Gebrauchsanweisung für Norwegen
Gebrauchsanweisung für Norwegen — Inhalt
Hurtig auf nach Norwegen!
Ein unvergesslicher Besuch im Land am Golfstrom, wo Bürgersteige beheizt sind, Politiker gern in Tracht erscheinen und es die höchste Lebensqualität der Welt gibt. Die Autorin erklärt, was ein norwegisches „vorspiel“ ist, warum in Norwegen so viele Krimis geschrieben werden, die Königsfamilie unentbehrlich ist und das Landeswappen kein Elch, sondern ein Löwe ziert. Sie nimmt uns mit nach Oslo im Süden und zu den Rentier-Samen im Norden, zum Baden ans Meer und zum Skilaufen in die Berge. Und berichtet, wie das Land nach den Ereignissen auf Utøya mit seiner Haltung weltweit ein Exempel statuierte. Das grundsympathische Porträt eines Landes, das fast 2000 Kilometer lang ist und weniger Einwohner hat als Neu-Delhi.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Norwegen“
Die lauschige Idylle im fernen Norwegen
Wer nach Norwegen reist, will nichts weniger als action and nightlife. Der Urlauber sucht Ruhe, ein Eckchen heile Welt und vor allem unberührte Natur. Kaum einer kommt (nur) wegen der Küche, der Museen oder der Festivals, nur wenige kommen wegen der Norweger. „Ich war zehn Tage in Norwegen wandern und habe die ganze Zeit keine Menschenseele getroffen!“ schildert in aller Regel einen gelungenen Urlaub, während es schwer vorstellbar ist, dass der Satz »Ich war zehn Tage in der Toskana wandern und habe keine [...]
Die lauschige Idylle im fernen Norwegen
Wer nach Norwegen reist, will nichts weniger als action and nightlife. Der Urlauber sucht Ruhe, ein Eckchen heile Welt und vor allem unberührte Natur. Kaum einer kommt (nur) wegen der Küche, der Museen oder der Festivals, nur wenige kommen wegen der Norweger. „Ich war zehn Tage in Norwegen wandern und habe die ganze Zeit keine Menschenseele getroffen!“ schildert in aller Regel einen gelungenen Urlaub, während es schwer vorstellbar ist, dass der Satz „Ich war zehn Tage in der Toskana wandern und habe keine Menschenseele getroffen!“ etwas anderes einleiten kann als die Beschreibung einer ziemlichen Enttäuschung.
Das Idealbild eines unberührten, menschenleeren Freilichtmuseums wird von der norwegischen Tourismusindustrie verständlicherweise gepflegt und gehegt, was dazu führen kann, dass Besucher das Eindringen „echter“ Norweger, Einheimischer also, die weder Fremdenführer noch Hüttenvermieter sind, als unangenehm, ja bedrohlich empfinden. Sie führen sich auf, als gehöre ihnen das alles, und machen das wahre Norwegen kaputt, das man selbst in Erbpacht genommen hat. Im Reiseteil einer deutschen Kleinstadtzeitung kam ein zornbebender Journalist zu Wort, der Norwegen aus tiefstem und reinstem Herzen liebt und es nicht fassen kann, mit welcher Niedertracht sein Refugium von Leuten zerstört wird, die dort wirklich nichts verloren haben:
„Alles hatte den Charme von gestern, vorgestern, dem vorigen Jahrhundert. Eine Ansammlung von verwitterten Blockhütten, ein einziges Berggasthaus hat überlebt, wo drei Hotels aufgegeben haben: eine lauschige Idylle im fernen Norwegen, wo man nichts tun kann außer Skilanglauf, den aber ausgiebig. Skilangläufer gehen abends nicht auf die Walz, sie sind froh, früh im Bett zu sein, um am nächsten Morgen wieder fit in die Loipe zu gehen. Das war zwanzig Jahre so. Und es war gut so. Dieses Jahr aber hat die Zivilisation ausgeholt, das norwegische Idyll zu vereinnahmen: Ein neu gebautes Blockhäuschen am andern dokumentiert den Drang neureicher Norweger aus der Hauptstadt Oslo, ihren neuen Reichtum nicht allein mit ihrer eigenen Ölbohrinsel in der Nordsee und ihrer riesigen Jacht im Hafen öffentlich zur Schau zu stellen. Sie wollen in ihrem Bekanntenkreis noch eins draufsetzen mit ihrem Ferienhäuschen dort im Gebirge, wo zwanzig Jahre die wenigen Ortsansässigen und ein paar Touristen unter sich waren … So erfährt man als Tourist zum ersten Mal das Gefühl, das den einstigen Helden der Jugendzeit, James Fenimore Coopers unvergessenen Lederstrumpf, beseelt haben muss, als ihn im fernen Westen der USA die beginnende Zivilisation zu umzingeln begann: Man sieht ihrem Vordringen fassungslos zu und versteht die Welt nicht mehr.“
Die Welt kann ich ihm nicht erklären. Aber ich erzähle gern etwas über ein Land, das eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft hat. Dieses Land ist weder „idyllisch“ noch „lauschig“. Von Mitternachtssonne und ekstatischem Naturerleben wird ebenso wenig die Rede sein wie – beispielsweise – von dem Triumvirat Ibsen, Munch und Grieg, das bis heute die Fahne der norwegischen Kultur hochhalten muss, als habe es nach ihnen nichts Lohnendes mehr gegeben.
Die Wahrheit, meinte Ingeborg Bachmann, sei dem Menschen zumutbar.
Dem Norwegenreisenden auch.
Etwas zum Problem Humor
Humor ist nicht das Erste, woran man bei Norwegern denkt, aber das ist ungerechtfertigt. Früher lachten sie über Schwedenwitze: „Wie luchst man einem Schweden auf dem Flug nach London einen Fensterplatz ab? Man sagt ihm, dass nur die Gangplätze bis London gehen.“ Die Schweden revanchierten sich mit Norwegerwitzen wie der Lautsprecherdurchsage auf dem Stockholmer Flughafen Arlanda: „Reisende nach Oslo, bitte stellen Sie Ihre Uhren um fünfzig Jahre zurück.“
Dergleichen kommt einem bekannt vor, diese Albernheiten kursierten in Deutschland über Ostfriesen und zuvor jahrzehntelang in den USA über polnische Einwanderer. In Norwegen werden Schwedenwitze nur noch von Schulkindern erzählt. Dieser oder jener Erwachsene mag darüber noch lächeln, ansonsten aber zeichnen die Norweger sich durch Ironie, Selbstironie und feinen Humor aus.
Eine Zeit lang verlieh die norwegische Botschaft in Berlin einen „Goldenen Lachs“ an Menschen, „die dazu beigetragen haben, Norwegen bekannt zu machen und Sympathien zu schaffen“. 2002 war die Preisträgerin Sandra Maischberger, Anlass war ihr Fernsehinterview mit Kronprinz Haakon und seiner Frau Mette-Marit. Über dieses Interview wurde nicht nur in Deutschland und Norwegen, sondern in vielen Ländern ausgiebig berichtet, weil Mette-Marit während der Aufnahmen so heftig von der Sonne und einem fehlerhaften Scheinwerfer bestrahlt worden war, dass sie Gesichtsverbrennungen davontrug.
Der damalige Botschafter betonte, selbstverständlich erhalte Maischberger den Preis nicht für diese „Leistung“. Aber das Missgeschick habe nichtsdestotrotz große Medienaufmerksamkeit bekommen und so für Norwegen geworben. Die Zeitungsberichte darüber entsprächen einem Wert von mehreren Millionen Kronen, eine PR-Arbeit, die der Botschaft angesichts ihres notorisch klammen Werbeetats sehr gelegen gekommen sei.
Die Regierung in Oslo war konsterniert, die Herrschaften im Schloss ebenso. Ehrlich gesagt: die ganz besonders. Man war not amused. Dabei war bei der Preisverleihung ein besonders schönes und passendes Lied gespielt worden, das obendrein von der norwegischen Stargruppe a-ha stammte: The sun always shines on TV. Aber auch das konnte es nicht rausreißen. Gerüchten zufolge wurde der Botschafter nicht nur aus Berlin abgezogen, sondern sogar gedrängt, den diplomatischen Dienst zu verlassen. Beides wurde von offiziellen Stellen entschieden dementiert.
Nun gut. Das war vielleicht doch kein besonders gutes Beispiel für den Humor der Norweger.
Erste Lernschritte
Der Osloer Flughafen Gardermoen ist sehr schön. Er ist aus einheimischen Materialien wie Granit, Schiefer und Holz erbaut – Materialien also, die man eher in Einfamilienhäusern der gehobenen Preisklasse erwarten würde. Die Konstruktion vermittelt ein Gefühl von Geräumigkeit, Leichtigkeit, rätselhafterweise aber auch von Verankerung. Man verbinde mit dem Bauwerk „Ruhe“, „Klarheit“, „Übersichtlichkeit“ sowie eine „besondere Lichtfülle“, schreibt die norwegische Architekturhistorikerin Ingerid Helsing Almaas. Sie findet die Wortwahl „bezeichnend. Sie beschreibt nicht nur die räumlichen Ideale der Gebäude, sie zeichnet auch ein Bild des idealisierten norwegischen Bürgers: gut organisiert, offen, einfach, dabei voller Vertrauen in die Authentizität lokaler Erfahrungen, vom nördlichen Licht erhellt, von Holz und Stein gestärkt. Mit seiner geschwungenen Laminatholzdecke begrüßt das Terminalgebäude die Welt wie ein betuchter und großzügiger Gastgeber – wohlmeinend, elegant, nach der letzten Mode gekleidet, das Beste, was das kleine Land zu bieten hat.“ Die Zeiten, als ein schwedischer SAS-Präsident Oslos Flugplatz – den Gardermoen-Vorgänger Fornebu – als „Cafeteria mit Landebahn“ verspotten konnte, sind lange vorbei.
Vom nördlichen Licht erhellt. Und zwar vom ersten Moment an, denn man verlässt das Flugzeug durch einen Glastunnel und findet sich nicht in einem neonbeleuchteten, ortlosen Airport-Land wieder, sondern an einem Ort, der noch nicht Oslo ist, aber bereits dessen Licht und Wetter hat. Wer aufmerksam ist, kann ab jetzt, also vom ersten Moment an, einiges über Norwegen lernen:
1. Der Weg zum Koffer führt lange an einer Glaswand entlang, auf einem Steg, hoch über den Abfluggates und den dort wartenden Abreisenden. Auf der einen Seite sieht man die Wartenden, auf der anderen Seite geht der Blick auf einen Wald jenseits des Rollfelds, der während der Bauarbeiten mit großem Aufwand bewahrt wurde. Während man so vor sich hingeht, kann man über das Reisen, über Ankommen und Abfahren nachdenken und die Aussicht genießen. Glücklich ist, wer sein Handgepäck nicht tragen muss, denn in der Zeit, die man zum Ausgang unterwegs ist, absolviert man in anderen europäischen Ländern einen Sonntagsspaziergang. Wir lernen: In Norwegen wandert man in der Höhe, denkt nach und guckt auf Natur.
Natürlich gibt es ein paar Meter Rollband. Die dienen aber nur dem Nachweis, dass man dergleichen in Norwegen kennt. Man ist nicht rückständig. Man läuft einfach gern.
2. Im Parterre angekommen, durchschreitet man eine Schleuse und steht – in einem riesigen Wein- und Spirituosenhandel mit integrierter Parfümerie und Süßwarenladen. Der Weg zum Koffer führt mitten hindurch. Am Sortiment erkennen Sie, dass der Norweger als solcher Rotwein liebt. Was Sie nicht sehen, aber jetzt von mir erfahren: Oslo hat Europas größte Duty-Free-Läden, sie finanzieren im Grunde den Flughafen.
3. In der Ankunftshalle kommt man an mehreren Kiosken vorbei. Hier könnte man lernen, dass Norwegen sehr viele Tageszeitungen hat. Das aber geht unter, weil man nur die Zeitungen mit extrem überschaubaren Titelseiten sieht, deren Schrift und Bild etwa dreimal so groß sind wie bei der deutschen Bild-Zeitung. Auf die erste Seite passen kaum mehr als eine Vier-Wort-Überschrift und ein großes Foto. So entsteht der (falsche) Eindruck: Hier leben extrem kurzsichtige Menschen.
4. Spätestens wenn man für die zwanzigminütige Zugfahrt in die Stadt die geforderten 200 Kronen bezahlt hat, fällt einem wieder ein, dass Oslo eine der teuersten Städte der Welt ist. Ab sofort sollte man jedes Umrechnen in eine vertrautere Währung unterlassen. Das macht schlechte Laune und ändert nichts.
5. Zwanzig Minuten vor Oslo fährt der Zug an Feldern und Bauernhöfen vorbei. Zehn Minuten vor Oslo immer noch. Von Industriegebieten oder Suburbia keine Spur. Man fragt sich, ob die norwegische Hauptstadt sehr klein ist oder vielleicht ganz woanders liegt. Die Wahrheit ist: Die Ackerflächen, Weiden und Pferdekoppeln, die man vor dem Fenster sieht, sind Oslo.
Dann taucht der Zug in einen Tunnel. Kein besonderer Tunnel, eben lang genug, um anzudeuten, dass sich die Norweger auf Tunnelbau verstehen. Der dezente Hinweis lautet: Wir haben sehr viele Tunnels. Wer eine Tunnelphobie hat, hat jetzt noch Zeit zum Umkehren.
6. Man geht, man sitzt, man schaut sich um. Irgendwann wird einem bewusst, dass viele junge Norwegerinnen tatsächlich sehr blond und sehr schön sind. Die jungen Männer sind auch blond und schön – aber die Frauen fallen eben mehr auf. Wie überall.
Die Tragödie
Oslo, im Juni 2011. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg, der Schriftsteller Jo Nesbø sowie ein weiterer Freund radeln durch die Stadt. Ihnen folgen, ebenfalls auf Rädern, zwei Leibwächter. Das Grüppchen hält an einer roten Ampel, neben ihnen wartet außerdem ein Auto auf grünes Licht. Durch das offene Fenster ruft dessen Fahrer dem Ministerpräsidenten zu: „Jens! Hier ist ein kleiner Junge, der es cool fände, dir mal Guten Tag zu sagen!“ Stoltenberg lächelt, schüttelt dem kleinen Jungen auf dem Rücksitz die Hand und sagt: „Guten Tag, ich heiße Jens.“
Jo Nesbø hat diese kleine Begebenheit in der New York Times erzählt: „Der Ministerpräsident trägt einen Fahrradhelm, der Junge einen Sicherheitsgurt; sie haben an einer roten Ampel angehalten. Die Leibwächter stehen dahinter, in diskretem Abstand. Lächelnd. Ein Bild von Sicherheit und gegenseitigem Vertrauen. Ein Bild der normalen, idyllischen Gesellschaft, die wir alle für selbstverständlich hielten. Wie sollte da etwas schiefgehen? Wir trugen Fahrradhelme und Sicherheitsgurte, wir beachteten die Verkehrsregeln.“
Wenig später ging etwas wirklich furchtbar schief. Am 22. Juli 2011, um 15 Uhr 25, explodierte vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten eine Autobombe. Teile des Regierungsgeländes in der Osloer Innenstadt wurden verwüstet, acht Menschen starben. Auf die Täter und deren Motive gab es keinerlei Hinweise. Wenig später sprach Ministerpräsident Stoltenberg im Fernsehen von dem „größten Verbrechen, das Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg“ getroffen habe. Man wisse nicht, wer dafür verantwortlich sei, es sei aber „in einer solchen Stunde wichtig, für das einzustehen, woran wir glauben. Sie werden uns nicht zerstören. Wenn es darauf ankommt, wird die norwegische Demokratie stärker.“
In die ersten chaotischen Berichte platzte die Nachricht, dass es im Sommerlager der Sozialdemokratischen Jugend auf der Insel Utøya eine Schießerei gegeben habe. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 69 Menschen geradezu hingerichtet worden, zahllose waren verletzt. Die ersten Polizisten kamen mehr als eine Stunde nach dem ersten Hilferuf auf die Insel. Der Täter ließ sich bereitwillig festnehmen, er habe die Morde und den Bombenanschlag jahrelang vorbereitet, sie seien „grausam, aber notwendig“ gewesen, um Norwegen vor „Kulturmarxismus und Islamisierung“ zu bewahren.
Regierungschef Jens Stoltenberg beharrte weiter darauf, dass man auf diese ungeheure Tragödie mit mehr Demokratie und mehr Freiheit reagieren müsse. Und erwies sich als großer Staatsmann, indem er zunächst ostentativ nichts tat – jedenfalls nichts, was auch nur im Entferntesten als politische Tat zu werten gewesen wäre. Was er (sichtbar) tat, war vor allem das: Er umarmte die Überlebenden der Anschläge und die Angehörigen der Ermordeten, weinte mit ihnen, sprach mit ihnen. Er mahnte immer wieder: „Halten wir inne, nehmen wir uns Zeit, zu trauern.“ Seine Reaktion war das Gegenteil von dem, was spätestens seit dem 11. September 2001 die Regel ist: Führungskraft demonstrieren und etwas tun. Vor allem das: etwas tun.
Es war eine Sensation, die weltweit Aufsehen erregte und verwirrte: In einer der größten Krisen seines Landes nahm ein Regierungschef sich das Recht, innezuhalten. Nichts zu tun. Zum Nichtstun aufzufordern. Eine weitere Sensation war, dass 96 Prozent der Norweger das nicht als Führungsschwäche interpretierten, sondern als eine besonnene Art der Krisenbewältigung, die sie befürworteten. Sie wussten, dass Stoltenberg Betroffenheit und Trauer nicht spielte. Er hatte Mitarbeiter verloren, und er kannte die Familien einiger ermordeter Kinder und Jugendlicher. Auch die Königsfamilie war unmittelbar betroffen, denn unter den Toten war ein Stiefbruder von Kronprinzessin Mette-Marit.
Dieses Nichthandeln spiegelte die Sprachlosigkeit und Lähmung der ganzen Nation, es beruhigte die Norweger und bestätigte sie in ihrem tiefen Vertrauen in ihren Staat: Wenn wir ihn wirklich brauchen, ist er für uns da. Wir werden von Menschen regiert, die gar nicht so anders sind als wir. Sie sahen ihren König mit hochrotem Kopf weinen und fühlten sich getröstet, denn alle weinten, trauerten, waren vor Entsetzen gelähmt.
„Unsere Jugendlichen sind nicht dafür gestorben, dass wir mehr hassen“, sagte der Leiter der Sozialdemokratischen Jugend, der viele Freunde verloren hatte, Wörter wie „Teufel“, „Monster“ oder „Killerbestie“ blieben ausländischen Medien vorbehalten. Drei andere Wörter – der Name des Mörders – fielen fast nur in den Medien. Die Norweger hingegen weigerten sich lange, seinen Namen auszusprechen, und boykottierten Zeitungen, die sein Bild auf der Titelseite hatten. Es war die intuitive Reaktion darauf, einem nach Medienaufmerksamkeit gierenden Mann zu verweigern, wonach er sich am meisten sehnte.
Dass es ein gezielter Angriff auf die Sozialdemokraten und somit ein politisches Attentat war, sprach niemand aus, und es wurde heruntergespielt, dass der Mörder eine Zeit lang Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei gewesen war. Stattdessen einigten sich alle Parteien sofort darauf, die Geschehnisse nicht in Politik umzumünzen. Die Botschaft lautete: Der Angriff galt uns allen. Wir stehen zusammen, die Trauer eint uns. Demonstrativ besuchten der Kronprinz, der Außenminister, Oslos Bürgermeister und der Bischof von Oslo eine große Osloer Moschee, der Außenminister zitierte Tröstendes aus dem Koran, der Bischof sagte, das norwegische Volk sei eine vielfältige Gemeinschaft in Trauer. Königshaus, Regierung und Geistliche führten praktisch vor, worauf es ankommt: Wir lassen uns nicht aufhetzen und nicht spalten. Rückblickend kann man vielleicht sagen, dass sie in diesen Tagen anfingen, sich um die Lösung eines weitreichenden und schwierigen gesellschaftlichen Problems zu bemühen, das der Schriftsteller Karl Ove Knausgård später so beschrieb: „Man kann Hass nicht verbieten. Man kann nur dafür sorgen, dass der Abstand zwischen denen, die hassen, und der Gesellschaft, die sie hassen, nicht gefährlich groß wird.“
Drei Tage nach den Anschlägen fanden im ganzen Land Gedenkfeiern statt. Es wurde nicht geschrien, es wurden keine aufpeitschenden Reden gehalten. Es herrschte Stille, alle hatten Rosen dabei. Seit dem Kriegsende im Mai 1945 waren nicht mehr so viele Menschen gleichzeitig auf der Straße gewesen, 200 000 sollen es allein in Oslo gewesen sein, in einem entlegenen Weiler an der Westküste waren es acht. Als Stoltenberg seine Rede vor den 200 000 Osloern (und der Nation) mit den Worten schloss: „Unsere Mütter und Väter haben gesagt: ›Nie mehr 9. April!‹ Wir sagen: ›Nie mehr 22. Juli!‹“, verstand ihn jedes Kind. Kein Ereignis in der norwegischen Geschichte hat die Nation so tief und so dauerhaft traumatisiert wie der deutsche Überfall vom 9. April 1940. Was er meinte, war also: Damals standen wir gegen den übermächtigen Feind zusammen, wir sind gestärkt aus den Zeiten des Leids hervorgegangen. So wird es auch diesmal sein. Wir haben eine Zukunft. Er sagte: „Engagiert euch. Setzt euch ein. Werdet Mitglied in Organisationen. Beteiligt euch an Debatten. Geht wählen.“
Das taten sie.
Alle Parteien erlebten einen Zustrom neuer Mitglieder, vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eine Überlebende von Utøya sagte, sie werde politisch weiterkämpfen, auch für ihre vielen toten Freunde. Und sie werde beim Prozess vor den Mörder treten. „Ich werde ihm in die Augen sehen und sagen: ›Du wolltest uns zerstören, aber du hast uns stärker gemacht. Du hast verloren.‹“
Die Anschläge haben das Land verändert. Die Polizei wurde grundlegend reformiert, weil den Einsatzkräften am 22. Juli gravierende Versäumnisse und Pannen unterlaufen waren; dennoch versehen die allermeisten Polizisten ihren Dienst weiterhin unbewaffnet. Politiker haben mehr Personenschutz, öffentliche Gebäude sind stärker gesichert, viele Bürger finden die neuen Regelungen zum Schutz ihrer Politiker nicht umfassend genug. Das Gebot absoluter Meinungsfreiheit, das jedem zugesteht, sich unzensiert zu äußern, steht auf dem Prüfstand. Inzwischen gibt es auf Utøya ein Denkmal, um die Gestaltung eines weiteren wird seit geraumer Zeit und nicht immer würdig gestritten.
Die Stadt Oslo ist unwiderruflich gezeichnet. Beschädigte Gebäude sollen wiederhergestellt, andere abgerissen und neu gebaut werden. Dies ist das Zentrum des demokratischen Norwegens, die Symbolkraft der Projekte könnte nicht größer sein. Entsprechend kontrovers geht es zu.
Der Täter hat 77 Menschen ermordet, Hunderten schwerste körperliche und seelische Schäden zugefügt, Zahllosen einen geliebten Menschen genommen. Er wurde nach einem mustergültigen Prozess zu lebenslanger – das heißt in Norwegen: maximal 21 Jahren – Haft verurteilt. Er sitzt in Isolationshaft und hat keinen Kontakt zu anderen Gefangenen.
„Utøya“, wie der 22. Juli 2011 genannt wird, hat einen bleibenden Schatten auf Norwegen geworfen, aber die Norweger erstaunlicherweise nicht erkennbar ängstlicher gemacht. Politiker und die Königsfamilie mischen sich (vermutlich zum Kummer ihrer Leibwächter) weiterhin unter das Volk, das Königspaar fährt in einer Limousine durch Oslo, die – wie alle – an der roten Ampel hält. Das Land kämpft darum, eine offene Gesellschaft und ein offenes Land zu bleiben. Der Täter soll nicht den Sieg davontragen, die Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen zerstört zu haben, von denen Jo Nesbø sprach. Niemand, sagte Kronprinz Haakon, könne die Anschläge vom 22. Juli ungeschehen machen, „aber wir können wählen, was sie mit uns machen“.
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