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Europäisch für Anfänger

Europäisch für Anfänger

Stephen Clarke
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Roman

„Herrlich, einfach nur herrlich schräg.“ - literaturmarkt.info

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Europäisch für Anfänger — Inhalt

Paul West im Herzen Europas - Ein Brexit-Roman

Der Engländer Paul West wird nach Brüssel gerufen: Seine launische ehemalige Geliebte, Élodie, arbeitet für die EU. Sie braucht seine Hilfe – angeblich soll er verhindern, dass Großbritannien sich für den Brexit entscheidet. Paul weiß zwar nicht so recht, wie er zur EU steht, aber die Stelle ist gut bezahlt, und er braucht das Geld. Also nimmt er den Job begeistert an, doch schnell wird klar, dass Élodie etwas verheimlicht. Verfolgt sie womöglich ganz andere Ziele? Gemeinsam mit seiner klugen und attraktiven Kollegin Manon versucht Paul herauszufinden, welche Rolle er und sein Land wirklich in Brüssel spielen ...

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Übersetzt von: Ingo Herzke
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97616-9
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Leseprobe zu „Europäisch für Anfänger“

1


„Euroscheine können Männer impotent machen.“
Britische Pressemeldung, 2002


„Gewalttätige Biester, diese Austern“, sagte der Engländer. Ich wusste nicht, wieso er mir das erzählte. Wir tranken bloß nebeneinander an einer Theke in Brüssel.
„Gewalttätig?“, fragte ich nach.
„Brutal“, sagte er. „Fies.“
„Wirklich?“ Meine bisherigen Begegnungen mit Austern waren alle ziemlich einseitig verlaufen und hatten meist mit einem 12 : 0-Sieg für mich geendet. „Meinen Sie, weil man sich die Fingerspitzen zerschreddern kann, wenn man sie eigenhändig zu öffnen versucht?“, [...]

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1


„Euroscheine können Männer impotent machen.“
Britische Pressemeldung, 2002


„Gewalttätige Biester, diese Austern“, sagte der Engländer. Ich wusste nicht, wieso er mir das erzählte. Wir tranken bloß nebeneinander an einer Theke in Brüssel.
„Gewalttätig?“, fragte ich nach.
„Brutal“, sagte er. „Fies.“
„Wirklich?“ Meine bisherigen Begegnungen mit Austern waren alle ziemlich einseitig verlaufen und hatten meist mit einem 12 : 0-Sieg für mich geendet. „Meinen Sie, weil man sich die Fingerspitzen zerschreddern kann, wenn man sie eigenhändig zu öffnen versucht?“, fragte ich.
„Nein, sie sind einfach bösartige kleine Miststücke. Hinterhältig. Wussten Sie das nicht?“
„Nein.“
Ich wandte mich wieder meinem fast leeren Glas zu. Ich hatte keine Lust, dem paranoiden Geschwafel eines Trinkers zuzuhören, der sich von Weichtieren verfolgt fühlte. Doch er stieß mich an und hätte mein Glas beinahe komplett verschüttet.
„Die Leute haben ja keine Ahnung, dass man gar nicht unbedingt von einer schlechten Auster krank wird“, sagte er. „Es kann auch eine gute sein, die man nicht sauber getötet hat.“
„Sauber getötet?“
Ich versuchte mir vorzustellen, wie man das anstellt. Ein Karatehieb ins Genick? Wenn Austern ein Genick hätten. Oder vielleicht mit einer Schrotflinte? Könnte eine ziemliche Sauerei geben.
„Ja, man muss das ganze Ding zu Brei zerkauen, damit es voll und ganz tot ist, bevor man es hinunterschluckt. Wenn nicht, dann rutscht die Auster lebendig in Ihren Darm und stößt munter Antikörper aus, bis sie endlich stirbt.“
Er rülpste. Offenbar wollte sein Verdauungstrakt sich am Gespräch beteiligen.
„Sie wollen also sagen, dass Austern Magen-Darm-Terroristen sind, die mit Selbstmordattentaten die Menschheit zerstören sollen?“, fragte ich.
„Machen Sie sich ruhig lustig“, sagte er, „aber wenn Sie nicht aufpassen, kann eine ganz frische Auster Sie von innen mit ihren Antikörpern tapezieren, und Sie können vierundzwanzig Stunden im Strahl kotzen. Und Sie können auch gleich für immer allergisch bleiben. Wenn Sie dann noch eine Auster essen, reihern Sie sofort den Laden voll.“
„Ist ja reizend.“
„Tut mir leid, aber so sind sie eben. Bösartige, rachsüchtige, schleimige Biester.“
Zum Glück war mir sowieso nicht nach Abendessen. Wir saßen in einer lärmenden Kneipe im Stadtzentrum von Brüssel, und nach mehreren Gläsern eines dickflüssigen, dunkelbraunen, von sadistischen belgischen Mönchen gebrauten Getränks hatte ich nicht mal mehr Appetit auf einen Teller ganz und gar nicht aggressiven Salats. Wirklich nahrhaft, dieses Bier.
„Sie haben selbst schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, nehme ich an?“, fragte ich ihn.
„Ja, aber deshalb will ich sie nicht verbieten.“
„Verbieten?“
„Die kleinen Schleimbatzen für vogelfrei erklären. Eine neue EU-Verordnung, die sie illegal werden lässt.“
„Das ist aber ein bisschen extrem, oder?“, entgegnete ich. „Wenn Europa alles verbieten wollte, wovon wir spucken müssen, wäre Schnaps inzwischen in achtundzwanzig Ländern illegal. Und nachts geöffnete Dönerbuden würden längst der Vergangenheit angehören.“
„Na ja, man müsste sie ja nicht direkt verbieten, aber es doch so gut wie unmöglich machen, sie zu verkaufen. Wir könnten eine neue Richtlinie erlassen, dass Austern vor dem Servieren human und schmerzfrei getötet werden müssen. Sie wissen schon, die Restaurants verdonnern, jede Auster mit einem Stromschlag zu betäuben, ehe sie aufgeklappt wird. Oder man hält sich an die gute alte Gerade-Gurken-Verordnung und lässt nur noch Austern zum Verkauf zu, deren Schalen absolut regelmäßig oval geformt sind. Da würden sich die Froschfresser vor lauter Schreck gleich in ihren Muschelschalen verstecken, meinen Sie nicht?“
„Und Sie können das alles bewerkstelligen?“
„Ich arbeite für einen Europaabgeordneten, der sich für Lebensmittelsicherheit einsetzt. Ich könnte es also versuchen.“
„Junge, Junge.“
Selbst ich wusste schon so viel über Brüssel, dass ich begriff: Europaabgeordnete hatten die Macht, ihren persönlichen Kreuzzügen Gesetzeskraft zu verleihen.
Mein neuer Freund hatte also ganz recht, dass er die Franzosen zum Weinen bringen könnte. Ein Austernembargo würde die Wirtschaft eines beträchtlichen Teils der französischen Küstenregionen erschüttern sowie die Speisekarten einiger sehr gepflegter brasseries in Paris sabotieren.
Und nicht nur in Paris.
„Ich habe auch in London schon viele Leute Austern essen sehen“, sagte ich.
„Ja, so ein paar feine Pinkel, die bei Europawahlen sowieso nicht wählen gehen. Die sind uns egal.“
„Haben Sie das Gleiche mit Miesmuscheln vor?“, fragte ich nach.
„Was, das belgische Nationalgericht verbieten? Das können wir unseren großzügigen Gastgebern doch nicht antun, oder?“ Er lachte gurgelnd mit einem großen Schluck flämischen Bieres im Rachen. „Aber die Sache muss sowieso strikt unter uns bleiben. Sie sind Engländer, richtig?“
„Ja, aber die Europaabgeordnete, für die ich arbeite, ist Französin.“
„Französin?“ Plötzlich setzte er sich kerzengerade hin und glotzte mich an, als jagten ein Dutzend Austern ihre Antikörper direkt in seine Augäpfel. „Französin? Machen Sie Witze?“
„Absolut nicht. Ich lebe eigentlich in Paris und bin nach Brüssel gekommen, um am Schutz bedrohter Regionalsprachen in Frankreich mitzuarbeiten. Sie wissen schon, Bretonisch, Baskisch, Korsisch und dergleichen.“
„Sie sind aber selbst kein Franzose, oder? Sie haben nicht den Pass gewechselt?“
„Nein. Aber die Frau, für die ich arbeite, wäre sicher sehr an Ihrem Plan interessiert, die Auster zu verbieten. Sie ist die Europaabgeordnete für die West-Bretagne.“
„Ach du Scheiße“, stöhnte er.
„Ich glaube, Sie meinen merde“, korrigierte ich ihn. „Es sei denn, Sie wollten Bretonisch sprechen, dann wäre es kaoc’h.“

Ich muss zugeben, dass ich nicht ganz ehrlich zu meinem englischen Freund mit dem losen Mundwerk war. Ich arbeitete gar nicht für eine französische Europaabgeordnete. Jedenfalls noch nicht.
Tatsächlich war ich erst am selben Tag in Brüssel eingetroffen. Ich war auf Einladung meiner Freundin Elodie gekommen, der Tochter meines früheren Chefs in Paris, Jean-Marie. Wenn ich Einladung sage, meine ich eher Marschbefehl:

Habe im Hotel Empereur Napoléon Bonaparte in Brüssel ein Zimmer für Dich reserviert. Ruf mich an, dann erfährst Du mehr.

Ich fragte natürlich nach Einzelheiten, aber sie wollte mir nicht mehr verraten, als dass sie mir einen lachhaft gut bezahlten Job im Bereich bedrohter Sprachen anbieten wollte. Als ich nachfragte, ob ich dafür durch den Amazonasdschungel stapfen müsste, lachte sie und sagte: „Nein, eher durch bretonischen Schweinemist.“ Aber sie schickte mir eine Erste-Klasse-Zugfahrkarte, und jetzt war ich hier in Brüssel – neugierig, aber auch besorgt, ob das nicht eine ganz schlechte Idee war.
Ich versuchte mir einzureden, dass meine Zweifel nur Symptome meiner krassen Undankbarkeit waren. Schließlich hatte Elodie mir eine großzügige Scheibe des EU-Haushalts dafür versprochen, dass ich befristet für sie arbeitete. Worüber machte ich mir Sorgen? Sie hatte mir sogar einen beträchtlichen Vorschuss gezahlt. Was auch immer passieren mochte, es würden ein paar einträgliche Wochen werden.
Das Problem war, dass ich Elodie schon mal aufs Kreuz gelegt hatte – und zwar sowohl wörtlich wie im übertragenen Sinn.
Wir waren (ganz kurz) ein Liebespaar gewesen, aber nur, weil sie ihren papa schockieren wollte, meinen Chef. Ein paar Monate später hatte sie versucht, meinen neuen Job zu sabotieren – ich sollte in den USA für Großbritannien als Urlaubsziel werben. Diese kleine Rivalität endete mit einer heftigen Obstschlacht in Los Angeles, nach der ihr Vater von Kopf bis Fuß mit frischen Erdbeeren beschmiert war. Aber seither hatten wir uns wieder vertragen, und ich hatte sogar das Catering bei ihrer Hochzeit mit einem stinkreichen Pariser Banker übernommen. Ich hoffte also, ihr jetzt vertrauen zu können.
Mein Instinkt sagte mir allerdings, dass ihre Zuverlässigkeit davon abhing, ob ihr Vater Jean-Marie seine Finger im Spiel hatte. Viel zu oft saßen die beiden in der Familienküche und kochten ihr eigenes Süppchen.
Jean-Marie war député (Abgeordneter der Nationalversammlung) für einen ländlichen Wahlkreis in Mayenne, direkt südlich der Normandie. Er hatte die Wahl gewonnen, indem er den lokalen Bauern versprach, sie könnten die ermüdende Arbeit des landwirtschaftlichen Anbaus aufgeben und für den Rest ihres Lebens von den Subventionen leben, die er ihnen in Brüssel besorgen würde. Allerdings versprachen die meisten französischen Politiker ihren Bauern genau das Gleiche, also war Jean-Marie vielleicht gar nicht so schlimm.
Es schien nur logisch, dass Elodie in die politischen Fußstapfen ihres Vaters trat und sich zur Europaabgeordneten wählen ließ. Gab es einen besseren Weg für ihn, die Subventionen für seine Bauern zu beschaffen?
Dennoch gab es zwei Dinge, die mich an ihrem Weg nach Brüssel verwirrten.
Erstens: Wie hatte sie es geschafft, im äußersten Westen der Bretagne gewählt zu werden, wohin sie meines Wissens noch nie auch nur einen Fuß gesetzt hatte?
Und zweitens: Sie hatte an Frankreichs teuerster Wirtschaftsuniversität studiert und vor Kurzem in eine Pariser Privatbankiersfamilie eingeheiratet – warum also wollte sie auf himmelhohe Verdienstmöglichkeiten in der Welt der Vermögensverwaltung verzichten, nach Belgien ziehen und ihr halbes Leben damit verbringen, Debatten über die Mindestfanggröße von Schellfisch oder die Neueinstufung britischer Schokolade als „braunes Zuckerfett“ zu lauschen?
Mir schien fast sicher, dass ihr Vater irgendwie involviert war.

Früh am nächsten Morgen sollte ich es herausfinden. Es wurde also Zeit, der Brüsseler Kneipe und seinem redseligen Thekenhocker „au revoir“ zu sagen, in mein Hotel zurückzukehren und eine Mütze Schlaf zu nehmen.
Das einzige Problem an der Sache war – wie ich merkte, als ich den Ausgang endlich gefunden hatte und auf eine mit Kopfsteinen gepflasterte Nebenstraße hinaustrat –, dass belgisches Bier sich offenbar irgendwo hinter den Kniekehlen sammelt und gerinnt, was das Gehen erstaunlich schwierig macht.
Und um die Sache noch schlimmer zu machen, war durch eine Laune des Brüsseler Wetters der Abend plötzlich sehr unscharf geworden. Ich musste feststellen, dass ich die Straße, in der ich mich befand, nicht kannte und dass ich nicht klar genug sehen konnte, um auf meinem Handy einen Stadtplan aufzurufen. Ich schaffte es nicht mal, mit den Fingern die richtigen Punkte zum Entsperren zu treffen.
Mir ging auf, dass das Bier womöglich stärker als gedacht gewesen war.
Ich hatte immer noch eine vage Vorstellung vom Namen meines Hotels, also brauchte ich nur jemanden nach dem Weg zu fragen. Und da stand auch schon eine freundlich wirkende Frau nur ein paar Meter entfernt an der Straßenecke. Sie schien mich anzulächeln, als wollte sie mir helfen.
„You English?“, rief sie. „Français? Deutsch? Italiano?“
„Ah, hundert Prozent Englisch. Ganz und gar nicht Französisch“, antwortete ich und musste aus irgendeinem Grund lachen.
Sie schien froh zu sein, das zu hören, nach der Art zu urteilen, wie sie ihren üppigen Busen vorstreckte, der, wie ich jetzt bemerkte, von ihrem engen, tief ausgeschnittenen T-Shirt nur halb bedeckt wurde. Auf gefährlich hohen Absätzen stakste sie auf mich zu, und ich fürchtete, sie würde auf dem Kopfsteinpflaster stürzen und sich die Knie aufschlagen, die von ihren winzigen Shorts kein bisschen geschützt wurden.
„Können Sie etwas für mich tun?“, fragte ich sie. „Etwas sehr Nettes?“
„Alles, was Sie wollen“, sagte sie, was wirklich sehr fürsorglich war, wenn man bedenkt, dass wir uns gerade erst kennengelernt hatten.

 

 

2

„Brüssel will Bauern zwingen, Schweinen Spielzeuge zu geben.“
Britische Pressemeldung, 2003


Am nächsten Morgen gab es Grund zur Dankbarkeit, aber nur einen. Als ich aufwachte (oder eher langsam in den Bewusstseinssumpf zurückschleimte), fand ich eine Nachricht von Elodie, dass sie nach Paris zurückmusste und mit etwa acht Stunden Verspätung zu unserem Treffen in Brüssel erscheinen würde. Das war ungeheuer erleichternd, denn mein ganzer Körper schauderte bei dem Gedanken, sich auch nur in die Nähe der Senkrechte zu bewegen, ganz zu schweigen vom Gehen, Denken oder Reden.
Auf der nach oben offenen Katerskala war das hier ein erstaunliches 3D-Erlebnis. Ein ununterbrochener Hagel von Bierflaschen ging auf mich nieder, nach meinem Kopf geworfen von einem stocknüchternen belgischen Mönch. Diese Brüder wussten, wie man das schlechte Gewissen wegen übermäßiger fleischlicher Genüsse anheizt. Noch nie hatte ich so innig um Vergebung gefleht.
Und durch den Schleier der körperlichen Schmerzen drang das vage Gefühl, dass ich nicht bloß auf eine Art gesündigt hatte. Ich hatte viel zu viel getrunken, das war klar, aber hatte ich nicht auch noch eine andere furchtbare Missetat begangen?
Zum Glück hatte mein Gedächtnis offenbar abgeschaltet.
Den ganzen Tag verharrte ich in stöhnender Embryonalstellung, bis ich mich gegen fünf Uhr ins Bad schleppte und mir unter der kalten Dusche Frostbeulen holte. Danach brauchte es nur noch einen vierfachen Espresso, und ich hatte genug Kraft gesammelt, in ein Taxi zu kriechen und den Fahrer anzuflehen, mich so sanft wie möglich zum Bahnhof Bruxelles-Midi zu fahren. Komischer Name, dachte ich: „Mittagsbahnhof“ – fuhren hier bloß zwischen zwölf und eins Züge ab? Gab es auch die Bahnhöfe „Bruxelles-Soir“ und „Bruxelles-Petit-Déjeuner“? Ich beschloss, Elodie danach zu fragen, wenn ich mich nach ihrer Ankunft noch an die Frage erinnern konnte. Ihr Zug aus Paris sollte um Viertel nach sechs eintreffen.
Während das Taxi durch die belebten Straßen zockelte, schloss ich die Augen und versuchte mein Hirn zur Konzentration auf die bevorstehende Aufgabe zu zwingen – nämlich nüchtern, vernünftig und kompetent zu erscheinen. Trotz aller Gefahren einer Verbindung mit Elodie und ihrem Vater brauchte ich doch das Geld. Die Teestube in Paris, deren Anteilseigner ich war, lief ganz gut, aber praktisch sämtliche Gewinne wurden sofort wieder ins Geschäft reinvestiert. Wir hofften außerdem, bald eine zweite Filiale zu eröffnen. Daher stand auf meiner To-Do-Liste ganz oben, die leeren Taschen mit Bargeld zu füllen.

Ich muss wohl ein wenig eingenickt sein, denn als ich die Augen aufschlug, sah ich die Lippen des Fahrers, der offensichtlich zu mir sprach.
„Monsieur, la gare, wir sind erreicht“, hörte ich ihn sagen.
Ich gab ihm ein paar Euro, bat ihn zu warten und bemühte mich, auf dem Weg zum Haupteingang geradeaus zu gehen.
Der neue Teil, wo Elodie ankommen sollte, ließ den Gare du Nord in Paris alt aussehen. Die Einkaufspassage unter den Gleisen war ein bisschen düster, aber das war natürlich für jemanden mit schädelspaltender Migräne eher angenehm. Und sie war kein bisschen schäbig. Die Läden waren schick, der Duft von frischem Gebäck und Schokolade wehte heraus, was noch viel verlockender gewesen wäre, wenn ich keinen Kater der Stärke 9 mit mir herumgetragen hätte. Es gab eine Saftbar und sogar einen Blumenladen. Ein sehr angenehmer Kontrast zum Gare du Nord mit seinen windigen Kaffeebuden voller Taubenschiss und den Bettlerbanden auf der Suche nach offenen Hand- und weiten Hosentaschen. Ich hatte immer den Eindruck, die Franzosen hatten so viele Jahre gejammert, weil London sich als Ausgangsbahnhof für den Eurostar ausgerechnet Waterloo ausgesucht hatte, dass sie dabei ganz vergessen hatten, ihren eigenen Bahnhof ein bisschen aufzuhübschen.
Bruxelles-Midi war gar nicht so schlecht, fand ich. Ich entdeckte sogar eine Bank, auf der niemand wohnte, sodass ich entspannt auf Elodie warten konnte.
Ihr plötzliches Auftauchen am Ende des Bahnsteigs beendete meine kurze Ruhephase. Sie sah ebenfalls aus, als hätte sie getrunken, nur dass es bei ihr eher Kokain-Cocktails gewesen waren. Sie kam auf mich zugestürmt, ihr schwarzer Regenmantel wehte hinter ihr her wie ein Fallschirm. O nein, dachte ich, genau das brauchte ich in meinem prekären Zustand ganz und gar nicht – Elodie im hochtourigen Business-Modus.
Sie sah gut aus, das musste ich zugeben – langbeinig und geschmeidig, der dunkle Rock schmiegte sich liebevoll an ihre Hüften. Die blonden Haare waren zu einem eleganten Pferdeschwanz gebunden und gaben den Blick auf ein Gesicht frei, das seit unserer letzten Begegnung vor etwa einem Jahr gereift war. Ihre roten Lippen wirkten eher entschlossen als sinnlich, und ihre Augenbrauen waren in perfekter Symmetrie gezupft und gelasert.
„Allez, Paul, wach auf, wir kommen zu spät!“
Eines hatte sich also nicht geändert. Sie war immer noch die gleiche unverschämte Zicke.
„Bonsoir, Elodie“, antwortete ich demonstrativ.
„Ach, für diesen ganzen Hallo-Küsschen-Küsschen-Quatsch haben wir im Taxi noch Zeit. Du hast doch ein Taxi bestellt?“
„Natürlich.“
„Also, dann steigen wir ein. Europa zahlt alles, was auf dem Taxameter steht.“
Ich trottete neben ihr her, doppelt so schnell wie mein Körper eigentlich wollte, und dirigierte sie in Richtung des schicken schwarzen Audi mit dem gelben Schachbrettstreifen an der Seite, der vor dem Bahnhof wartete.
Wir vergeudeten ein paar Sekunden damit, dass sie neben der Autotür stand und darauf wartete, dass jemand (moi) sie ihr aufhielt, dann fuhr das Taxi eine schmale, verkehrsberuhigte Straße entlang.
„Weiß er, wo wir hinwollen?“, fauchte Elodie mich an.
„Nein. Weil ich es auch nicht weiß.“
„Und wieso ist er dann schon losgefahren?“
„Ich glaube, das hier ist eine Einbahnstraße.“
„Oh.“ Sie beugte sich vor. „Au parlament européen, s’il vous plaît“, sagte sie beinahe höflich. „Le plus vite possible“, fügte sie mit mädchenhaftem Flehen hinzu, das sie immer einschaltet, wenn es nötig ist.
„Bien, madame“, sagte er und erklärte, es gebe jede Menge Staus, weshalb er eine Route wählen müsse, die nicht wie der direkte Weg aussähe.
„Très bien, très bien“, seufzte Elodie, die sofort wieder zu ihrer üblichen divenhaften Ungeduld zurückschwenkte.
Der Fahrer lenkte uns in ein enges Netz schmaler Gassen. Gelegentlich verwandelte das plötzliche Rütteln des Kopfsteinpflasters meinen Kopf in einen Cocktailshaker, darum versuchte ich mich auf die spannende Erkundung einer unbekannten Stadt zu konzentrieren. Es sah alles irgendwie nach Frankreich aus, aber auch wiederum nicht.
Es schien mir, als hätten Brüssels Architekten den Auftrag bekommen, französische Stile im roten Londoner Backstein nachzubauen und die Pariser Rundungen wegzulassen. Die Steine waren oft in horizontalen Schichten aufeinandergestapelt, wie die Streifen eines geringelten T-Shirts, um die schmalen, nur einen Raum breiten Gebäude massiger wirken zu lassen. Sie waren niedrig und stilistisch eigenständig, nicht wie in den Pariser Straßenzügen aus dem 19. Jahrhundert, wo alle Gebäude mit der gleichen Form gebacken schienen. Hier in Brüssel gab es überall Balkone und Erker, spitze Gotik neben modernen Flachbauten.
Für eine internationale Hauptstadt sah das alles ziemlich niedlich und provinziell aus. Nur die Exklusivität einiger Geschäfte ließ darauf schließen, dass hier der Euro zu Hause ist. Ich nehme an, man braucht schon ein steuerfreies Auslandsgehalt, um manche dieser Schuh- oder Modemarken bezahlen zu können.
In den Seitenstraßen herrschte nicht viel Verkehr, und der Fahrer drosselte seine rasende Fahrt nur, um Fußgänger über die Straße zu lassen, selbst wenn keine rote Ampel ihn dazu zwang. Diese sehr unpariserische Angewohnheit ließ Elodies Empörung überkochen.
„Sind Sie wirklich verpflichtet, an jeder Kreuzung anzuhalten?“, fragte sie in spitzem und knappem Französisch.
„Ja, gesetzlich verpflichtet“, antwortete der Fahrer.
„Aber die Gesetze werden von Leuten wie mir gemacht!“, beschwerte sie sich.
Genau, dachte ich, und ebendieses Verhalten bringt die Leute zu der Ansicht, dass die Brüsseler Bürokratie größenwahnsinnig geworden ist.
Ich merkte, dass der Fahrer Elodie im Rückspiegel ansah.
„Vous êtes français, non?“, fragte er.
„Oui“, entgegnete sie trotzig, als wäre das ein Vorwurf gewesen – was es wahrscheinlich auch war.

Wir kamen auf einem breiten und verstopften Boulevard heraus und fuhren an einem mittelalterlichen Schloss vorbei, das wie die Miniaturausgabe eines französischen Châteaus aussah. Der Stau bot dem Fahrer die Gelegenheit, sich umzuwenden und einen Strom von Informationen über die berühmten französischen Steuerflüchtlinge loszulassen, die schon in seinem Taxi gesessen hatten. Ich hörte Elodie vor Desinteresse ächzen, also ermutigte ich ihn mit einem gelegentlichen neugierigen „Vraiment?“
„Und dann ist da noch eine, sehr berühmt, ist gerade erst diese Woche hergezogen“, sagte er grinsend. „Raten Sie mal. Eine Sängerin.“
„Edith Piaf“, zischte Elodie, und der Name der legendären chanteuse war sicher noch nie mit solcher Heftigkeit ausgespuckt worden, außer vielleicht von jemandem, der sich über ihre zweifelhaften Aktivitäten während der deutschen Besatzung ereiferte.
Der Fahrer begriff den Wink und schwieg schmollend. Ich sah Elodie tadelnd an.
„Das ist seine Schuld“, sagte sie auf Englisch zu mir. „Er soll sich aufs Fahren konzentrieren. Ich komme zu spät.“
„Zu spät wohin? Wir haben eine Verabredung, und ich bin hier.“
„Du meinst, ich würde bloß deinetwegen nach Brüssel düsen, Paul?“ Sie lachte. „Bist du süß. Nein, ich muss mich vor neunzehn Uhr in die Anwesenheitsliste der Abgeordneten eintragen, sonst kriege ich mein Tagegeld für heute nicht. Das sind mehr als dreihundert Euro. Eine arme Europaabgeordnete braucht jeden Cent.“
„Du hast also in Paris den ganzen Tag für die EU gearbeitet, ja?“ Mein Tonfall war noch sarkastischer als eigentlich beabsichtigt, aber Elodie zuckte bloß die Achseln.
„Ich bin Europaabgeordnete. Jeder Atemzug, den ich mache, ist Arbeit für die EU.“ Sie kicherte und sang die Zeile noch einmal nach der berühmten Melodie von The Police: „Every breath I take is working for the EU …“ Der Song ist in Frankreich immer noch sehr populär, und die Franzosen wissen, wie man einen englischen Popsong verhunzt.
Sehnsüchtig blickte ich aus dem Seitenfenster auf die grüne Neonanzeige einer pharmacie, die in Brüssel zugleich apotheek hieß. Ich nahm an, dass die europäische Bürokratie sich auch deshalb hier angesiedelt hatte – die Belgier waren schon an zweisprachige Schilder gewöhnt, bevor sie noch einundzwanzig andere Sprachen draufsatteln mussten.
„Ach, Paul, es ist so erfrischend, dich wiederzusehen.“ Das war ein plötzlicher Freundlichkeitsausbruch von Elodie. „Kein Mensch widerspricht mir so wie du.“ Sie schaute fast liebevoll zu mir herüber. „Aber was hast du denn angestellt? Du siehst schrecklich aus. Hast du getrunken?“
„O nein. Damit habe ich aufgehört“, sagte ich. „Keinen Tropfen mehr seit, aaach …“ Ich wedelte mit der Hand, als wollte ich eine Abstinenzphase von irgendwas zwischen sechs Stunden und sechs Monaten andeuten.
Sie lachte.
„Ehrlich“, sagte ich. „Ich war die ganze Nacht wach und habe unregelmäßige bretonische Verben wiederholt.“
„Da habe ich aber was ganz anderes gehört, Paul. Was war das mit dir und einer Prostituierten?“ Sie grinste vorwurfsvoll.
„Was redest du denn da?“
„Der Hotelmanager hat mich heute im Morgengrauen angerufen und sich über dich beschwert. Also wirklich, Paul, eine Nutte? Hast du gerade keine Freundin? Und wieso hast du sie mit ins Hotel genommen? Ich quartiere alle meine Gäste dort ein.“
Dieses Trommelfeuer von Fragen weckte Erinnerungsfetzen, die mein Kater bisher überlagert hatte. Die Frau an der Straßenecke. Das knappe T-Shirt. Die winzigen Hotpants. O nein, dachte ich, das war doch wohl keine …
„Ich habe sie nicht mit ins Hotel genommen, sie hat mich mitgenommen“, erinnerte ich mich dunkel. „Und ich wollte ganz bestimmt nicht … ich meine, ich würde doch nicht … ich habe noch nie … mit einer …“ Ich musste zugeben, ich klang nicht besonders überzeugend, aber ich war sicher, dass nichts Unziemliches geschehen war, nicht mal mit in belgischem Bier eingelegtem Hirn. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie für Sex bezahlt. Jedenfalls nicht mit Geld. Emotional hatte ich natürlich schon ein Vermögen dafür ausgeben müssen.
„Ich weiß, dass du sie nicht mit aufs Zimmer genommen hast“, sagte Elodie. „Der Nachtportier hat sie aufgehalten.“
„Ach ja, der Nachtportier.“ Das Bild eines wütenden Mannes mit grauer Weste tauchte auf. Dann ein Bild des gleichen Mannes, der plötzlich am Boden lag. „Es war seine eigene Schuld, dass sie ihm eine geknallt hat. Sie war nicht besonders gut drauf. Ich hatte ihr gerade erklärt, dass das alles ein großes Missverständnis war, und dann hat er sich eingemischt. Dabei hatte ich die Situation unter Kontrolle.“
„Unter Kontrolle? Der Hotelmanager hat mir erzählt, du wärst auf Händen und Knien herumgekrochen, und sie habe versucht, dir die Brieftasche aus der Hose zu ziehen. Der Portier hat ihr zwanzig Euro gegeben und sie rausgeworfen.“
„Zwanzig Euro aus meinem Portemonnaie?“
„Du solltest ihm noch fünfzig als Belohnung geben, Paul, das kannst du mir glauben. Wenn eine von diesen Straßenhuren in dein Zimmer gekommen wäre, hättest du jetzt keine Kreditkarte, kein Telefon, keinen Pass und wahrscheinlich auch keinen Schwanz mehr. Die sind gefährlich. Prostitution ist in Belgien zwar legal, aber der Beruf lockt nicht gerade die besten Menschen an. Ich hoffe, du bleibst nüchtern, solange du für mich arbeitest.“
„Ich sage doch, ich habe Abstinenz gelobt“, wiederholte ich. „Und außerdem hast du mir noch gar nicht gesagt, was ich eigentlich mit diesen bedrohten Sprachen anfangen soll.“
„Das erkläre ich später. Wir sind gleich da.“
Die kleine Straße, durch die wir gerade fuhren, sah genauso schäbig-schick aus wie viele andere, durch die wir gekommen waren, nur dass die hier geparkten Autos merklich größer und die Nummernschilder internationaler waren. Dann bogen wir auf eine breite Avenue ein, und plötzlich wurden die Fassaden moderner, verglaster, ausländische Banken wechselten sich mit eleganten Cafés ab.
Wir fuhren auf einen kleinen, offenen Platz, den die Statue eines erschöpft wirkenden Politikers beherrschte. Zu zwei Seiten des Platzes lagen Café-Terrassen, die einer ganzen Meute von Büromenschen Platz boten, männlichen und weiblichen, alle mit Getränken in der Hand und einem Lächeln auf dem Gesicht. Die Arbeit im Europäischen Parlament machte die Beschäftigten offenbar irgendwie ziemlich glücklich.
„Voilà!“, verkündete der Fahrer.
„Merci“, sagte ich an Elodies statt, die wortlos bezahlte, sich die Quittung schnappte und loshetzte. Ihre flachen Absätze klackten, als sie über einen riesigen Vorplatz mit sandfarbenem Boden trabte, ringsum von plakatwandgroßen Fotos umstellt, die erfolgreiche Aktionen der EU dokumentierten. Die abgebildeten dankbaren Euro-Empfänger strahlten sogar noch breiter als die Beamten draußen auf dem Platz.
Auf diesem Vorplatz tummelten sich noch mehr Menschen, die wie Eurokraten aussahen, sie standen in Grüppchen herum oder steuerten auf die Cafés zu. Elodie schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und sprang eine breite Treppe hinauf, die in die sicherlich größte Glaskonstruktion außerhalb der USA oder Dubais führte. Mal ehrlich, wer sich den Auftrag für die Verglasung des Europaparlaments gesichert hatte, konnte sich danach bestimmt sofort auf den Kaiman-Inseln zur Ruhe setzen. Oder eine Fensterputzerfirma gründen.
„Allez, Paul, Bewegung, Bewegung, Bewegung“, blaffte Elodie über die Schulter. Jetzt war sie schon mein Fitnesscoach.
An den ersten Türen musste sie in ihrer Handtasche nach ihrem Ausweis suchen und flehte den Wachmann an, mich mit hineinzulassen, wobei sie eine Mischung aus Autorität und schamlosem Unterlippenbiss einsetzte.
„In zwei Minuten ist er wieder draußen“, versicherte sie dem Mann.
Er zuckte die Achseln, offenbar kaum beeindruckt von falschen Politikerversprechen.
Elodie schubste mich durch eine Drehtür, schleuderte mich beinahe durch einen Metalldetektorbogen, und dann galoppierten wir über den Marmorboden eines weiten Foyers zu einem Empfangstresen, wo sie rutschend zum Stehen kam.
Die Frau hinterm Tresen plauderte freundschaftlich mit dem Mann, den sie gerade bediente, ein leger gekleideter Typ in Jeans – die Sorte Mann, die Elodie nur zu gern herumschubst.
„Entschuldigen Sie, aber es ist dringend“, trötete sie auf Französisch. „Ich bin Europaabgeordnete.“
Der legere Typ drehte sich um und sah Elodie direkt in die aufgerissenen Augen.
„Machen Sie nur“, sagte er auf Englisch, offensichtlich an spitze Pariser Ellenbogen gewöhnt.
„Oui, madame?“, fragte die Empfangsdame.
„Ich möchte mich anmelden. Es ist doch noch vor sieben, n’est-ce pas?“ Elodie hielt ihre Armbanduhr hoch, damit jeder sehen konnte: Sie hatte alles Anrecht auf ihren vollen Tagessatz, weil sie ganze zwei Minuten vor Feierabend zur Arbeit erschienen war.
„Sieben? Europaabgeordnete können sich auch noch später eintragen, Madame“, sagte die Empfangsdame, die ihre Schadenfreude über Elodies sinnlosen Parforceritt nicht ganz verbergen konnte. „Bis elf sogar.“
„Bis elf?“ Elodie klappte die Kinnlade herunter. „Aber ich trage mich immer vor sieben ein. Ich habe mein Abendessen in Paris dafür sausen lassen. Zwar nur mit meinem Mann, aber trotzdem … Wieso informiert uns niemand über solche neuen Richtlinien?“
Wie bei Elodie üblich – im Grunde bei fast allen Franzosen –, war an allem jemand anders schuld.
„Es gibt ein Dokument, Madame“, antwortete die Empfangsdame. Sie drehte sich um, öffnete eine Schranktür hinter sich und knallte ungerührt einen Backstein von Papierstapel auf den Tresen. „Arbeitsbestimmungen für Europaabgeordnete“, sagte sie.
Elodie zuckte zurück, als habe man sie aufgefordert, einen lebendigen Dachs an sich zu nehmen.
„Ich kann doch dieses Ding nicht überallhin mitschleppen“, sagte sie.
„Vielleicht gibt es ja eine Louis-Vuitton-Mappe für solche Regelwerke“, warf ich ein. „Die könntest du dann absetzen.“
Die Empfangsdame warf mir den Anflug eines Lächelns zu.
„Ich könnte sie Ihnen auch als Datei schicken, Madame“, sagte sie.
„Vielen Dank, mein Assistent wird das lesen und mir hilfreiche Informationen weitergeben“, sagte sie und wedelte mit dem Arm in meine Richtung. „Warte hier, während ich mich eintrage“, wies sie mich an. „Ich will dich nicht durch hundert weitere Sicherheitsschleusen mogeln. Warum besorgst du dir in der Zeit nicht einen Besucherausweis?“
Sie ließ mich neben dem Mann stehen, den sie aus ihrem Leben geschubst hatte. Ein peinlicher Augenblick. Er sah mich von oben bis unten an. Ich war beinahe so lässig gekleidet wie er – weißes Hemd, Jeans und dunkles Sakko –, doch bei mir kam noch eine gewisse Derangiertheit hinzu. Er hingegen besaß einen dauerhaften Plastikausweis, der an einem abgenutzten Band um seinen Hals hing, während ich bloß ein Eindringling war.
„Nach Ihnen“, sagte ich schließlich, um das verlegene Schweigen zu brechen. „Entschuldigen Sie die Drängelei. Sie ist Französin.“
„O ja“, stimmte er zu. „Und wie.“

Zehn Minuten später kehrte Elodie mit einem strahlenden Lächeln an die Rezeption zurück, wie zu erwarten, wenn man gerade für einen Federstrich ein paar Hundert Euro bekommen hat. Sie dankte der Empfangsdame und entschuldigte sich höflich bei dem Mann, den sie aus dem Weg gedrängt hatte – wobei mir inzwischen klar geworden war, dass er bloß die Empfangsdame anbaggern wollte und ohnehin Platz gemacht hätte.
Elodie nahm mich am Arm wie eine alte Freundin und nicht mehr wie eine Polizistin, die mich verhaften wollte, und geleitete mich, in alle Richtungen lächelnd wie eine Prinzessin bei einem Wohltätigkeitsbasar, durch die Sicherheitskontrollen zurück an die frische Luft.
„Ich brauche einen Drink“, verkündete sie, als wir die Stufen zum Vorplatz mit seinem Kreis aus Riesenfotos hinunterstiegen. Auf einem war ein staubiges Kleinkind zu sehen, das sich sauberes Wasser in den Mund spritzte – dank der EU.
„Ich auch“, sagte ich. „Etwas Reines und Sprudelndes.“ Ich war überzeugt, das Kleinkindbild war von den Cafés direkt vor dem Parlament gesponsert worden. Man konnte nicht daran vorbeigehen, ohne sich ausgedörrt zu fühlen. „Und dann kannst du mir vielleicht mal erklären, was ich mit diesen bedrohten Sprachen anfangen soll.“
„Ach, nicht viel“, sagte Elodie. Sie blies Luft durch die Lippen, wie Franzosen das tun, wenn sie sich kein Stück für ein Thema interessieren, das man mit ihnen besprechen will.
„Du hast mich den weiten Weg nach Brüssel bestellt wegen nicht viel?“, fragte ich.
„Die meisten von uns sind wegen nicht viel hier, Paul. Wusstest du das nicht?“ Sie lachte über ihr eigenes Bonmot. „Nein, ich meine bloß, dass ich zwar für dieses Sprachprojekt ein Budget habe, dass es aber nur die Tarnung für etwas viel Wichtigeres ist.“
„Ach ja?“
„Ja.“ Sie zog mich näher an sich und sah sich unter den vielen Ausweisträgern auf dem Vorplatz um, ob jemand uns belauschte. Das tat niemand – sie sahen alle so aus, als betrieben sie entspannten Feierabend-Small-Talk – dennoch senkte sie die Stimme. „Ich habe einen Auftrag für dich, Paul.“
„Wirklich?“ Das klang entweder nach großem Vergnügen oder, wie ich Elodie kannte, nach einer potenziellen Katastrophe.
„Ja.“ Sie ließ meinen Arm los und marschierte mit großen Schritten quer über die Steinplatten zu den Cafés am Rand des Platzes.
„Und willst du mir nicht sagen, was für einen?“ Ich joggte hinter ihr her.
„Doch nicht hier. Das erzähle ich dir morgen früh.“
„Und dafür hast du mich aus dem Bett gezerrt?“ Mein Schädel fing wieder an zu hämmern und machte mir eindeutig Vorwürfe, dass ich ihn so hart arbeiten ließ, wo er doch noch auf einem Kissen liegen könnte.
„Um sechs Uhr abends aus dem Bett?“ Elodie lachte und wartete darauf, die Straße zur nächsten Café-Terrasse überqueren zu können.
„Also, du könntest mir wenigstens einen Hinweis geben“, bat ich.
„Okay.“ Sie schüttelte den Kopf über mich, ihr anstrengendes Kind, und beugte sich wieder zu mir. „Du hast doch wohl die Nachrichten über das Referendum verfolgt, bei dem Großbritannien entscheiden soll, ob es die EU verlässt oder nicht?“
„Natürlich.“
Seit Monaten hatte das Referendum die Schlagzeilen dominiert, und alle hatten vorherzusagen versucht, wie es ausgehen würde. Jetzt war das Datum endlich festgelegt worden, und das Thema war praktisch omnipräsent. Selbst die Wettervorhersage war betroffen – wie viel Millimeter Niederschlag wären nötig, um die Wahlbeteiligung zu beeinträchtigen?
„Was glaubst du, wie die Abstimmung ausgehen wird?“, fragte Elodie.
„Weiß ich nicht, die Umfrageergebnisse sind zu knapp.“
„Na, ich jedenfalls – oder sollte ich lieber sagen, wir …“ Wieder sah sie sich um, ob niemand sie hören konnte. „Wir Franzosen wollen nicht, dass Großbritannien austritt.“
„Wirklich nicht?“
Das war schwer zu glauben. In Paris hatten die Leute gesagt, es sei doch eine attraktive Aussicht, Frankreichs alten Erzrivalen in den europäischen Machtkämpfen loszuwerden. Genau das hatte Napoleon vor 200 Jahren doch auch versucht.
„Nein, wirklich nicht.“ Elodie senkte ihre Stimme noch weiter, bis sie nur noch ein Kitzeln in meinem Ohr war. „Wir brauchen ein starkes Europa. Um der Hegemonie der Amerikaner widerstehen zu können.“
„Ach ja.“ Die Franzosen verwenden zu gern Worte wie „Hegemonie“, wenn sie über ihr größtes Schreckgespenst reden – den transatlantischen „Partner“. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll, und ich glaube, sie selbst wissen es auch nicht immer, aber es klingt gut.
„Außerdem begreifen die Briten gar nicht, welche Vorteile sie daraus ziehen, Teil eines großen europäischen Teams zu sein“, fuhr sie fort. „Großbritannien wird isoliert niemals so mächtig sein. Die Welt würde es bloß als eine von vielen kleinen Inseln betrachten, was es ja auch ist. So eine Art aufgeblasenes Korsika. Aber ihr Engländer verschließt die Augen davor. Ihr steckt – wie sagt man noch? –, ihr steckt den Kopf in einen Strauß?“
Nur wenn Elodie sehr verärgert war, ließen ihre exzellenten englischen Sprachkenntnisse sie im Stich.
„Das ist allerdings gefährlich“, stimmte ich zu. „Aber wo passe ich da rein? In deine Pläne, meine ich, nicht in den Vogel Strauß.“
„Du wirst uns natürlich helfen, Großbritanniens Austritt zu verhindern.“ Sie trat einen Schritt zurück und zeigte die französische Grimasse völliger Verständnislosigkeit über meine Begriffsstutzigkeit – die gefurchte Stirn und die gekräuselte Nase hätte nicht mal ein Liter Botox glatt bekommen.
„Oh.“ Das kam überraschend. „Und du meinst, das würde ich auch wollen, ja?“
„Willst du nicht, dass Großbritannien in der EU bleibt, Paul? Du lebst hier. Du bist schon ›kontinental‹, wie ihr das nennt.“ Sie starrte mich einen Augenblick ungläubig an, als hätte ich gerade verkündet, ich wolle eine Whirlpool-Party verlassen, noch bevor die ersten Blasen aufgestiegen waren.
„Na ja, ich bin noch nicht ganz sicher, was ich will. Ich wäge noch die Argumente ab.“
„Das ist ja sehr schön ausgewogen von dir, aber wäg mal das ab, Paul: Ich bezahle dich – und zwar sehr großzügig – für eine bestimmte Arbeit, und darum möchte ich, dass du diese Arbeit machst.“
„Aber wie soll ich denn Großbritannien daran hindern, die EU zu verlassen?“
„Wir haben einen Plan, Paul. Den erkläre ich dir in aller Ausführlichkeit morgen. Und jetzt komm her und besorg mir was zu trinken. Deine Arbeitszeit hat schon angefangen. Wir wollen doch Europas Geld nicht verschwenden.“
Damit hob sie einen Arm und trat vor einem Taxi auf die Straße, das mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam und sie passieren ließ. In Paris wäre das glatter Selbstmord gewesen. Sie hatte sich offenbar sehr schnell in Brüssel akklimatisiert.

Stephen Clarke

Über Stephen Clarke

Biografie

Stephen Clarke, 1958 geboren, lebt seit Anfang der 1990er in Paris. Mit seinem Debüt „Ein Engländer in Paris“ gelang ihm ein Überraschungsbestseller, der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Mehrere erfolgreiche Bücher, vor allem über die Eigenheiten französischer Lebensart, folgten.

Pressestimmen
literaturmarkt.info

„Herrlich, einfach nur herrlich schräg.“

Welt am Sonntag kompakt

„Sehr lustig ist dieses Buch, auch was für jene, die vom Brexit nichts mehr hören wollen.“

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