versetzte ihm jemand einen Stoß in den Rücken, und er hatte zu tun, sich auf den Beinen zu halten.
„Kristiane! Kristiane!“
Eine Frau in norwegischer Tracht stolperte über ihren voluminösen Rock. Instinktiv klammerte sie sich an den Mann mit den ruinierten Enzo-Poli-Schuhen. Er hatte das Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Beide gingen zu Boden.
„Kristiane“, schrie die Frau und versuchte, sich aufzurappeln.
Die Straßenbahn bimmelte aufgeregt.
Der Fahrer, der kurz vor dem Ende einer anstrengenden Doppelschicht stand, hatte das Mädchen endlich entdeckt. Metall kreischte auf Metall, als er bremste, so gut das auf den vereisten Schienen möglich war.
„Und die leuchten weit ….“, sang Kristiane.
Die Straßenbahn war nur noch sechs Meter von ihr entfernt und fuhr immer noch, als die Mutter endlich mit zerrissenem Rock auf die Straße stolperte und wieder schrie: „Kristiane!“
Später würden einige behaupten, der Mann, der aus dem großen Nichts aufgetaucht war, habe Ähnlichkeit mit Batman gehabt. Das musste aber an seinem weiten Umhang liegen, denn der Mann war klein, leicht übergewichtig und hatte eine Glatze. Da aller Augen auf das Kind und die verzweifelte Mutter gerichtet waren, registrierte niemand so genau, wie der Mann mit bemerkenswerter Geschmeidigkeit vor die fahrende Bahn sprang und das Kind mit einer Hand an sich riss. Er hatte die Schienen gerade erst wieder verlassen, als die Straßenbahn langsam über die Stelle fuhr, an der die Kleine gestanden hatte, und endlich zum Halten kam. Ein abgerissener Fetzen seines dunklen Umhangs hing am Stoßdämpfer der Bahn und bewegte sich imWind.
Die Stadt atmete erleichtert auf.
Kein Auto war zu hören, Lachen und Rufe erstarben. Die Straßenbahnklingel verstummte.Alle standen da, als könnten sie nicht so ganz glauben, dass es gut gegangen war. Der Straßenbahnfahrer saß wie erstarrt auf seinem Platz, die Hände vor die Stirn geschlagen, die Augen aufgerissen. Sogar die Mutter der Kleinen stand wie festgefroren einige Meter von ihr entfernt, in zerrissenem Festgewand und mit unbeholfen herabhängenden Armen.
„Leuchten in der Nächte Schweigen …“, sang Kristiane weiter, ohne den Mann anzusehen, der sie hielt.
Jemand fing vorsichtig an zu applaudieren. Andere schlossen sich an. Der Applaus wurde lauter, und die Frau in der Tracht schien plötzlich zu erwachen.
„Mein Kind“, schrie sie, lief die wenigen Schritte zu ihrer Tochter und riss sie an sich. „Das darfst du nie wieder tun! Du musst Mama versprechen, das niemals wieder zu tun!“
Inger Johanne Vik hob den einen Arm, ohne zu überlegen und ohne den Griff um ihr Kind zu lockern. Der Mann verzog keine Miene, als ihre Handfläche ihn hart auf der Wange traf. Er deutete ein Grinsen an, verbeugte sich tief zu einem altmodischen Abschiedsgruß, drehte sich um und war verschwunden.
„Und im kalten Wind“, sang das Kind, „werden denen sich einst zeigen, die noch einsam sind.“
„Ist das gut gegangen? Alles in Ordnung?“
Immer mehr festlich gekleidete Menschen strömten aus dem Continental. Alle redeten wild durcheinander. Alle begriffen, dass etwas passiert war, aber nur die wenigsten wussten, was. Es hieß, jemand sei überfahren worden, andere behaupteten, die kleine Kristiane habe entführt werden sollen, die seltsame junge Nichte der Braut.
„Meine Schöne“, weinte die Mutter. „Das darfst du doch nicht tun!“
„Die Dame war tot“, sagte Kristiane. „Ich friere.“
„Natürlich frierst du.“
Die Mutter ging auf das Hotel zu, mit kleinen, starren Schritten, um nicht zu fallen. In der Türöffnung stand die Braut. Das trägerlose Oberteil ihres Kleides war mit schimmernden Pailletten besetzt. Schwere Seide fiel in Falten über die schmalen Hüften bis zu ihren Füßen, wo die bestickten Schuhe noch immer leuchtend weiß waren. Als Hauptperson des Abends war sie so schön, wie sich das gehört, tadellos geschminkt, das Haar ebenso perfekt hochgesteckt wie zu Beginn des Hochzeitsschmauses vor vielen Stunden. Die glühenden nackten Schultern mochten andeuten, dass sie die Hochzeitsnacht schon vorgezogen hatte. Sie schien nicht einmal zu frieren.
„Wie geht es dir denn?“, fragte sie lächelnd und streichelte die Wange der Nichte, als ihre Schwester an ihr vorüberging.
„Meine Tante“, sagte Kristiane und lächelte zurück. „Tante Braut. Du bist aber schön!“
„Was man von deiner Mutter nicht sagen kann“, murmelte die Braut.
Nur Kristiane hatte sie gehört. Inger Johanne würdigte ihre Schwester keines Blickes. Sie stapfte weiter, in die Wärme, sie wollte auf ihr Zimmer, unter die Decke mit ihrer Tochter, vielleicht ein heißes Bad nehmen, ihr Kind war eiskalt und musste so rasch wie möglich aufgetaut werden. Sie stolperte und bekam kaum Luft. Obwohl die bald vierzehn Jahre alte Kristiane nicht mehr wog als eine Zehnjährige, drohte die Mutter unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen. Der Trachtenrock hing außerdem so schief, dass sie bei jedem zweiten Schritt auf den Saum trat. Die zum Kranz geflochtenen Haare hatten sich gelöst. Die Frisur war Yngvars Idee gewesen, und sie war in den Stunden vor der Trauung so durcheinander gewesen, dass sie darauf eingegangen war. Nur einige Minuten nach Festbeginn hatte sie sich schon wie Brünhilde in einer Inszenierung aus der Zwischenkriegszeit gefühlt.
Ein hochgewachsener Mann kam aus dem ersten Stock heruntergerannt.„Was ist passiert?Was ist … Ist alles in Ordnung mit ihr? Mit dir?“
Yngvar Stubø versuchte, seine Frau aufzuhalten.
Sie fauchte: „Idiotische Idee! Mit demTaxi wären wir in zehn Minuten zu Hause! In zehn Minuten!“
„Was ist idiotisch? Was sollen wir … Lass mich sie tragen, Inger Johanne. Dein Kleid ist ruiniert, und es wäre …“
„Das ist kein Kleid! Das ist eine Tracht! Und es war deine Idee! Diese entsetzliche Frisur und dieses Hotel und dass Kristiane mitkommt. Es hätte ihr Tod sein können!“
Sie wurde von Tränen überwältigt und ließ das Kind endlich los.
Der Mann mit den langen Armen umfasste die Kleine behutsam, und zusammen stiegen sie die Treppe hinauf.
Kristiane sang noch immer, mit zarter, glockenheller Stimme: „Engel denen sich dann zeigen, die noch einsam sind.“
„Sie schläft, Inger Johanne. Der Arzt hat gesagt, dass es ihr gut geht.Es gibt keinen Grund,jetzt nach Hause zu fahren.Es ist …“
Der Mann warf einen Blick auf den stummen Fernsehapparat, wo das Hotel noch immer Mrs. and Mr.Yngvar Stubø willkommen hieß.
„Viertel nach drei. Es ist bald halb vier, Inger Johanne.“
„Ich will nach Hause.“
„Aber …“
„Wir hätten nie auf diesen Vorschlag eingehen dürfen. Kristiane ist zu klein.“
„Sie ist fast vierzehn“, sagte Yngvar und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.„Dass eineVierzehnjährige an der Hochzeit ihrer Tante teilnehmen darf, kann man wohl nicht als ungewöhnlich bezeichnen. Es war außerdem sehr großzügig von deiner Schwester, uns eine Suite und die Kinderbetreuung zu spendieren.“
„Schöne Kinderbetreuung!“
Sie fauchte diese Worte regelrecht.
„Albertine ist eingenickt“, sagte Yngvar resigniert. „Sie hat sich aufs Sofa gelegt, als Kristiane endlich eingeschlafen war. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Dazu war sie doch hier, Inger Johanne. Kristiane kennt Albertine gut. Und die hat getan, worum wir sie gebeten haben, mehr hätten wir nicht verlangen können. Sie ist nach dem Dessert mit Kristiane aufs Zimmer gegangen. Es war ein Missgeschick, und das musst du akzeptieren.“
„Missgeschick? Ist es ein Missgeschick, wenn ein Kind wie … wie Kristiane unbemerkt aus einem Hotel weglaufen kann? Dass die Babysitterin, die Kristiane übrigens nur so gut kennt, dass sie immer noch ›Dame‹ zu ihr sagt, so tief schläft, dass Kristiane sie für tot hält! Dass das Kind durch ein überfülltes Haus irrt! Ein Haus voller angetrunkener Menschen! Und dass es danach mitten in der Nacht auf die Straße gerät, ohne Kleider und Schuhe und ohne …“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut.
Yngvar ließ sich neben ihr auf die Bettkante sinken. „Können wir nicht einfach schlafen gehen?“, sagte er leise. „Morgen sieht alles besser aus. Es ist doch trotz allem gut gegangen.Wir wollen uns darüber freuen. Und schlafen.“
Sie gab keine Antwort. Ihr gekrümmter Rücken bebte bei jedem Atemzug.
„Mama.“
Schnell trocknete Inger Johanne ihre Tränen und drehte sich mit strahlendem Lächeln zu ihrer Tochter um. „Ja, mein Herzchen?“
„Manchmal bin ich einfach unsichtbar.“
Vom Gang her hörte man Kichern und Lachen. Jemand brüllte „Prost“, und eine Männerstimme fragte, wo der Eiswürfelspender stehe.
Inger Johanne legte sich vorsichtig aufs Bett. Sie streichelte die dünnen blonden Haare der Kleinen und hielt den Mund dicht an ihr Ohr. „Nicht für mich, Kristiane. Für mich bist du niemals unsichtbar.“
„Doch“, sagte Kristiane und lachte kurz. „Für dich auch. Ich bin das unsichtbare Kind.“
Ehe die Mutter protestieren konnte, und während die Rathausglocken erklärten, dass abermals eine halbe Stunde an diesem einundzwanzigstenTag im Dezember vergangen war,schlief Kristiane schon fest.
Ein Zimmer mit Aussicht
Als die Rathausglocken halb vier schlugen, sagte er sich, dass es jetzt genug sei.
Er stand am Fenster und blickte auf das hinaus, was dort zu sehen war.
Es war nicht gerade viel.
Vor zehn Stunden war dichter Schnee über Oslo gefallen und hatte die Stadt hell werden lassen. In der Stille des Büros hatte er sich so sehr auf seine Arbeit konzentriert, dass er den Wetterumschwung nicht bemerkt hatte. Die Stadt lag fast konturlos unter ihm. Es regnete nicht, aber die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass dicke Tropfen am Fenster hinabrannen. Die Festung Akershus war auf der anderen Seite des Hafenbeckens nur als Schatten zu ahnen. Die grauen, trägen Wellen mit den weißen Schaumkronen waren alles, was darauf schließen ließ, dass es sich bei der schwarzen Fläche zwischen Rådhuskai und Nesodden und weiter bis hinaus zum Hurumland um Fjord und Meer handelte.
Aber die Lichter waren schön: Straßenlaternen und Lampen wurden durch die Wassertropfen am Fenster zu schimmernden Sternen.
Alles lag auf dem Schreibtisch bereit.
Die Weihnachtsgeschenke.
Eine Kreuzfahrt durch die Karibik für Bruder und Schwester mit ihren Familien. Zwar mit einem Schiff der eigenen Reederei, aber dennoch ziemlich großzügig.
Ein Schmuckstück für die Mutter, die am Heiligen Abend neunundsechzig wurde und von Diamanten nie genug bekam.
Ein ferngesteuerter Hubschrauber und ein Rodelbrett für den Sohn.
Nichts für Rolf, wie sie es abgemacht hatten und immer wieder bereuten.
Und 20 000 000 Kronen für gute Zwecke.
Das war alles.
Die persönlichen Geschenke hatte er schnell besorgt. Er hatte im November bei seinem Juwelier in Amsterdam weniger als eine halbe Stunde gebraucht, dazu kamen ein Rundgang durch ein Einkaufszentrum in Boston in derselben Woche und zwanzig Minuten in der vergangenen Nacht am Rechner, um einen schönen Gutschein für die Familien seiner Geschwister zu entwerfen.Verlockende Bilder von Martinique und Aruba waren auf derWebsite der Reederei reichlich vertreten. Das Ergebnis war überzeugend und so persönlich, dass er die ganze Sippe im Sonnenwind an der Reling der MS Princess Ingrid Alexandra aufreihte.
Was seine Zeit gebraucht hatte, war die Verteilung der Spenden für wohltätige Zwecke.
Marcus Koll jr. legte seine Seele in jede einzelne Gabe. Das war sein Weihnachtsgeschenk an sich selbst. Es tat ihm gut und erinnerte ihn an seinen Großvater. Der alte Mann, der für den kleinen Marcus fast wie ein Gott gewesen war, hatte ihm einmal eine Frage gestellt: Ein Mann hilft zehn anderen in Not und wird dafür geehrt. Ein anderer Mann hilft nur einem anderen in Not, behält es aber für sich, und niemand dankt ihm dafür.Welcher von beiden ist der bessere Mensch?
Der Zehnjährige hatte gesagt, der Erste, und seither musste er sich damit herumschlagen. Marcus hatte lange darauf bestanden: Die Absicht des Gebers spiele keine Rolle. Was zähle, sei das Ergebnis. Zehnmal sei besser als einmal. Der alte Mann hatte lange für das Gegenteil argumentiert.Bis der Junge mit fünfzehn seine Meinung geändert hatte.Wie auch der Großvater. So hatten sie die Diskussion fortgesetzt, bis Marcus Koll sr. im Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war und ein sorgfältig geordnetes Leben in einem graugrünen Ordner mit dem Emblem der Norwegischen Eisenbahn hinterlassen hatte. Die Papiere bewiesen, dass er sein Leben lang zwanzig Prozent seiner Einkünfte gespendet hatte. Nicht zehn, wofür es in der Arbeiterbewegung eine gewisse Tradition gab, sondern zwanzig. Ein Fünftel des Lebensverdienstes seines Großvaters war ein Geschenk an Menschen gewesen, denen es schlechter ging als ihm.
Marcus jr. sah am Tag der Beerdigung seines Großvaters alle Unterlagen durch. Es wurde eine Zeitreise durch die düstersten Geschehnisse des 20. Jahrhunderts.Es gab Quittungen für Überweisungen an arme Witwen vor dem Krieg, an jüdische Kinder in der Nachkriegszeit, an Flüchtlinge aus Ungarn 1956. Ein Kinderhilfswerk erhielt seit 1959 jeden Monat eine kleine Summe, und der Großvater hatte bei den meisten Katastropheneinsätzen nach 1920 sein Scherflein beigetragen, von Schiffsunglücken in den Jahren vor dem Krieg über die Hungersnot in Biafra bis zum Tsunami vor der Insel Sumatra. Er war nur fünf Tage nach der Flutwelle gestorben, hatte sich aber noch ins Postamt von Tøyen schleppen können, um Ärzte ohne Grenzen fünftausend Kronen zu schicken.
Als Lokomotivführer mit nicht berufstätiger Frau, fünf Kindern und schließlich vierzehn Enkelkindern konnte es nicht immer leicht gewesen sein, Jahr für Jahr die Lohntüte und später das Rentenkonto zu belasten.Aber er hatte sich nie ehren lassen. Die Beträge wurden in verschiedenen Postämtern bar eingezahlt, alle weit genug entfernt von dem Mietshaus in Vålerenga, sodass er nicht erkannt wurde.
Der Großvater hatte nicht einem Menschen geholfen, ohne dafür die geringste Anerkennung zu erhalten, sondern Tausenden.
Genau wie sein Enkel.
Die Spenden, die der jüngere Marcus Koll Hilfsorganisationen und Forschungsprojekten zukommen ließ, waren allerdings von ganz anderer Größenordnung. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. Er verdiente in einigen Wochen mehr als sein Großvater in einem langen Leben. Er ging trotzdem davon aus, dass beiden das Schenken die gleiche Freude machte und dass es auf die moralische Frage des Großvaters im Grunde keine Antwort gab.
Das Teilen war für die beiden Marcus Kolls keine Frage edler Denkweise. Es ging einfach darum, mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein. Und so, wie der Großvater sich die winzige Eitelkeit gestattet hatte, seinen Enkel wissen zu lassen, was er getan hatte, als alles zu Ende und die Diskussion im wahrsten Sinne desWortes zuTode gelaufen war, führte der Jüngere ebenfalls sorgfältig Buch über seine Spenden. Sie wurden in aller Diskretion über Strohmänner vorgenommen, sodass es den Empfängern unmöglich war, den Absender ausfindig zu machen.Das Geld war ein Geschenk von ihm persönlich,nicht von seinen Firmen; es war als Einkommen gebucht, und er hatte Steuern dafür gezahlt, ehe er es auf Umwegen weiterleitete, die nur ihm selbst bekannt waren. Und niemand anders als der allerjüngste Marcus Koll, in zwei Monaten acht Jahre alt, sollte irgendwann erfahren, was der Vater eigentlich in der Nacht vor dem letzten Adventssonntag gemacht hatte, seit er fünfunddreißig Jahre alt gewesen war.
Es gab ihm die Ruhe, die er brauchte.
Sein Herz schlug zu rasch.
Er lief im Zimmer auf und ab. Es war nicht sonderlich groß und es zeigte keine Spur von dem vielen Geld, das hinter dem alten Eichenschreibtisch verdient wurde. Marcus Koll sr. hatte sein Büro zwar auf Aker Brygge eingerichtet, vor zwei Finanzkrisen eine sehr gute Adresse, aber inzwischen hatte die Gegend an Ansehen verloren. Das kam ihm nur gelegen.
Er griff sich an die Brust und versuchte, langsam zu atmen. Seine Lunge hatte ihren eigenenWillen,sie schnappte nach Luft, viel zu schnell, viel zu flach. Er stand wie angewurzelt da. Sich zu bewegen war unmöglich. Er würde jetzt sterben. Seine Fingerspitzen prickelten. Seine Lippen wurden taub, und die Betäubung im Mund ließ seine Zunge groß und trocken werden. Er musste durch die Nase atmen, aber seine Nase war dicht; er bekam keine Luft mehr und würde in wenigen Sekunden tot sein.
Er sah sich so, wie er es gelesen und wie er es schon oft getan hatte. Er stand außerhalb seines eigenen Körpers, fast in der Vogelperspektive,und sah einen untersetzten Mann von einundvierzig mit Tränensäcken. Er konnte seine eigene Angst riechen.
Ihm wurde ungeheuer heiß, und endlich konnte er sich losreißen. Er taumelte zum Schreibtisch und riss eine Papiertüte aus der obersten Schublade. Er knüllte die Öffnung mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand leicht zusammen, hielt dann die Tüte an den Mund und atmete so tief und rhythmisch, wie es ihm nur möglich war.
Der metallische Geschmack in seinem Mund wollte nicht verschwinden.
Er warf die Tüte weg und presste die Stirn ans Fenster. Nicht krank. Er war nicht krank. Sein Herz war ganz in Ordnung, auch wenn es unter dem linken Schulterblatt und im Arm stach, im linken Arm, wenn er nachfühlte. Nein. Dort gab es keinen Schmerz. Nicht nachfühlen.
Atmen.
„Anne Holt zeigt in diesem Roman über weite Strecken, dass der Kriminalroman derzeit wie kaum ein anderes Genre geeignet ist, wesentliche gesellschaftliche Probleme in literarischer und spannender Form einem breiten Publikum nahe zu bringen.“
„Extrem spannend, clever verschachtelt, mit politischen Bezügen, stilistisch originell und dabei auch anspruchsvoll geschrieben.“
„Das hat man davon: Verfolgungswahn. Kalte Füße. Kaffeedurst. Was sich für diesen unfassbar spannenden Thriller alles lohnt.“
Das hat man davon: Verfolgungswahn. Kalte Füße. Kaffeedurst. Was sich für diesen unfassbar spannenden Thriller alles lohnt.
„Anne Holt schreibt phantastische Krimis.“
›Gotteszahl‹ ist atemlos und packend – Holt in Höchstform. Dies ist eines ihrer besten Bücher.«
›Gotteszahl‹ heißt der neue, exzellent geschriebene Krimi von Anne Holt. Mit sicherer Hand führt sie die einzelnen Erzählstränge am Ende zusammen und serviert eine ebenso überzeugende wie überraschende Lösung.
„Ein intelligent konstruiertes Gesellschaftstableau.“
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