Geliebte Berthe
Geliebte Berthe — Inhalt
Wenn die Liebe Grenze überwindet
Unberührt von der tiefen Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, liebt Berthe die französische Kultur. Bei einem Fest im nahen Straßburg verliebt sie sich Hals über Kopf in Armand. Eine Liebe, die eigentlich unmöglich ist, doch Berthe überwindet die Grenze, zieht ins südfranzösische Villeneuve, heiratet und gründet eine Familie mit Armand.
Als Hitler in Paris einmarschiert, brechen sich alte Vorurteile Bahn. Und Berthe wird zunehmend isoliert ...
„Eine geschickt und glaubhaft erzählte deutsch-französische Liebesgeschichte.“ Die Zeit
Ein Liebesroman, der zeigt, wie die Liebe Grenzen überwindet und damit auch den Grundstein für eine völkerverbindende Freundschaft legt.
- Von der Autorin der Schwarzwald-Saga „Beerensommer“
Leseprobe zu „Geliebte Berthe“
Brot
Der kleine Marienkäfer kroch mit winzigen trippelnden Schritten über ihren Arm, schob sich über den hellen Flaum der Härchen und verharrte kurz in der Armbeuge.
Er ist müde, so wie ich, dachte sie und stellte sich vor, dass er jetzt von den kleinen Schweißperlen trinken würde, die ihren Körper überzogen wie ein klebriger Film. Sie hielt den Atem ganz ruhig und ließ sich von der Menge schieben, die in kleinen Wellen nach vorn drängte, eine graue Schlange, in der sich die Gesichter auflösten. Bertha packte die Henkeltasche fester, man musste aufpassen, [...]
Brot
Der kleine Marienkäfer kroch mit winzigen trippelnden Schritten über ihren Arm, schob sich über den hellen Flaum der Härchen und verharrte kurz in der Armbeuge.
Er ist müde, so wie ich, dachte sie und stellte sich vor, dass er jetzt von den kleinen Schweißperlen trinken würde, die ihren Körper überzogen wie ein klebriger Film. Sie hielt den Atem ganz ruhig und ließ sich von der Menge schieben, die in kleinen Wellen nach vorn drängte, eine graue Schlange, in der sich die Gesichter auflösten. Bertha packte die Henkeltasche fester, man musste aufpassen, vorsichtig sein, auch wenn das knisternde Papier in der Tasche tatsächlich nur noch Papier war und kein Geld mehr, wie noch vor einiger Zeit. Wenn sie Glück hatte, bekam sie nachher ein Brot dafür und bei Stollenmaier um die Ecke etwas Mehl, Salz und – Höhepunkt des Glücks – ein paar Eier. Man musste schnell sein, sonst war dieses Papier noch viel weniger wert und man bekam gar nichts mehr.
„Was ist denn los da vorn, warum geht’s nicht weiter?“, rief plötzlich jemand und die Schlange gab ein dumpfes Echo zurück: „… weiter … weiter …“
Vielleicht kaufte einer da vorn das restliche Brot auf, das taten manche, um es dann noch teurer weiterzuverkaufen. Oder man tauschte etwas ein, ein Schmuckstück vielleicht oder eine Uhr … Züge fuhren am Wochenende hinaus aufs Land, Züge, an denen Menschen hingen, hungrig und hoffnungsvoll, um den Bauern ein paar Lebensmittel abzubetteln. Sie hatten Silberbesteck dabei, Teppiche … wertvolle Dinge und man bekam vielleicht ein Stück Wurst dafür und war glücklich, für den Moment jedenfalls.
Es waren schwere Zeiten in diesem Sommer des Jahres 1923, in dem die Inflation das Geld auffraß – so schnell wie die heiße Julisonne die Spuren des Platzregens wegdampfte, der am Morgen niedergegangen war.
Bertha Merkle hatte keinen Schmuck und kein Silberbesteck, sie hatte zwei fleißige Hände, die unverdrossen arbeiteten, aber mit dem, was sie jetzt dafür bekam, konnte sie unmöglich überleben. In der Tasche befand sich ihr Wochenlohn. Die vielen Scheine passten in keine Lohntüte mehr, man stopfte das Geld in die Tasche und dann rannte man los, zur Bäckerei Eisele beispielsweise, um noch irgendetwas zu ergattern.
„Jetzt kostet’s schon 11 000 Mark“, flüsterte jemand aus der Schlange.
„Wer sagt das?“, fragte eine heisere Stimme ungeduldig zurück.
„Hab ich gerade gehört …“
„Ja Himmelherrgottsakrament … und wenn’s nicht langt, steh ich umsonst da. Kauft da wieder einer zu viel?“
„Kauft zu viel …“, kam es als dumpfes Echo zurück und dann erhoben sich einige Stimmen, kreischend, fast überschnappend. „Weiter … weiter … für jeden nur ein Brot!“
Was passiert bloß mit einem, wenn man Hunger hat, dachte Bertha müde. Die Sonne brannte unablässig und sie musste aufpassen, dass sie keinen Sonnenbrand bekam mit ihrer milchweißen Haut. Weiße Haut und brandrote Haare – Feuer und Schnee – hatte der Vater immer gesagt.
„Bist eine ganz hitzige und trotzdem so kühl im Denken und Handeln.“
„Ist das gut, Vater?“, hatte sie als junges Mädchen ungeduldig gefragt. Wenigstens etwas Gutes musste sie doch von diesen vermaledeiten roten Haaren haben. Die anderen Kinder hatten sie immerzu gehänselt: „Rotfuchs, Rotfuchs …!“ Und manchmal schossen sie mit Papierkügelchen nach ihr und schrien: „Der Fuchs ist tot, der Fuchs ist tot“, und hatten gebrüllt vor Lachen.
Aber der Vater hatte sie immer wieder getröstet. „Das ist das Allerbeste, Bertha, hörst du, das Allerbeste! Ein heißes Herz und ein klarer Verstand … müssen sich nur immer die Waagschale halten.“
Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie jetzt an diesen Moment dachte, als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. „Meine Bertha, Feuer und Schnee …“ Er war schon so hinfällig gewesen, hatte müde und abgekämpft auf dem alten durchgesessenen Sofa gelegen … Sie würde diesen Moment nie vergessen, wie er zärtlich über ihre Haare gestrichen hatte. Ihre Feuerhaare.
Murrend schob sich die Schlange vorwärts.
„11 000 Mark für ein Schwarzbrot … und das Weißbrot ist nochmals 2000 Mark teurer …“, murmelte es dumpf. Wer konnte sich das schon leisten?
„Weißbrot“, flüsterte Bertha und ließ das Wort nachhallen, als wollte sie noch einmal den Geschmack beschwören. Wie oft in ihrem Leben hatte sie Weißbrot gegessen? Das konnte man an einer Hand abzählen. Das letzte Mal war es bei der Konfirmation von Paula, der Stiefschwester, gewesen. Zwei Jahre war das jetzt her und der Vater war schon sehr krank gewesen. Das duftende Brot war zerkrümelt unter den zitternden, gichtigen Fingern und nur wenige Krumen hatte er genießen können.
Wie gern würde ich ihm jetzt ein Weißbrot kaufen, dachte Bertha. Sie mühte sich, die Tränen zurückzuhalten und ließ sich willenlos vorwärtsschieben, wie ein Tier, dessen Wille aufgefressen worden war von einer unbestimmten Angst und das nur noch eines wollte: leben, überleben um jeden Preis.
Eine kleine, schmale Frau mit müden Augen, die hinter ihr in der Reihe stand, zupfte sie am Ärmel. „Das ist Ihnen gerade heruntergefallen, als Sie Ihr Taschentuch herausgeholt haben.“
Bertha starrte auf das weiße Kärtchen, das ihr die Frau entgegenstreckte. Du lieber Himmel, wenn sie die verloren hätte … Andererseits wusste sie aber die Adresse auswendig. Aber es wäre ein schlechtes Zeichen gewesen. Schnell glitten die Hände in die Tasche des grauen Arbeitskleides. Gott sei Dank, der Empfehlungsbrief von der Tante war noch da. Das war das Wichtigste!
Sie bedankte sich herzlich und steckte die Karte wieder zum Brief.
Die Frau musterte sie neugierig. Für einen Moment blieb ihr Blick an Berthas Haaren hängen. „Sie müssen aufpassen, mit der Sonne, meine ich.“
Bertha lächelte etwas gezwungen. Die Frau meinte es ja gut. „Ja schon. Aber was bleibt einem anderes übrig?“
„Schlimme Zeiten sind das.“
„Ganz schlimm“, bestätigte Bertha. „Wir haben halt den Krieg verloren.“
„Und unsereins hat ihn doppelt und dreifach verloren“, ergänzte die Frau bitter. „Mein Mann kann nicht mehr richtig sehen, das Gas, wissen Sie. Und jetzt kriegt er kaum etwas vom Staat. Und dafür hat er seinen Kopf hingehalten. Eine Schande ist das.“ Sie hatte etwas lauter gesprochen, und man konnte zustimmendes Gemurmel hören. Die Frau schien gewillt, ihr Schwätzchen mit Bertha fortzusetzen. „War von Ihrer Familie auch jemand im Krieg?“
„Mein Bruder“, antwortete Bertha einsilbig. Darüber wollte sie nicht so gern sprechen.
Aber die Frau ließ nicht locker. „Und – wie geht’s ihm?“
„Ganz gut so weit. Ist unverletzt zurückgekommen.“ So ganz stimmte das nicht, dachte sie, äußerlich war wirklich nichts, aber es war trotzdem etwas passiert mit Georg. Doch das konnte sie nicht sagen.
„Dann hat er Glück gehabt. Wo war er denn?“
„In Frankreich. Bei Verdun.“
„Da war es am schlimmsten.“
Wieder das Gewisper der Umstehenden, das wie ein Echo die letzten Worte zurückwarf: „… am schlimmsten …“
Eine aufgeregte Stimme rief dazwischen: „Die verfluchten Franzmänner!“
„Halt’s Maul“, sagte ein älterer Mann, der einen Henkelkorb fest umklammert hielt, „das waren genauso arme Schweine wie wir.“
„Schon. Aber was hocken sie jetzt im Rheinland? Und unser Geld ist nichts mehr wert und wir haben nichts zu fressen.“
Für einen Augenblick war es still, vielleicht hatte das Wort „fressen“ den Menschen wieder ins Bewusstsein gerufen, warum sie hier standen. Prompt schob sich die Schlange ein kleines Stückchen nach vorn. Der Krieg war auf einmal vergessen, man wollte dem Brot näher kommen, dem ersehnten Brot, das war jetzt wichtiger.
„Sie kommen aber nicht von hier?“, fragte die Frau nach einer Weile.
Bertha blinzelte. Einige Schweißtropfen waren in ihre Augenwinkel geflossen, das brannte. Dennoch musste sie lächeln: „Hört man das immer noch?“
Die Frau sagte ausweichend: „Wie lange sind Sie denn schon hier?“
„Ungefähr anderthalb Jahre. Ich komme von der Alb, aus einem kleinen Dorf. Der Vater ist gestorben und … die Stiefmutter bewirtschaftet das Gütle.“
Die Frau lächelte pfiffig. „Da kann’s eng werden.“
Bertha schämte sich. Warum erzählte sie einer Wildfremden das alles? Vielleicht weil es guttat, wenn jemand zuhörte. Hier in der großen Stadt interessierte sich niemand für die Geschichten, an denen einer trug. Da zählten andere Dinge. So dachte wohl auch die Frau, denn sie fragte gleich nach: „Wo schaffen Sie denn hier?“
„Beim Bosch.“
„Da haben Sie’s gut erwischt.“
Berthas Hand glitt wieder in die Kleidertasche. Alles war noch da, das Papier knisterte schon ganz vertraut. Als ob’s Eintrittskarten wären, dachte sie, Eintrittskarten für etwas Neues in ihrem Leben. Aber das konnte sie nicht sagen, denn niemand würde es verstehen.
Die Schlange schob sich wieder vorwärts. Die Frau fiel wieder in ein dumpfes Schweigen zurück, genauso wie die anderen. Je näher man dem Ziel kam, umso drängender war der eine Gedanke, der alle beherrschte: Hoffentlich bekomme ich noch ein Brot.
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