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Gebrauchsanweisung für Dresden

Gebrauchsanweisung für Dresden

Christine von Brühl
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2. aktualisierte Auflage 2014

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Gebrauchsanweisung für Dresden — Inhalt

Dresden, das Barockjuwel mit den geputzten Sandsteinhäusern und der großartigen Museumslandschaft: Christine von Brühl, Urururururenkelin des Ministers unter August dem Starken und Erbauers der Brühl‘schen Terrasse, spürt den Highlights nach. Den alten Meistern, den besten Kneipen in der Äußeren Neustadt und der einzig wahren Rezeptur für Stollen. Sie weiß, was es mit der „Zitronenpresse“ auf sich hat und dass sich Pfunds Molkerei völlig zu Recht als schönster Milchladen der Welt rühmt. Warum Sächsisch eher als Gesang denn als Dialekt zu gelten hat. Und sie lädt ein, das Umland zu erkunden: Meißen mit seinem Weißen Gold, die Kletterrouten im Elbsandsteingebirge, Schloss Moritzburg, Pillnitz und Radebeul, wo die echten Indianer zu Hause sind.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 17.09.2012
208 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95824-0
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Dresden“

Statt einer Einleitung:
Was haben die Brühls mit Dresden zu tun?

Wenn ich an Dresden denke, wird mir warm ums Herz. Ich denke an die zauberhaften Bauten im leichtfüßig-tänzerischen sächsischen Barock, Häuser aus gelbbraunem Sandstein, an die prächtige Komposition von Semperoper, Zwinger, Schloss und Hofkirche, wie sie sich elegant um die Elbe gruppieren, geschickt gerade an der Stelle vereint, wo der Fluss eine Biegung macht, was lebendig und anmutig wirkt. Ich denke an die breiten Flussauen, große Wiesenflächen, gänzlich unbebautes Land mitten in der [...]

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Statt einer Einleitung:
Was haben die Brühls mit Dresden zu tun?

Wenn ich an Dresden denke, wird mir warm ums Herz. Ich denke an die zauberhaften Bauten im leichtfüßig-tänzerischen sächsischen Barock, Häuser aus gelbbraunem Sandstein, an die prächtige Komposition von Semperoper, Zwinger, Schloss und Hofkirche, wie sie sich elegant um die Elbe gruppieren, geschickt gerade an der Stelle vereint, wo der Fluss eine Biegung macht, was lebendig und anmutig wirkt. Ich denke an die breiten Flussauen, große Wiesenflächen, gänzlich unbebautes Land mitten in der Stadt. Grün sind sie fast während des ganzen Jahres, wild gehalten, unberührt. Ich denke an das sanfte Licht, in das die Stadt bei Sonnenschein getaucht ist. Besonders abends leuchten Fenster und Dächer, die orientalische Kuppel über der ehemaligen Tabakfabrik Yenidze oder das bunte Relief am Finanzministerium schräg gegenüber in goldenem Glanz. Momente wie aus Samt und Seide. Nicht dem Barock und der anmutigen Lage verdankt die Stadt den Namen Elbflorenz – es ist wohl dieses Licht, das einem unvermittelt das Gefühl gibt, man sei in Italien.
Als ich zum ersten Mal nach Dresden kam, war es bitterkalt. Januar 1990, große Eisplacken schwammen auf der Elbe. Ich kam mit meinem Bruder und Freunden, wir besuchten das Grüne Gewölbe, gingen in die Semperoper, zogen durch die Stadt, ein wenig verdattert, verwirrt, erstaunt darüber, dass alles so einfach ging. Wir hatten keine Freunde oder Verwandte in der Stadt, es gab keine echte Verbindung. Uns fehlten vierzig Jahre deutsche Geschichte.
Trotz der Kälte fiel mir der Zauber auf, der über der Stadt liegt. Sie wirkte märchenhaft, vergessen und gleichzeitig lebendig. Verheißungsvoll. Die Bauten sahen aus, als hätte hier ein ausgelassenes Fest stattgefunden, als habe überall Musik gespielt und die Menschen hätten selbstverständlich auf den Straßen getanzt. Es schien noch gar nicht lange her zu sein. Und es würde auch nicht viel fehlen, das Fest wieder in Gang zu setzen.
Inzwischen ist Dresden eine glänzende, strahlende Stadt, lärmend möchte man fast sagen, doch das wäre eine Übertreibung. Zahlreiche Bauten, nicht zuletzt die Frauenkirche, wurden wiederhergestellt, der Sandstein geputzt, die Dächer instand gesetzt. Fleißige Hände schlossen die leeren Fensterlöcher an Schloss und Taschenbergpalais, durch die der graue Winterhimmel damals zu sehen war; die Räume dahinter bergen herrliche Ausstellungen oder vornehme Gästezimmer. Die kleinen Bäume und Sträucher, die auf den Ruinen wuchsen, sind aus dem Stadtbild verschwunden, unendlich viele Neubauten entstanden. Die alten Villen, die man kaum sah, weil sich ihr Mauerwerk so verdunkelt hatte, wurden sandgestrahlt oder neu gestrichen, die Außentreppen, die elegant geschwungenen Balustraden und Balkone repariert oder ersetzt. Wenn man nicht wüsste, wie alt die Häuser sind, könnte man meinen, sie seien gerade erst hier hingestellt worden.
Doch wie sieht es mit meiner Beziehung zu Dresden aus? Ich habe hier nach der Wende einige Jahre gelebt und gearbeitet, halte mich in regelmäßigen Abständen in der Stadt auf, aber gibt es eine echte Verbindung? Besonders zu Anfang wunderte ich mich oft darüber, wie herzlich der Empfang bei den meisten Dresdnern war. Was brachte sie dazu? Was habe ich persönlich mit der Stadt am Hut?
„Sie heißen Brühl, Sie sind historisch“, erklärte mir ein Freund. Alles, was in Dresden Geschichte ist, mache die Dresdner glücklich.
Ich sah ihn ungläubig an. Bin ich eine Sandsteintreppe? Tanze ich wie die Fama auf der „Zitronenpresse“, der imposantesten Kuppel Dresdens, über den Dächern der Stadt?
Geboren bin ich in Accra, der Hauptstadt von Ghana. Mein Vater war Diplomat. Bald nach meiner Geburt ging es nach London, später Brüssel und Warschau. Abitur machte ich in Bonn, dann arbeitete ich in Singapur, studierte in Lublin, Mainz, Heidelberg und Wien Slawistik und Geschichte und promovierte über Anton Čechovs Dramenwerk. Wenn mich einer nach der Schreibweise meines Nachnamens fragte, sagte ich: „Brühl, wie die Stadt bei Köln, wie Phantasialand.“ Dresden war weit weg.
Ich hatte keine Ahnung, wie die berühmte Terrasse, die denselben Namen wie ich trägt, eigentlich aussah. Ich stellte mir eine gewöhnliche Terrasse vor, den befestigten Teil des Gartens, der direkt an das Haus anschließt. Da wo die Liegestühle stehen, damit sie nicht im Rasen versinken. Hinter unserem Haus in Bonn gab es so etwas, es maß etwa drei mal fünf Meter und bestand aus Platten von Waschbeton. Bevor Gäste kamen, fegte meine Mutter mit einem struppigen Gartenbesen den Sand von den Steinen.
Erst der grauhaarige Bibliothekar, der in Heidelberg hoch oben unter dem Dach des Instituts für Slawistik eine kleine Studentenbücherei unterhielt, klärte mich auf. Er sprang auf, als er meinen Namen las, ging, so schnell es die Dachschrägen erlaubten, in den hintersten Teil des Bücherzimmers, beugte sich hinunter und zog aus dem letzten Regal einen schweren Bildband. „Sie heißen Brühl und wissen nicht, wie die Brühlsche Terrasse aussieht?“
Der Band enthielt Fotos von Dresden, sie waren schwarzweiß, unspektakulär. Der Mann stammte selbst aus Dresden, er zeigte mir die Stufen unweit der Stelle, wo ehemals das Belvedere stand, auf denen er, wie er lächelnd erzählte, mit seiner Mutter oft in der Sonne gesessen hatte. Bei ihm weckten die Bilder Erinnerungen. Mir kamen sie altmodisch vor, als gäbe es die Zeit, in der sie entstanden waren, ja vielleicht sogar den ganzen Ort nicht mehr.
Was ich 1990 in Dresden vorfand, war alles andere als das, was ich erwartet hatte. Ich stieg die breiten Stufen zur Brühlschen Terrasse hinauf und befand mich auf einer erhöhten Elbuferpromenade, einem breiten, mehrere Hundert Meter langen, großzügig gestaltetem Areal mit Bänken und Bäumen, Treppen und Skulpturen und mit einem kleinen Park, verschlungenen Pfaden und schrägen Ebenen. Man kann hier das halbe Stadtzentrum abschreiten, vom äußersten Winkel aus geht der Blick weit über die Elbe, bei gutem Wetter bis ins Sandsteingebirge. Mit ein paar Platten Waschbeton hinterm Haus hatte das wahrlich nichts zu tun.
Die Bezeichnung Terrasse oder gar Balkon – die Brühlsche Terrasse wurde im 19. Jahrhundert als „Balkon Europas“ gepriesen – ist in der Tat nur zu verstehen, wenn man sich die Freitreppe, die zu ihr hinaufführt, wegdenkt. Die Stufen wurden erst im 19. Jahrhundert angebaut. Auch die vielen Menschen, die dort heute lustwandeln, muss man nach Möglichkeit übersehen. Zu Zeiten von meinem Vorfahren Heinrich Graf von Brühl, Minister bei August II. dem Starken und Premier bei August III., war die Terrasse kein öffentlicher Spazierraum. Auch lang nach seinem Tod und dem Bau der Treppe durfte man sie nur mittwochs, also einmal die Woche, und in angemessener Kleidung betreten.
Sie war ein privater Garten, den man nur von Brühls Palais aus erreichen konnte. Das Palais stand dort, wo heute das Ständehaus ist. Man betrat es ebenerdig und stieg hinauf in den ersten Stock, in die Empfangsräume und prächtigen Salons im feinsten Dresdner Rokoko. Direkt hinter dem Haus befand sich die Mauer, die zu der wuchtigen Befestigungsanlage der Stadt gehörte. Da Dresden über die Grenzen der Anlage hinaus gewachsen war, hatte Brühl den König gebeten, ihm die alten Mauern zu schenken. Der König hatte zugestimmt, und sein Minister hatte die Zwischenräume mit Sand und Schotter auffüllen, Erde aufschütten und Gras säen lassen, hatte Blumen und Büsche gepflanzt. Eine schmale Brücke, die heute noch zu sehen ist, verband das Palais mit dem Garten.
Großartig muß man sagen, einfach phantastisch. Auch später, als der König seinem Minister den Rest der ehemaligen Verteidigungsanlage schenkte und Brühl seinen Privatgarten, sein innerstädtisches Territorium großzügig ausweitete – für Dresden war das nicht schlecht. Bis heute bestimmt die Terrasse maßgeblich die Kulisse der Stadt. Sie passt sich harmonisch in das große Ganze ein, ja, sie verbindet die einzelnen durchaus unterschiedlichen Bauten zu einem friedlichen Ensemble. Es wirkt wie aus einem Guss, als habe man es von Anfang an so geplant.
Doch vertraut war mir diese Brühlsche Terrasse nicht, und sie ist es nie geworden. Dort gibt es naturgemäß keinen privaten Raum, keinen Platz, an den ich persönliche Verbindungen knüpfen könnte. Oft musste ich auf der Terrasse für irgendwelche Fototermine oder anderen Blödsinn auf und ab marschieren, sollte mit der Hand über das Geländer streichen, versonnen in die Ferne blicken. Mit mir selbst hatte das alles wenig zu tun.
Sächsisch ist in meiner Familie höchstens meine Mutter. Meine Großmutter hieß Schönburg, und meine Mutter wurde in Wechselburg bei Glauchau geboren. Doch bald nach der Entbindung reiste meine Großmutter in ihr neues Zuhause, nach Bad Waldsee bei Ravensburg, und meine Mutter wuchs selbstverständlich mit ihren vielen Geschwistern im Schwäbischen auf. Dort, bei den geliebten Großeltern, verbrachten auch wir viele Sommer. In welcher Stadt auch immer mein Vater gerade auf Posten war, in den goldwarmen Juli- oder Augustwochen zog es meine Mutter in ihre Heimatstadt.
Die Großmutter erzählte viel von Wechselburg, doch vor der Wende waren wir nie dort. Meine Mutter erwähnte hin und wieder Quarkkeulchen, ihr Sächsisch hat sie bis heute nicht verlernt. Manchmal sei sie als Kind elegant mit der Mutter in Dresden einkaufen gegangen, erzählt sie.
Ich kannte auch eine Tante, die wir selten sahen, die berichtete, sie habe drei Jahre lang in Dresden die Haushaltsschule besucht. Sie nannte Namen wie Prager Straße, Altmarkt und Neumarkt. Sie erzählte auch vom Großen Garten, aber das war eine andere Zeit. Damals war Dresden noch nicht einmal zerstört.


Mein Vater, seine Geschwister, der Großvater väterlicherseits – die erzählten von Ostpreußen. Dort war mein Großvater Landrat in Allenstein, heute: Olsztyn und später Regierungsrat in Schneidemühl, heute: Piła. Er war der dritte Sohn in der Familie, ein Nachgeborener. Er erbte nicht, sondern ging in den Staatsdienst. Mein Vater wuchs mit seinen drei Geschwistern in Ostpreußen auf, zu seiner Geburt fuhr die Mutter ins Krankenhaus nach Königsberg.
Im Sommer reiste die Familie nach Pförten in die Nähe von Forst, zu dem wahrlich prächtigen Besitz der Brühls. Das Schloss steht heute kurz hinter der polnischen Grenze und ist ziemlich zerstört. Heinrich Graf von Brühl, mein Vorfahre, hatte es erworben, um auf seinen Reisen zwischen Dresden und Warschau bequem Zwischenhalt machen zu können. Mein Vater erzählt von großen Jagden und feierlichen Festen, von stillen Kutschfahrten mit dem Pferdewagen durch unendlich große Wälder. Die Räder seien geräuschlos über den festen Sandboden gerollt. Hier begegnete er auch dem Schwanenservice, dem sagenumwobenen Meißner Porzellan aus dem 18. Jahrhundert, das Johann Joachim Kaendler im Auftrag des Ministers gefertigt hatte. Nur an sehr hohen Festtagen wurde es aus dem Keller geholt. Einmal, bei einer großen Hochzeit, sei die Tafel komplett mit dem herrlichen Porzellan gedeckt gewesen.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Die Brühls sind geflohen und haben im Krieg alles verloren. Mein persönlicher Bezug zu Dresden, ja der zwischen den Brühls und Dresden, bleibt bruchstückhaft.
Unverbrüchlich ist die Verbindung zu Heinrich Graf von Brühl, dem Premierminister Augusts des Dritten, dem Mann, der als Page an den Hof Augusts des Zweiten, der Starke genannt, gelangte und damit seine steile Karriere zum einflussreichsten Mann am sächsischen Hof begann. Er lebte von 1700 bis 1763, war mit Marianne Kolowrat-Krakowský verheiratet, und zwischen ihm und mir liegen sechs Generationen. Er ist also, wer es genau wissen will, mein Ur-ur-ur-ur-ur-Großvater. Sein jeweils ältester Nachkomme hieß Friedrich mit Vornamen. Da mein Großvater nicht der älteste war, wurde er Georg getauft.
Wir nannten ihn Opa – seine Frau starb lang vor meiner Geburt – und hingen sehr an ihm. Da meine Eltern spät geheiratet hatten, war er einfach immer schon sehr alt. Er war stocktaub, bekam eine dicke Backe, wenn er Tomaten aß, und hatte eine dünne, blasse Haut. Unabhängig von derlei Malaisen konnte er mit der Wünschelrute gehen und herausfinden, wo unter der Erde Wasseradern verlaufen, was durchaus praktisch war, denn da wir fortlaufend umzogen, galt es in jeder neuen Bleibe herauszufinden, wo man die Betten hinstellt.
Außerdem besaß er eine goldene Taschenuhr, die er mit verblüffender Ähnlichkeit zu dem Märzhasen in Alices Wunderland mehrfach täglich aus der Westentasche zog, um in Seelenruhe die Zeit abzulesen. Er ging ausführlich spazieren und kannte alle Bäume mit Namen. Er wurde weit über neunzig, las viel, lebte oft bei uns; zu seiner Beerdigung bekamen wir schulfrei. Doch auch das hat mit Dresden im Grunde nichts zu tun.
Was mich letztlich für immer in die prächtige Elbestadt führte, werde ich nie genau sagen können. Es hatte zunächst durchaus pragmatische Gründe: Dresden war aus meiner Perspektive der Osten. Der Osten hatte für mich viel mit Polen zu tun. Dort hatte ich gerne gelebt. Das Einzige, was mich jenseits der Grenze irritierte, war die fremde Sprache, so gut ich sie auch beherrschte. Wie sollte ich da schreiben, wie sollte ich Journalistin werden? Dresden gab mir die großartige Chance, im Osten und gleichzeitig im deutschen Sprachraum zu leben.
Hinzu kam das Grüne Gewölbe. Ein Freund hatte mir an einem Winterabend, in seinem bescheidenen Heidelberger Studierzimmer, ein Buch über die Schatzkammer Augusts des Starken gezeigt. Die Fotos darin waren farbig, das Gold glänzte, die Edelsteine funkelten. Angesichts der kostbaren Schätze gingen mir die Augen über. Das wollte ich in natura sehen.
Kaum war es gestattet, ohne Visum und Zwangsumtausch in die DDR zu fahren, stiegen wir ins Auto und reisten nach Dresden. Dort angekommen, gingen wir als Erstes ins Grüne Gewölbe. Die Originale waren weitaus besser als ihre Abbildung in unserem Buch. Uns blieb, gelinde gesagt, die Spucke weg.
Ich bewarb mich umgehend bei den lokalen Zeitungsredaktionen um ein Praktikum und zog im September 1991 in die Dresdner Neustadt.
Ich blieb nicht lang allein. Ein Jahr später folgte meine Schwester mit Mann und Kind, später die Vettern und andere Verwandte. Eine Kusine bestand die Aufnahmeprüfung an der Palucca-Schule, der Hochschule für Tanz.
Inzwischen, das muss ich zugeben, hat nicht nur der Name Brühl, auch die Familie Brühl, meine Familie, durchaus etwas mit Dresden zu tun. Wir haben zahlreiche Verbindungen geknüpft, Freundschaften geschlossen, Eindrücke, Geschichten und Erinnerungen gesammelt. Auch wenn keiner von uns, nicht einmal unsere Eltern, hier geboren wurden, niemand aus der DDR stammt oder gar Besitzansprüche hegt, obwohl wir alle kein Sächsisch sprechen und unsere Kenntnisse der sächsischen Kultur und Geschichte unter Umständen Lücken aufweisen, fühlen wir uns durchaus Dresden verbunden.
Was meine Biografie und meine Identität prägt, ist das Zigeunerhafte, das Unbehaustsein. Doch Dresden traf mich mitten ins Herz. Es hat mir so gut gefallen, dass ich sesshaft wurde.



Machen Sie einen Rundgang im Herzen der Stadt - oder nehmen Sie wenigstens ein Sonnenbad auf der Brühlschen Terrasse

Nach Dresden zu reisen ist kinderleicht. Aus jeder Himmelsrichtung führt eine Autobahn dorthin, mindestens ebenso viele Eisenbahnstrecken passieren Dresden, es gibt auch einen internationalen Flughafen, auf dem pausenlos Flugzeuge landen oder starten, und, nicht zuletzt, die Elbe. Wer mag, kann schon in Hamburg ein Schiff besteigen und in einer langen Reise zu Wasser an Magdeburg, Lutherstadt Wittenberg und Torgau vorbei gemütlich in die sächsische Landeshauptstadt schippern. Diese Fahrt ist allerdings eher etwas für den Ruhestand. Benjamin Henrichs, wunderbarer und beispielloser Theaterkritiker, einst bei der Zeit, war davon so gelangweilt, dass er die Reise mitten im schönsten Reportagefluss abbrach und das Schiff fluchtartig verließ.
Dresdens zentrale Lage erkannte schon im 19. Jahrhundert der galizische Kaufmann und Zigarettenhersteller Joseph Huppmann und gründete hier eine Niederlassung. Das Elbklima eignete sich hervorragend zur Lagerung von Rohtabak. Tabak konnte man günstig per Schiff aus Hamburg oder per Bahn aus dem Orient und vom Balkan beziehen, die fertigen Zigaretten wiederum eilten auf dem Schienenweg in alle Himmelsrichtungen, beispielsweise über Wien und Triest direkt nach Italien.
Huppmann blieb nicht allein. Dresden wurde, wer würde das heute denken, zum Zentrum und Hauptsitz der Zigarettenproduktion und des Rohtabakhandels in Deutschland. Von dieser florierenden Industrie kündet die weithin sichtbare Yenidze, die 1909 im Stil einer Moschee erbaute Zigarettenfabrik an der Eisenbahnstrecke von Dresden-Neustadt zum Hauptbahnhof. Heute werden unter ihrer bunt schimmernden Kuppel Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen.
Wer mit der Bahn nach Dresden fährt und aus Berlin kommt, sollte an Emil Tischbein aus Erich Kästners „Emil und die Detektive “ denken, der auf derselben Strecke, allerdings in umgekehrter Richtung von Dresden nach Berlin reiste und unterwegs so grässlich im Schlaf von Herrn Grundeis bestohlen wurde.
Die Strecke ist in der Tat eintönig, Felder und Wiesen fliegen vorbei, ab und zu ein Waldstück, das Land ist flach und monoton. Kein Wunder, dass Emil eingeschlafen ist. Auch unser Reisender könnte sich gut und gern ein Nickerchen genehmigen, denn wenn der Zug ein Intercity ist, hält er ab Berlin-Südkreuz nicht mehr an, und auch bestohlen wird man nicht mehr, denn Herr Grundeis wurde dank Emil und seiner Detektive dingfest gemacht. Außerdem reist es sich heutzutage schneller. Keine zwei Stunden dauert es, dann ist man schon in Dresden, Dresden-Neustadt wohlgemerkt, aber hier stieg Emil damals ein, begleitet von seiner furchtbar rührenden, weil so aufgeregten Mutter, und hier kann man getrost aussteigen, denn der Neustädter Bahnhof ist der eigentliche Bahnhof von Dresden.
Wer Gepäck hat, gibt den Koffer in ein Schließfach und marschiert schnurstracks aus dem Bahnhof hinaus. Hier heißt es allerdings kurz innehalten und der wundersamen Tatsache gedenken, dass 1839 von diesem Bahnhof der erste deutsche Fernzug startete, denn das ist typisch für Dresden. Das wird man hier in den nächsten Tagen noch oft erleben, dass Dresden mit irgendeinem Tatbestand an erster Stelle steht. Hier wurde die erste Lokomotive gebaut und auch der Teebeutel erfunden und noch vieles andere mehr. Doch dazu später. Der erste Fernzug fuhr übrigens von Dresden nach Leipzig, also nicht allzu weit, aber immerhin. Ein bescheidenes Emailleschild an der Hauswand des Bahnhofs verweist darauf.
Innehalten ist sowieso nicht schlecht, denn schließlich sind wir am Ziel, und das möchte man ja einen Augenblick genießen. Endlich in Dresden. Dann aber los, auf die Socken und am besten Richtung Albertplatz. Von dort geht es geradewegs, vorbei an Brunnengeplätscher und unter lauschigen Platanen, über die Augustusbrücke zu Schloss, Semperoper, Zwinger und Brühlscher Terrasse mitten ins Herz der Stadt.
Doch halt: Wenn unser Dresden-Besuch schon wie Emils Berlinfahrt am Neustädter Bahnhof beginnt, dann sollten wir auch kurz an Erich Kästner denken, der schließlich hier in der Neustadt geboren und rund um den Albertplatz aufgewachsen ist, der nicht nur berühmte und wunderbare Kinderbücher wie „Emil und die Detektive“ oder „Pünktchen und Anton“ schrieb, sondern vor allem auch Gedichte, „seelisch verwendbare“ Gedichte, wie er sie selbst nannte.
Eine Sammlung dieser Lyrik schrieb Teofila, damals noch Langnas, im Warschauer Ghetto eigenhändig ab, um sie ihrem Bräutigam und späteren Ehemann Marcel Reich-Ranicki zum 21. Geburtstag zu schenken. Das kleine Heft, versehen mit Teofilas eigenen Illustrationen und Gedichten Kästners wie „Das Eisenbahngleichnis“, „Moral“ oder „Kennst Du das Land wo die Kanonen blühn?“, half den beiden, Ghetto, Flucht, Verfolgung und Vertreibung zu überstehen. Sie trugen es bei sich, lasen sich gegenseitig daraus vor, und es gab ihnen mehr Trost als irgendwelche Heine-, Goethe- oder Rilkeverse.
Auf Kästners (und Emils) Spuren kann man hier vielerorts wandeln, in dem Haus Königsbrücker 66, der Straße, die von Norden kommend auf den Albertplatz mündet, ist er geboren, 1901 zog er mit den Eltern in das Haus Nummer 48, in der Nummer 38 überlebten die Eltern die Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, und im „Turnverein für Neu- und Antonstadt“ auf der Alaunstraße 36/40, die ebenfalls, aber weiter östlich auf den Albertplatz mündet, trieb er begeistert Sport. Da dieses Haus in der Bombennacht zerstört wurde, baute man ein neues, den heutigen Jugendklub „Scheune“.
In dem Blumenladen Stammnitz in der Louisenstraße 21 kauften sowohl Erich Kästner als auch Emil Tischbein (womöglich hin und wieder auch Emil Kästner, Erichs Vater) Blumen, Emil Tischbein die Blumen für seine Tante in Berlin. Auch diesen Blumenladen gibt es heute noch.
Wer vom Neustädter Bahnhof zum Albertplatz kommt, biegt um das Grundstück der Villa Antonstraße 1, die Kästners Onkel, dem Pferdehändler Franz Augustin, ab 1915 gehörte. Heute befindet sich hier das Erich-Kästner-Museum. Oben auf der Gartenmauer sitzt eine Gestalt aus Bronze. Die Zeilen darunter sind ein Zitat aus Kästners Lebensbeschreibungen „Als ich ein kleiner Junge war“: „Am liebsten hockte ich dann auf der Gartenmauer und schaute dem Leben und Treiben auf dem Albertplatz zu.“
Jetzt aber endlich auf die andere Elbseite zu einem kleinen Rundgang durch und um das Herz der Stadt. Vorbei, wie gesagt, an den beliebtesten Dresdner Brunnen „Stilles Wasser“ und „Stürmische Wogen“ von Robert Diez, meines Erachtens weniger beliebt wegen der kunstvoll gefertigten Skulpturen, sondern deshalb, weil man in den großen Becken im Sommer so herrlich baden kann.
Ah, schon befinden wir uns mitten in Italien, Elbflorenz lässt grüßen. Das erinnert uns doch an „La dolce vita“ und Anita Ekberg, wie sie in überschäumendem Übermut und zum Entzücken von Marcello Mastroianni im Fontana di Trevi herumplanscht. Hach, wie wunderbar. Gleich geht die Sonne auf. Das ist der Geruch von Rom, das südliche Licht, die mediterrane Hitze. Wahrscheinlich war Fellini halber Dresdner.
Doch dazu gehört mehr. Die Dresdner baden nicht nur in ihren Brunnen, sie haben auch großartige Schwimmbecken, wie das Arnholdbad im Zentrum, das Bilzbad in Radebeul. Oder das Waldbad in Klotzsche, zu dem sie bevorzugt entlang der Prießnitz durch lauschigen Forst spazieren, beziehungsweise rennen ( joggen!) oder mitten in lauer Sommernacht mit Fahrrad oder Mofa brausen, über den Zaun klettern und ein Bad im Mondlicht nehmen. Letzteres ist selbstredend streng verboten.
Einige Wahnsinnige versammeln sich auch Jahr für Jahr im Januar, um in verrückter Verkleidung bei Eiseskälte in die Elbe zu springen. Ich weiß, das glaubt mir kein Mensch, doch Januar, Verkleidung, Elbe – das sind die Fakten. Ich schwöre, das habe ich mir nicht ausgedacht. Und die Gutsten, wie man hierzulande sagt, belassen es nicht beim Springen, sondern schwimmen gemeinsam und konspirativ sozusagen mindestens eine Elbbrücke weit. Da schüttelt es einen schon beim Lesen, auch Zuschauen ist kaum zu ertragen. Dresden liegt eben nicht nur in der Nähe von Italien, sondern auch unweit von Sibirien.
Vorbei an den Brunnen auf dem Albertplatz geht es auf der Hauptstraße unter schattigen Platanen, die die unansehnlichen Häuser dahinter zum Glück verbergen, geradewegs auf den Goldenen Reiter zu. Da ich schon einiges über Erich Kästner und Dresdner Badeleidenschaften erzählt habe, spare ich mir Ausführlichkeiten zu dieser protzigen Statue. Es ist sowieso nur eine Angeberei von August dem Starken. Dabei hat er gar nicht mehr erlebt, wie sie aufgestellt wurde, nur noch die Fertigstellung des Modells. Interessant daran ist nur, mit welcher Akribie der dicke Reiter regelmäßig renoviert – bei der letzten Erneuerung wurde innen ein Kanalsystem angelegt, damit das Kondenswasser abfließen kann –, neu vergoldet und vor allem geputzt und gewienert wird. In der Stadtverwaltung ist jemand ausdrücklich dafür verantwortlich, dass der Pferdepopo, diese edle Kruppe, nicht nur golden ist, sondern auch so glänzt.
Dieser Eifer steht für die Tatsache, dass sich Dresden mit Vorliebe in den Errungenschaften des augusteischen 18. Jahrhunderts sonnt, dem sogenannten Goldenen Zeitalter. Obwohl oder weil das offensichtlich ist, gibt es gerade darüber nicht enden wollende Diskussionen. Warum sollte man sich, wenn man im 20. und 21. Jahrhundert eine Stadt wiederaufbaut, die 1945 vollkommen zerstört war, ausschließlich an einigen wenigen Jahrzehnten der gesamten Geschichte der Stadt orientieren? Das Goldene Zeitalter hat Dresden in der Tat nachhaltig geprägt und mit den Bauten und Kunstschätzen aus dieser Zeit weit über alle Grenzen bekannt gemacht, aber es gab auch andere große, gute Zeiten in dieser Stadt. Gerade bei der Rekonstruktion des Schlosses, ein Bau, der weit über fünfhundert Jahre auf dem Buckel hat – die Burganlage, die zuvor an der Stelle stand, wurde gar um 1200 errichtet –, musste man sich fragen, in welcher Fassung man ihn heute rekonstruiert.
Faszinierend, mit welcher Vehemenz die Dresdner sich in die Diskussion einmischen. In kaum einer Stadt gibt es so viele Hobbyhistoriker und Spezialisten in Sachen Geschichte wie hier, und zwar bis in die Details. Unglaublich, wie stark die Informationsveranstaltungen zu Umbauten, Neubauten, Restaurierungsarbeiten an den Herzstücken wie Schloss, Zwinger, Frauenkirche frequentiert und besucht werden. Meist platzt der Saal, in dem die Veranstaltung stattfindet, aus allen Nähten. Die Diskussionen, die bei knapper und sauerstoffarmer Luft geführt werden, sind leidenschaftlich und furchtbar ernst. Und sie halten an, draußen auf der Straße, auf dem langen Nachhauseweg und bis in die heimatliche Küche. Da werden kluge Bücher herausgezerrt, wilde Zeichnungen angefertigt, lautstark Zitate vorgetragen. Kein Ende ist in Sicht.

Christine von Brühl

Über Christine von Brühl

Biografie

Christine von Brühl, 1962 geboren, ist eine direkte Nachfahrin von Heinrich Graf Brühl. Nach dem Studium zog sie 1991 nach Dresden. Sie schrieb unter anderem für die „Sächsische Zeitung“ und die „Welt am Sonntag“. Seit 2002 lebt Christine von Brühl als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin;...

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