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Gemeinsam sind wir einzig

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Anna Grue
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Roman

„Erstklassig erzählt.“ - Schleswig-Holstein am Wochenende

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Gemeinsam sind wir einzig — Inhalt

Eine Reise, eine Chance, ein Neuanfang - und eine wunderbare Freundschaft

Ihren kleinen Jungen, eine Madonna-Figur und Bargeld – das ist alles, was Vittoria bei sich hat, als sie im Februar 1958 beschließt, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und in ihrem Fiat 500 von Rom nach Kopenhagen flieht. Schnell muss sich die junge Italienerin eingestehen, dass der Neuanfang alles andere als einfach ist. Zum Glück weiß sie Conny, eine Dänin mit einer ausgeprägten Vorliebe für ein ungestümes Leben, stets an ihrer Seite. Sie werden beste Freundinnen. Doch als sich Vittoria verliebt, holt sie ihre Vergangenheit ein. Und plötzlich hängt ihr neu gefundenes Glück am seidenen Faden …

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 12.01.2018
Übersetzt von: Marieke Heimburger
624 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97871-2
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Leseprobe zu „Gemeinsam sind wir einzig“

Volare

16. Februar – 6. März 1958

Vittoria Contini hatte ihre gesamte Habe im Auto verstaut: Kleidung, etwas Hausrat, warme Decken, den Schmuck ihrer Mutter und die Madonnenfigur sowie unzählige Taschen, Beutel und Pappkartons. Alles häufte sich nun im Wageninneren des kleinen Fiat 500. Auf der Rückbank, eingeklemmt zwischen Koffern und Wäschestapeln, stand ein Weidenkorb. Darin lag wohlbehütet ihr kleiner Junge. Der dicke Umschlag mit dem Geld aber steckte sicher unter dem Fahrersitz.

Vittoria verließ das Viertel Trastevere gegen Mitternacht. Im [...]

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Volare

16. Februar – 6. März 1958

Vittoria Contini hatte ihre gesamte Habe im Auto verstaut: Kleidung, etwas Hausrat, warme Decken, den Schmuck ihrer Mutter und die Madonnenfigur sowie unzählige Taschen, Beutel und Pappkartons. Alles häufte sich nun im Wageninneren des kleinen Fiat 500. Auf der Rückbank, eingeklemmt zwischen Koffern und Wäschestapeln, stand ein Weidenkorb. Darin lag wohlbehütet ihr kleiner Junge. Der dicke Umschlag mit dem Geld aber steckte sicher unter dem Fahrersitz.

Vittoria verließ das Viertel Trastevere gegen Mitternacht. Im Rückspiegel sah sie, dass Suor Giovanna ihr noch lange hinterherwinkte. Bis zu diesem Moment war es Vittoria gelungen, die Fassung zu bewahren, aber kaum war die große, knochige Gestalt in der schwarzen Nonnentracht außer Sicht, verschleierten Tränen ihren Blick, und so hielt sie gleich hinter der Ponte Garibaldi auf dem Seitenstreifen und gab ihren Gefühlen nach. Sie beweinte ihre toten Eltern, Aurelia und das Leben, das sie nun hinter sich ließ: das Restaurant, die schmalen Gassen um die Piazza di Santa Maria, ihre Arbeit. Aber am meisten weinte sie, weil sie wusste, wie sehr Schwester Giovanna ihr fehlen würde.

Nach einigen Minuten hatte Vittoria sich wieder gefangen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und wer A sagte, musste auch B sagen. Der Abschied von ihrem Zuhause war der Preis, den sie zahlen musste, wenn sie mit dem Kind einen Neubeginn wagen wollte. Vittoria putzte sich gründlich die Nase, dann drehte sie sich auf dem Sitz um und betrachtete den schlafenden Säugling. Wird schon werden, dachte sie. Muss.

Der Motor startete mit einem eifrigen Brummen, der Wagen war nagelneu. Während sie sich durch die nördlichen Stadtteile Roms schlängelte, wurde die Traurigkeit von einer berauschenden Erleichterung abgelöst. Sie hatte es geschafft! Sie war frei! Sie beide waren frei. Jetzt galt es, so schnell wie möglich von hier fortzukommen, bevor irgendjemand Lunte roch.

Vittoria fuhr ohne eine Pause, bis der Kleine gegen vier Uhr morgens aufwachte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie die Stadt längst hinter sich gelassen und befanden sich an der Küste vor Albinia. Sie fuhr rechts heran und war dankbar für den Vollmond, der ihr ein wenig Licht spendete, während sie den Jungen wickelte. Als sie die nasse Windel in der Hand hielt, ging ihr auf, dass dies ein Problem war, das sie nicht bedacht hatte: Schmutzwäsche. Die Häufchenwindeln würde sie wegwerfen müssen, damit es nicht im ganzen Fahrzeug danach stank, die anderen konnte sie behalten, würde aber unterwegs nach Waschsalons Ausschau halten müssen. Sie holte die Thermosflasche mit der Milchmischung hervor, schüttelte sie gründlich und öffnete den Verschluss.

Wie lange würden sie, einschließlich der nötigen Rastzeiten, wohl bis Kopenhagen brauchen?, fragte sich Vittoria und goss die Flüssigkeit in eine Nuckelflasche. Zwei Wochen? Drei? Auch ein neuer Fiat 500 war nicht für lange Strecken gebaut. Nur gut, dass sie genügend Bargeld bei sich hatte, sie würden ein paarmal übernachten müssen. Bei der nächsten Bank musste sie etwas von dem Geld in die benötigten Währungen umtauschen.

Während sie dem Jungen das Fläschchen gab, ließ sie den Blick über sein Gesicht und seinen Körper wandern. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt, sie konnte ihn ganz deutlich erkennen. Seine langen, geschwungenen Wimpern, die unfassbar perfekte kleine Nase, den dunklen Flaum auf dem Kopf, der sich bereits in weiche Locken verwandelte. Sein Griff um ihren Zeigefinger war erstaunlich fest. Der kleine Mann war so stark und gleichzeitig so hilflos. Vittoria beugte sich über ihn und sog seinen Duft ein. Salz, süß, ein Hauch von fetter Olivenseife.

Wie sehr ich dieses Kind doch liebe, dachte sie, und in derselben Sekunde fiel ihr auf, dass sie es konsequent vermied, es bei seinem Namen zu nennen – selbst in Gedanken. Es war immer nur der Junge, das Kind, der Kleine, mein Schatz … Vielleicht sollte sie ihm einen neuen Namen geben? Eigentlich war er nach seinem Vater benannt, aber das hatte ihr von Anfang an widerstrebt. Diesen Mann wollte sie am liebsten vergessen, und das konnte sie nicht, wenn sie immer an die Vergangenheit erinnert wurde, sobald sie das Kind rief.

Und da wusste sie auf einmal, wie es von jetzt an heißen sollte – natürlich nach ihrem eigenen fürsorglichen, humorvollen Vater, der einen ganz hervorragenden Großvater abgegeben hätte. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen?

„Massimo“, sagte sie leise und strich dem Jungen mit einer Fingerspitze über die gewölbte Stirn. „Massimo Contini, bambino mio. Ich werde immer auf dich achtgeben. Immer.“

*

Die Tage vor ihrer Abreise aus Rom waren hektisch gewesen. Vieles hatte sie regeln und besorgen müssen, von Koffern über Babyartikel bis hin zum Proviant. Und das alles so unauffällig wie möglich, damit niemand Verdacht schöpfte – darum hatte sie die Einkäufe in weit von Trastevere entfernten Stadtteilen erledigt. Ja, Vittoria hatte sich sogar regelrecht verkleidet, bevor sie in einer gut sortierten Buchhandlung auf dem Corso einen vernünftigen Straßenatlas ausgesucht hatte: Sie trug einen breitkrempigen Hut ihrer verstorbenen Mutter und Schwester Giovannas aussortierte Brille. Danach hatte sie in jeder freien Minute die Landkarten studiert. Sie wagte es nicht, die Strecke über die Alpen zu nehmen, aus Angst, der kleine Motor ihres Fiat würde an der Herausforderung scheitern – und weil um diese Jahreszeit noch mit Schnee zu rechnen war. Darum wollte sie an der Mittelmeerküste entlang- und dann durch Frankreich und Westdeutschland fahren. Auf alternativen Routen, sodass sie nicht so leicht wie auf den Hauptstraßen zu verfolgen wäre.

Fünfzehn Tage dauerte die Reise durch Europa gen Norden schließlich. Sie fuhr und fuhr, und doch ging es viel zu langsam voran. Nur etwa zweihundert Kilometer schaffte sie am Tag, oft holperte sie über schmale, schlechte Nebenstrecken, die sie durch kleine Bergdörfer und an winterkahlen Weingärten vorbeiführte. Jedes Mal, wenn Massimo aufwachte, musste Vittoria anhalten, um ihn zu versorgen. Gut, dass er noch so klein ist, dachte sie. Ein größeres Kind hätte häufigere und längere Ruhepausen verlangt, und das hätte die Reisezeit noch viel mehr in die Länge gezogen. Es war schon schlimm genug, dass sie immer mal wieder für mehrere Stunden rasten mussten, wenn Vittoria müde wurde.

Die Nächte verbrachten sie stets in Gasthäusern – kleinen Pensionen oder bescheidenen Herbergen –, wo Vittoria nicht mehr als zwei, drei Stunden am Stück schlief, wie es das Los aller jungen Mütter war. Nach ihrer Ankunft dort spülte Vittoria immer gleich die benutzten Windeln aus, damit sie bis zum nächsten Morgen neben dem Kachelofen trocknen konnten, und bereitete – entweder in der Küche oder auf ihrem kleinen Primus-Gaskocher – die Milchrationen vor, die Massimo im Lauf des nächsten Tages brauchen würde. Mit ein bisschen Einfallsreichtum und geschickter Planung ging das ganz gut, aber dieses Nomadendasein war nicht unproblematisch. So geriet Vittoria einmal ziemlich heftig mit einem französischen Wirt aneinander, dem das Babygeschrei auf die Nerven ging, und ein paarmal war sie der Verzweiflung nah, weil sie die Fläschchen und Sauger nicht in der Hotelküche auskochen durfte. Sie war vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig und deren Launen schutzlos ausgeliefert.

Schon nach wenigen Tagen war Vittoria vollkommen erschöpft. Der Schlafmangel, das ständige Improvisieren und die vielen Stunden am Steuer forderten ihren Tribut. Und auch psychisch war sie angegriffen. Wie unendlich zermürbend es doch war, nur mit Händen und Füßen zu kommunizieren – aber eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht, nachdem sie Italien erst verlassen hatte. Sie sprach weder Deutsch noch Französisch – und die Menschen um sie herum konnten kein Italienisch. Vittoria sehnte sich danach, mit jemandem reden zu können, um Hilfe bitten zu können, von ihren Sorgen und Zweifeln erzählen zu können oder auch einfach nur ein paar freundliche Worte zu wechseln. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen vor so vielen neuen Eindrücken, und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die endlose Straße vor sich. Vittorias Körper schrie förmlich nach einer vernünftigen Mahlzeit, nach einem guten Bett, nach mehr als drei Stunden ungestörtem Schlaf – und je frustrierter Vittoria wurde, desto unruhiger reagierte auch Massimo.

Und dann war da die Angst. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, sich buchstäblich über die Schulter sehen zu müssen. Natürlich hatten Schwester Giovanna und sie alles sehr gründlich vorbereitet, und offenbar hatten auch alle die Geschichte geglaubt, die sie beide sich ausgedacht hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Vittoria verfolgt wurde, war gering und schrumpfte mit jedem zurückgelegten Kilometer. Trotzdem brachte die Angst, gefunden zu werden, sie manchmal fast um den Verstand. Sie musste ihre letzten Kräfte mobilisieren, um sich zusammenzureißen, die Route des nächsten Tages auswendig zu lernen und sich darauf zu konzentrieren weiterzufahren.

*

Am Montag, dem dritten März, erreichte Vittoria Kopenhagen. Sie war so müde, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte außer diesem: Sie musste ein Zimmer finden, wo sie und Massimo eine Weile bleiben konnten. Schluss mit dem täglichen Ein- und Auspacken, mit den langen, anstrengenden Fahrten. Sie hatte vor, möglichst zentral zu wohnen, und als sie in die Gegend hinter dem Hauptbahnhof kam, stellte sie erleichtert fest, dass sich dort ein Hotel an das andere reihte.

Sie parkte in der Helgolandsgade und nahm den Weidenkorb mit Massimo an sich. Erkundigte sich in den Unterkünften nach Preisen und sah sich gründlich um. Viele waren zu schäbig, als dass sie dort mit einem Säugling hätte bleiben können. Es wimmelte nur so vor betrunkenen Männern darin, obwohl es noch nicht einmal Abend war, und die Frauen, denen sie begegnete, sahen aus, als gehörten sie einem Gewerbe an, vor dem Vittorias Mutter sie gewarnt hatte. Einige wenige Hotels waren ansprechend, aber viel zu teuer, in anderen wiederum erklärte man nachdrücklich, kein Baby beherbergen zu wollen.

Letztendlich entschied sie sich für das Hotel Epsilon in der Colbjørnsensgade. Zu diesem Zeitpunkt war Massimo wieder wach, und Vittoria brauchte einen Ort, an dem sie ihn wickeln und füttern konnte. Deshalb war sie womöglich nicht ganz so kritisch, wie sie es sonst gewesen wäre, aber dieses Hotel wirkte doch zumindest sauber. Der pickelige Rezeptionist war ganz beeindruckt von Vittorias Dänischkenntnissen und sagte, Massimo sei ebenfalls willkommen. Kurz darauf betrat sie Zimmer zweihundertvierzehn. Es war klein und sehr weit vom Bad entfernt, ansonsten aber völlig ausreichend. Sie hatte nur das Notwendigste aus dem Auto mit nach oben genommen: Kleidung, alles für den Säugling, den Gaskocher, das Geld. Und die Heilige Jungfrau natürlich. Kaum war die schöne Figur ausgepackt und hatte einen Platz auf der Fensterbank bekommen, fühlte Vittoria sich schon gleich viel mehr zu Hause.

Die ersten Tage nach ihrer Ankunft schlief sie immer sofort ein, wenn Massimo einschlief. Sie versorgte ihn wie in Trance, und ihre eigenen Mahlzeiten bestanden lediglich aus Brot, Butter und Käse aus dem Milchladen um die Ecke. Doch nach und nach kam Vittoria wieder zu Kräften, und ihr angeborener Optimismus machte sich ebenfalls wieder bemerkbar, obwohl sie sich noch nicht in der Lage sah, sich auf die Suche nach einer festen Bleibe zu machen.

Nach drei Tagen im Hotel Epsilon bekam Massimo Bauchschmerzen. Mit dem Kind auf dem Arm ging sie im Zimmer auf und ab – was gar nicht so einfach war auf dem doch recht engen Raum zwischen Bett, Waschtisch, Schrank und Koffer. Unzählige Male wachte der Junge in der Nacht brüllend auf, Vittoria musste immer wieder aufstehen und ihn herumtragen. Im Morgengrauen kam Massimo endlich zur Ruhe, aber ein paar Stunden später war er schon wieder wach und schrie aus Leibeskräften. Vittoria war so aufgewühlt, dass ihr der Schweiß ausbrach. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob sie das Richtige getan hatte. War das wirklich das Leben, für das sie alles andere aufs Spiel gesetzt hatte?

 

6. März 1958

In Connys Faust saß der über mehrere Stunden aufgestaute Frust: Dreimal klopfte sie kräftig an die Tür. Sie wurde sofort geöffnet.

„Ja bitte?“, sagte die Frau. Mit einem Säugling auf dem Arm stand sie in der Tür und wirkte abweisend.

„Ich wohne im Zimmer nebenan“, begann Conny.

Die andere Frau sah sie an und antwortete nicht.

„Würden Sie bitte Ihr Kind beruhigen?“, fuhr Conny fort und zog ihren Morgenmantel am Hals etwas weiter zu. „Ich war gerade erst eingeschlafen.“

Die andere warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Ja, ich weiß“, wandte Conny ein, bevor die Fremde etwas sagen konnte. „Es ist zehn. Ich habe aber immer erst um vier Uhr morgens Feierabend. Und auch ich brauche meinen Schlaf.“

„Entschuldigung. Es … tut mir leid, dass wir Sie geweckt haben.“ Die junge Frau sprach mit ausländischem Akzent.

„Vielleicht könnten Sie ja mit ihm spazieren gehen … oder … Ist es ein Mädchen?“ Conny hob die Hand, um dem Kind die Wange zu streicheln. Die Frau wich einen Schritt zurück und drückte es schützend an sich.

„Verzeihung“, sagte Conny erschrocken und ließ die Hand sinken. „Ich wollte nicht …“

„Es ist ein Junge.“ Mit einem entschuldigenden Blick trat die Mutter wieder vor, damit Conny sein Gesicht sehen konnte. „Er heißt Massimo.“

„Massimo? Das ist ja ein … ungewöhnlicher Name.“

Die Frau legte dem Kleinen eine Hand um den Hinterkopf. „Das ist italienisch.“

„Kommen Sie denn aus Italien?“

„Aus Rom.“ Die junge Frau reichte Conny die freie Hand. „Vittoria Contini.“

„Conny Mortensen.“ Sie schüttelte die Hand und sah ihrem Gegenüber zum ersten Mal in die Augen. Eins war blau, das andere braun. Das alles wirkte auf sie irgendwie beunruhigend. „Sind Sie wirklich Italienerin?“

„Ja.“

„Dafür sprechen Sie aber erstaunlich gut Dänisch.“

„Danke. Meine Mutter war Dänin. Wir sprechen immer Dänisch zusammen.“ Frau Contini hielt inne. „Nein, nicht sprechen … sprachen.“

„Oh.“

„Meine Mutter ist letzten Herbst gestorben.“

„Oh“, wiederholte Conny. „Dann hat sie ihren Enkel also gar nicht mehr kennengelernt?“

„Nein.“

Der Säugling fing wieder an zu schreien.

„Entschuldigung, er hat Hunger“, sagte Frau Contini. Sie nahm ein Fläschchen aus einem Topf, der auf einem Gaskocher stand, und ließ routiniert ein paar Tropfen Milch auf ihr Handgelenk fallen. Offenbar war sie mit der Temperatur zufrieden, denn sie drehte das Gas ab und setzte sich auf das Bett. Gierig fing der Kleine an zu saugen.

Hinter Conny ging ein anderer Hotelgast auf dem Flur vorbei und murmelte einen kaum hörbaren Gruß. Conny drehte sich um. Die Schultern in seinem Wollmantel hingen tief herab. Ein unangenehmer, von ihm ausgehender Alkoholgeruch stieg ihr in die Nase.

Sie sah wieder zu Frau Contini. „Sie wissen schon, dass das verboten ist, oder?“

„Was? Sein Kind zu füttern?“ Vittoria Contini blickte auf.

„Nein, nein, natürlich nicht. Es ist verboten, einen Gaskocher im Zimmer zu haben. Von wegen Feuergefahr. Wenn der Hoteldirektor dahinterkommt, dann …“

Frau Contini zuckte die Achseln. „Was soll ich machen? Der Junge muss ja etwas essen. Ich gebe dem Zimmermädchen jeden Tag eine Krone, damit es … Come si dice? Den Mund behält?“ Sie sah Conny an. „Sie werden doch nichts sagen, oder?“

„Natürlich nicht.“ Conny lachte. „Ich glaube, das Zimmermädchen verdient nicht schlecht. Ich stecke ihr auch hin und wieder was zu, damit sie mein Zimmer immer als Letztes macht. Damit ich noch ein bisschen länger schlafen kann.“

Die andere Frau lächelte knapp.

„Es wäre doch viel einfacher, wenn Sie dem Kind die Brust gäben“, merkte Conny an.

„Stimmt. Ich habe nur leider keine Milch“, sagte Vittoria Contini. „Würden Sie bitte die Tür hinter sich schließen, damit niemand den Gaskocher sieht?“

Conny verstand sie absichtlich falsch und kam herein, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Dann sah sie sich um, während die andere Frau sich auf ihr Kind konzentrierte. Das Zimmer war ziemlich vollgestellt. Zwei große, edle Lederkoffer lagen aufgeschlagen auf dem Boden, sodass nur ein schmaler Gang neben dem Bett frei war. In einer Ecke standen ein kräftiger Leinenseesack und ein ovaler Weidenkorb, im offenen Kleiderschrank ein Karton mit Lebensmitteln. Über dem Heizkörper hingen Stoffwindeln und ein paar Babysachen zum Trocknen, und auf der Fensterbank befanden sich leere Fläschchen, Sauger, eine bunte Marienfigur und diverser Kleinkram. Der schwere Geruch von warmer Milch und Schmutzwäsche hing in der Luft.

„Wie lange wohnen Sie schon im Epsilon?“

„Seit Montag. Und Sie?“

„Seit zwei Monaten.“ Conny wurde ganz heiß in der stickigen Zimmerluft, sie öffnete den Morgenmantel über ihrem Nachthemd und räusperte sich. „Und wie lange wollen Sie hierbleiben?“

Vittoria Contini sah sie an. „Hören Sie, normalerweise macht er nicht so ein … Wie sagt man? Ach ja, Theater“, erklärte sie. „Ich verspreche Ihnen, dass ich besser aufpassen werde. Jetzt weiß ich ja, dass Sie tagsüber schlafen.“

„So war das nicht gemeint“, sagte Conny. „Ich dachte nur … Es ist doch bestimmt nicht einfach, hier mit einem kleinen Kind zu wohnen.“

„Ich komme zurecht“, sagte Frau Contini.

„Vielleicht könnten Sie ja irgendwo ein Zimmer mit Zugang zu Küche und Bad bekommen?“

„Ich habe in drei Pensionen nachgefragt. Keine wollte mich wegen des Kleinen aufnehmen.“

„Aber warum sind Sie denn überhaupt …“ Conny bremste sich. Sollte Vittoria Contini ihr eines Tages erzählen wollen, warum sie – eine junge, elegante Römerin mit teuren Koffern – hier mit ihrem Kind in einem heruntergekommenen Hotelzimmer in der Colbjørnsensgade saß, würde sie es schon tun. „Hätten Sie Lust auf eine Tasse Kaffee?“, fragte Conny stattdessen.

„Sehr gerne, ja.“ Frau Continis Miene hellte sich auf.

„Ich hab welchen im Zimmer.“ Conny ging zur Tür.

„Aber wollten Sie denn nicht schlafen?“

„Jetzt bin ich ja wach. Vielleicht kann ich heute Nachmittag noch ein Nickerchen machen, ich muss erst um acht zur Arbeit.“ Sie verschwand in ihrem Zimmer und zog sich um, bevor sie einen Tauchsieder und eine Blechdose mit Nescafé hervorholte und ins Nachbarzimmer zurückkehrte.

Neugierig sah die Italienerin ihr bei der Zubereitung des Kaffees zu. „Ich dachte immer, Dänen benutzen einen … Come si dice? Trichter?“

„Nicht für Pulverkaffee“, sagte Conny und gab je einen Teelöffel voll in zwei Tassen. „Ist kolossal praktisch. Kennen Sie das gar nicht?“

Frau Contini schüttelte den Kopf. Sie schnupperte am dampfenden Kaffee und stellte ihn auf dem Nachttisch ab. „Setzen Sie sich doch. Da ans …“ Sie machte eine Handbewegung und suchte wieder nach dem richtigen Wort.

„Fußende?“, schlug Conny vor.

„Ja, genau.“ Die andere Frau lächelte verlegen. „Entschuldigen Sie die Unordnung.“

„Keine Sorge.“ Conny schob einen Haufen Kleidung zur Seite und nahm Platz.

„Bitte, bedienen Sie sich“, sagte Frau Contini und hielt ihr eine Schachtel Schokolade hin. „Habe ich von zu Hause mitgebracht.“

„Danke.“ Conny nahm ein Stück weiches Nougat in den Mund. Es zerschmolz sofort auf der Zunge, war aber so süß, dass es in den Zähnen schmerzte.

Schweigend saßen sie da.

Vittoria Contini stellte die leere Babyflasche weg und legte sich das Kind an die Schulter, damit es sein Bäuerchen machen konnte. Dann nippte sie am Kaffee – und schwieg.

„Schmeckt er ihnen nicht?“, fragte Conny. „Sie können noch einen Löffel mehr reintun, wenn Sie möchten.“

„Nein danke. Er ist gut so.“

Wieder schwiegen sie einen Moment. Conny rauchte eine Zigarette, während sie ihr Gegenüber heimlich beobachtete. Mit Ausnahme der Augen sah Vittoria Contini nicht besonders exotisch aus. Noch nicht einmal wie eine richtige Italienerin, stellte Conny mit einer gewissen Enttäuschung fest. Sie hatte weder die schwarze Mähne noch den üppigen Vorbau oder die riesigen Goldohrringe, die Conny damit assoziierte. Ihr Haar war straßenköterblond, ihre Brüste klein und die Handgelenke so zierlich, als könnten sie jederzeit brechen. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein silberner Ring mit einem glitzernden blauen Stein. Sie war keine ausgeprägte Schönheit, aber die nachlässig aufgesteckten Haare, der lange Hals und das figurbetonte puderblaue Kleid verliehen ihr dennoch eine fremde Aura, die sie in den Augen eines gewöhnlichen Dänen ziemlich mondän erscheinen ließ.

Vittoria Contini drückte Nase und Lippen gegen die Wange des Kleinen. In regelmäßigen Abständen fielen ihr die blau marmorierten Lider zu – sie war in ihre ganz eigene Welt versunken. Und sicher auch todmüde, dachte Conny. Wenn der kleine Schreihals die ganze Nacht so einen Aufstand gemacht hatte, hatte seine Mutter wohl kaum ein Auge zugetan. Kein einziges Mal wandte sie sich ihrem Gast zu, es sei denn, Conny sprach sie direkt an.

Conny fühlte sich nicht willkommen. Sie bereute das mit dem Kaffee. In Wirklichkeit war Pulverkaffee für sie auch etwas relativ Neues, ganz gleich, wie nonchalant sie gerade darüber geredet hatte. In ihrem Elternhaus hatte es so etwas nicht gegeben, ihre Mutter hatte die Mischung aus Kaffeeersatz von Rich und echtem Kaffee stets zweimal aufgebrüht, um wirklich alles aus dem Getränk herauszuholen. Conny trank ihren Nescafé nur zu ganz besonderen Gelegenheiten. Immerhin kostete er ja über vier Kronen pro Dose. Was für eine Verschwendung, ihn jemandem zu servieren, der ihn nicht zu schätzen wusste, dachte sie und warf einen Blick auf Frau Continis Tasse, in der der kaum angerührte Kaffee inzwischen kalt geworden war.

Der Kopf des Säuglings lief rot an, er stieß einen lauten Schrei aus. Die Kindsmutter riss die Augen auf, rief „Oh!“ und war mit einem Mal wieder hellwach. „Ich hole eben etwas Wasser.“

Während sie alles für den Windelwechsel vorbereitete, saß Conny auf dem Bett und betrachtete den kleinen Massimo. Nichts deutete darauf hin, dass der Junge die unterschiedlich gefärbten Augen seiner Mutter geerbt hatte. Seine Iris war so dunkelbraun, dass man kaum die Pupillen sehen konnte. Sie berührte sein rosa Händchen. Sofort umklammerte er ihren Zeigefinger. Der mohnrote Nagellack, den Conny eigentlich wahnsinnig schick fand, nahm sich neben Massimos perfekten runden, fast durchsichtigen Nägeln geradezu vulgär aus. Sie gab einen Laut von sich, ein sanftes Gurren, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug. Massimo drehte den Kopf und sah sie an. Dann lächelte er, breit und zahnlos.

„Wie alt ist er?“, fragte Conny, als Frau Contini sich kurz darauf daranmachte, dem Jungen die schmutzige Windel auszuziehen.

„Zweieinhalb Monate“, antwortete sie. „Ist er nicht süß?“

„Sehr süß.“ Fasziniert beobachtete sie, wie Vittoria Contini den Jungen wusch und jede Hautfalte trocken tupfte. Massimo lag ganz still, er schien den Vorgang zu genießen. Seine Mutter puderte ihn mit Talkum und zog ihn wieder an.

„Ich habe fast keine sauberen Windeln mehr“, sagte Frau Contini und knöpfte den weißen Strampelanzug ihres Sohnes an den Schultern zu.

„Dann müssen Sie welche waschen.“

„Das ist ja gerade das Problem“, begann die andere Frau und richtete sich auf. „Ich habe einen Topf, um die Windeln auf dem Primus auszukochen, dann spüle ich sie im Bad aus – aber ich kann sie nirgends richtig trocknen.“ Ratlos zog sie die Schultern hoch. „Wie machen Sie das denn? Gibt es hier in der Nähe eine Wäscherei?“

„Ja, gleich um die Ecke in der Istedgade.“ Conny sah Frau Contini an. „Ich muss sowieso da hin und saubere Wäsche abholen. Wollen Sie mitkommen?“

„Sehr gerne.“ Vittoria Contini lächelte. „Ich hasse waschen.“

„Wer tut das nicht?“

Conny ging ihre Jacke holen, während Vittoria Contini einen beeindruckenden Haufen Schmutzwäsche zusammensammelte.

„Geben Sie her“, sagte Conny und streckte die Hand nach dem vollgestopften Seesack aus.

„Danke.“ Frau Contini wickelte Massimo in eine dicke Wolldecke, zog ihm eine Strickmütze über das Köpfchen und legte ihn in den Weidenkorb. Dann steckte sie ihre Geldbörse unter seine Decke, bevor sie den Korb aufnahm und die Tür hinter sich abschloss.

„So einen Korb habe ich noch nie gesehen. Jedenfalls nicht, um Babys darin zu transportieren“, sagte Conny, als sie kurz darauf den Gehsteig entlangspazierten.

„Den hier?“ Die Ausländerin sah auf den Weidenkorb hinunter. „Die sind in Italien ganz normal.“

„Aber wäre ein Kinderwagen denn nicht einfacher?“

„Ich möchte keinen kaufen, solange ich noch keine feste Bleibe gefunden habe“, sagte Frau Contini, die unter dem Gewicht des Kindes den Oberkörper neigen musste. „Ein Kinderwagen passt nicht in mein Auto.“

„Auto?“

Vittoria Contini lächelte. „Das da.“ Sie nickte in Richtung eines cremefarbenen Wagens, der auf der anderen Straßenseite parkte. „Mein kleiner cinquecento. Er bietet nur Platz für das absolut Notwendigste. War schon schwer genug, unser ganzes Gepäck darin unterzubringen.“

Conny blieb stehen. „Das ist Ihrer? Der weiße Fiat?“

„Ja.“

„Ein eigenes Auto …“

Frau Contini sah sie an. „Haben Sie ein … Wie heißt das auf Dänisch? Patente di guida … Führerpatent?“

„Führerschein? Nein, aber ich hätte gerne einen.“ Conny erwiderte ihren Blick. „Können wir nicht eine Spritztour damit machen?“

„Jetzt?“

„Nachdem wir die Wäsche weggebracht haben. Ich lade Sie auch zum Mittagessen in den Jægersborg Hirschpark ein. Was meinen Sie?“

*

Das war ein richtig schöner Ausflug, dachte Conny, als sie wenige Stunden später wieder in ihrem Zimmer war, um dringend ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Die beiden Frauen hatten sich mit dem Tragen des Säuglings abgewechselt und im Gasthaus Peter Liep Smørrebrød gegessen. Vittoria Contini hatte den ganzen Tag in ihren hohen Pumps bestritten. Es war Conny ein Rätsel, wie sie das aushalten konnte. Sie selbst hasste die Stilettos, die sie als Bedienung im Nachtklub tragen musste, und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, in ihrer Freizeit in so etwas herumzulaufen.

Eigentlich weiß ich immer noch nicht besonders viel über meine neue Nachbarin, dachte sie und stellte den Wecker auf sieben Uhr abends. Vittoria Contini hatte ihr praktisch nichts von sich erzählt, und Conny hatte sich bemüht, ihre Neugier im Zaum zu halten. Es mag ja nicht jeder sein Innerstes nach außen kehren und seine ganze Lebensgeschichte erzählen, dachte sie und drückte ihre Zigarette im überfüllten Aschenbecher auf dem Nachttisch aus.

Anna  Grue

Über Anna Grue

Biografie

Anna Grue, 1957 in Nykøbing geboren, ist eine der erfolgreichsten skandinavischen Krimiautorinnen. Nach einigen Stationen bei bekannten dänischen Zeitungen und Zeitschriften widmet sie sich seit 2007 ausschließlich dem Schreiben von Büchern. Ihre Serie um Detektiv Dan Sommerdahl steht regelmäßig auf...

Pressestimmen
Schleswig-Holstein am Wochenende

„Erstklassig erzählt.“

Kommentare zum Buch
Gemeinsam sind wir einzig
Monika Buchholz am 07.02.2018

Die Leseprobe hat mich neugierig auf das Buch gemacht. Was hat Vittoria zu verbergen? Warum ist sie aus Italien geflohen? Wie wird ihr Leben in Dänemark weitergehen? Eine interessante Figur! Es interessiert mich sehr, wie die Geschichte weiter geht.

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