Erotischer Humanismus
Zur Philosophie der Geschlechterbeziehung
„Erfrischend neuer Ansatz und gut verständlich, auch ohne Vorwissen.“ - Bibliotheksnachrichten
Erotischer Humanismus — Inhalt
Der Eros der Begegnung
Diskriminierung im Zeitalter von #MeToo, Catcalling, Manspreading, Sexismus – nur wenige Themen finden gegenwärtig ein solches Maß an Aufmerksamkeit wie diese, wohl auch deswegen, weil vieles im Umbruch ist.
Speziell die westlichen Gesellschaften, aber auch ein großer Teil der nicht-westlichen Weltbevölkerung, befindet sich in einer Art Suchbewegung, stellt Althergebrachtes in Frage, ohne genau zu wissen, was an seine Stelle treten soll. Konfrontationen und Verunsicherungen sind die Folge.
Dieses Buch diskutiert ethische und philosophische Aspekte der Geschlechterbeziehungen. Es plädiert für einen Erotischen Humanismus, für ein humanes und kooperatives Verhältnis der Geschlechter und eine entspannte Erotik, für gleichen Respekt und gleiche Anerkennung, für das Recht auf Privatheit und Differenz, damit alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Lebensform – Autorinnen und Autoren ihres Lebens sein können.
Leseprobe zu „Erotischer Humanismus“
Von erotischen Kugelwesen, oder: Was ist „Erotischer Humanismus“?
In Platons Symposion kann man folgenden Mythos lesen:
»Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit nämlich war nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganz anderer Art. Denn zunächst gab es damals drei Geschlechter unter den Menschen, während es jetzt nur zwei gibt, das männliche und das weibliche; damals kam nämlich als ein drittes noch ein aus diesen beiden zusammengesetztes hinzu, von welchem jetzt nur noch der Name übrig ist, während es selber verschwunden ist. Denn Mannweib war damals nicht [...]
Von erotischen Kugelwesen, oder: Was ist „Erotischer Humanismus“?
In Platons Symposion kann man folgenden Mythos lesen:
„Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit nämlich war nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganz anderer Art. Denn zunächst gab es damals drei Geschlechter unter den Menschen, während es jetzt nur zwei gibt, das männliche und das weibliche; damals kam nämlich als ein drittes noch ein aus diesen beiden zusammengesetztes hinzu, von welchem jetzt nur noch der Name übrig ist, während es selber verschwunden ist. Denn Mannweib war damals nicht bloß ein Name, aus beidem, Mann und Weib, zusammengesetzt, sondern auch ein wirkliches ebenso gestaltetes Geschlecht; jetzt aber ist es nur noch ein Schimpfname geblieben. Ferner war damals die ganze Gestalt jedes Menschen rund, indem Rücken und Seiten im Kreise herumliefen, und ein jeder hatte vier Hände und ebenso viele Füße und zwei einander durchaus ähnliche Gesichter auf einem ringsherum gehenden Nacken, zu den beiden nach der entgegengesetzten Seite voneinander stehenden Gesichtern aber einen gemeinschaftlichen Kopf, ferner vier Ohren und zwei Schamteile, und so alles Übrige, wie man es sich hiernach wohl vorstellen kann. Man ging aber nicht nur aufrecht wie jetzt, nach welcher Seite man wollte, sondern, wenn man recht schnell fortzukommen beabsichtigte, dann bewegte man sich, wie die Radschlagenden die Beine aufwärtsgestreckt sich überschlagen, so, auf seine damaligen acht Glieder gestützt, schnell im Kreise fort. Es waren aber deshalb der Geschlechter drei und von solcher Beschaffenheit, weil das männliche ursprünglich von der Sonne stammte, das weibliche von der Erde, das aus beiden gemischte vom Monde, da ja auch der Mond an der Beschaffenheit der beiden anderen Weltkörper teilhat; ebendeshalb waren sie selber und ihr Gang kreisförmig, um so ihren Erzeugern zu gleichen. Sie waren daher auch von gewaltiger Kraft und Stärke und gingen mit hohen Gedanken um, sodass sie selbst an die Götter sich wagten; denn was Homer von Ephialtes und Otos erzählt, das gilt von ihnen, dass sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen. Zeus nun und die übrigen Götter hielten Rat, was sie mit ihnen anfangen sollten, und sie wussten sich nicht zu helfen, denn sie wünschten nicht, sie zu töten und ihre ganze Gattung zugrunde zu richten, gleichwie sie einst die Giganten mit dem Blitze zerschmettert hatten, denn damit wären ihnen auch die Ehrenbezeugungen und Opfer von den Menschen gleichzeitig zugrunde gegangen, noch auch durften sie sie ungestraft weiter freveln lassen. Endlich, nach langer Überlegung, sprach Zeus: ›Ich glaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Menschen erhalten bleiben können und doch ihrem Übermut Einhalt geschieht, indem sie schwächer geworden. Ich will nämlich jetzt jeden von ihnen in zwei Hälften zerschneiden, und so werden sie zugleich schwächer und uns nützlicher werden, weil dadurch ihre Zahl vergrößert wird, und sie sollen nunmehr aufrecht auf zwei Beinen gehen. Wenn sie uns aber dann auch noch fernerhin fortzufreveln scheinen und keine Ruhe halten wollen, dann werde ich sie von Neuem in zwei Hälften zerschneiden, sodass sie auf einem Beine hüpfen müssen wie die Schlauchtänzer.‹ Nachdem er das gesagt, schnitt er die Menschen entzwei, wie wenn man Beeren zerschneidet, um sie einzumachen, oder Eier, mit Pferdehaaren. Wen er aber jedes Mal zerschnitten hatte, dem ließ er durch Apollon das Gesicht und die Hälfte des Nackens umkehren nach der Seite des Schnittes zu, damit der Mensch durch den Anblick seiner Zerschnittenheit gesitteter würde, und befahl ihm dann, das Übrige zu heilen. Apollon kehrte also das Gesicht um, zog die Haut von allen Seiten nach dem, was jetzt Bauch heißt, hin und band sie dann, indem er eine Öffnung ließ, welche man jetzt bekanntlich Nabel nennt, wie einen Schnürbeutel mitten auf demselben zusammen. Und die meisten übrigen Runzeln glättete er und fügte so die Brust zusammen, indem er sich dabei eines ähnlichen Werkzeuges bediente, als womit über dem Leisten die Schuhmacher, mit welchem sie die Falten des Leders ausglätten, einige wenige aber ließ er zurück, nämlich eben die um den Bauch und den Nabel, zum Denkzeichen der einst erlittenen Strafe.
Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnitten war, da trat jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlangen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangen die Arme umeinander und hielten sich umfasst, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen, und so starben sie vor Hunger und Vernachlässigung ihrer sonstigen Bedürfnisse, da sie nichts getrennt voneinander tun mochten. Und wenn etwa die eine von beiden Hälften starb und die andere noch übrig blieb, dann suchte diese sich eine andere und umfasste sie, mochte sie dabei nun auf die Hälfte eines ganzen Weibes, also das, was wir jetzt Weib nennen, oder eines ganzen Mannes treffen, und so gingen sie zugrunde. Da erbarmte sich Zeus und erfand einen andern Ausweg, indem er ihnen die Geschlechtsglieder nach vorne versetzte; denn bisher trugen sie auch diese nach außen und erzeugten und gebaren nicht ineinander, sondern in die Erde wie die Zikaden. So verlegte er sie also nach vorne und bewirkte dadurch die Erzeugung ineinander, nämlich in dem Weiblichen durch das Männliche, zu dem Zwecke, dass, wenn dabei ein Mann auf ein Weib träfe, sie in der Umarmung zugleich erzeugten und so die Gattung fortgepflanzt würde, wenn dagegen ein Mann auf einen Mann träfe, sie wenigstens von ihrem Zusammensein eine Befriedigung hätten und so, von dieser gesättigt, inzwischen ihren Geschäften nachgingen und für ihre übrigen Lebensverhältnisse Sorge trügen. Seit so langer Zeit ist demnach die Liebe zuein-ander den Menschen eingeboren und sucht die alte Natur zurückzuführen und aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen.
Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. So viele nun unter den Männern ein Schnittstück von jener gemischten Gattung sind, welche damals mannweiblich hieß, die richten ihre Liebe auf die Weiber, und die meisten Ehebrecher sind von dieser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welche mannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind. So viele aber von den Weibern ein Schnittstück von einem Weibe sind, die richten ihren Sinn nur wenig auf die Männer, sondern wenden sich weit mehr den Frauen zu, und die mit Weibern buhlenden Weiber stammen von dieser Art. Die Männer endlich, welche ein Stück von einem Mann sind, die gehen dem Männlichen nach, und solange sie noch Knaben sind, lieben sie, als Schnittstücke der männlichen Gattung, die Männer und haben ihre Freude daran, neben den Männern zu ruhen und von Männern umschlungen zu werden, und es sind dies gerade die trefflichsten von den Knaben und Jünglingen, weil sie die mannhaftesten von Natur sind. Manche nennen sie freilich schamlos, aber mit Unrecht, denn nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies, sondern aus mutigem, kühnem und mannhaftem Geistestriebe, mit welchem sie dem ihnen Ähnlichen in Liebe entgegenkommen. Ein Hauptbeweis hierfür ist der, dass solche allein, wenn sie herangewachsen sind, Männer werden, die sich den Staatsgeschäften widmen. Sind sie aber Männer geworden, dann pflegen sie die Knaben zu lieben, auf Ehe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet, sondern sie werden nur vom Gesetze dazu gezwungen, vielmehr würde es ihnen genügen, ehelos miteinander das Leben zuzubringen. Kurz, ein solcher wird jedenfalls ein Knabenliebhaber sowie ein Freund seines Liebhabers, indem er immer dem ihm Verwandten anhängt.
Wenn nun dabei einmal der liebende Teil, der Knabenliebhaber sowie alle andern, auf seine wirkliche andere Hälfte trifft, dann werden sie von wunderbarer Freundschaft, Vertraulichkeit und Liebe ergriffen und wollen, um es kurz zu sagen, auch keinen Augenblick voneinander lassen. Und diese, welche ihr ganzes Leben miteinander zubringen, sind es, welche doch auch nicht einmal zu sagen wüssten, was sie voneinander wollen. Denn dies kann doch wohl nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses sein, um dessentwillen der eine mit dem andern so eifrig zusammen zu sein wünscht, sondern nach etwas anderem trachtet offenbar die Seele von beiden, was sie nicht zu sagen vermag, sondern nur ahnend zu empfinden und in Rätseln anzudeuten. Und wenn zu ihnen, während sie dasselbe Lager teilten, Hephaistos mit seinen Werkzeugen hinanträte und sie fragte: ›Was wollt ihr Leute denn eigentlich voneinander?‹ und, wenn sie es ihm dann nicht zu sagen vermöchten, sie von Neuem fragte: ›Ist es das etwa, was ihr wünscht, möglichst an demselben Orte miteinander zu sein und euch Tag und Nacht nicht voneinander zu trennen? Denn wenn es euch hiernach verlangt, so will ich euch in eins verschmelzen und zusammenschweißen, sodass ihr aus zweien einer werdet und euer ganzes Leben als wie ein Einziger gemeinsam verlebt, und, wenn ihr sterbt, auch euer Tod ein gemeinschaftlicher sei und ihr dann wiederum auch dort im Hades einer statt zweien seid. Darum seht zu, ob dies euer Begehr ist und ob dies euch befriedigen würde, wenn ihr es erlangtet‹, wenn sie, sage ich, dies hören, dann würde gewisslich kein Einziger es ablehnen oder zu erkennen geben, es sei etwas anderes, was er wünschte, sondern jeder würde gerade das gehört zu haben glauben, wonach er schon lange Begehr trug: vereinigt und verschmolzen mit seinem Geliebten aus zweien eins zu werden.
Der Grund hiervon nämlich liegt darin, dass dies unsere ursprüngliche Naturbeschaffenheit ist und dass wir einst ungeteilte Ganze waren. Und so führt die Begierde und das Streben nach dem Ganzen den Namen Liebe. Und vor Zeiten, wie gesagt, waren wir eins; nun aber sind wir um unserer Ungerechtigkeit willen getrennt worden von dem Gott, wie die Arkader von den Lakedaimoniern. Und es steht daher zu fürchten, wenn wir uns nicht gesittet betragen gegen die Götter, dass wir dann von Neuem zerspaltet werden und so von Ansehen herumlaufen müssen wie die auf den Grabsteinen ausgehauenen Reliefs: mitten durch die Nase durchgesägt wie halbierte Marken.
Deswegen muss man jedermann antreiben, ehrfürchtig gegen die Götter zu sein, damit wir diesem Geschicke entgehen und dagegen dasjenige erlangen, zu welchem uns Eros Führer und Hort ist. Dem handle niemand entgegen; es handelt dem aber entgegen, wer sich den Göttern verhasst macht. Denn wenn wir mit der Gottheit uns befreunden und versöhnen, so werden wir den uns eigentlich angehörigen Liebling finden und erlangen, was jetzt nur von wenigen erreicht wird.“
Aus Platons Symposion
(Übersetzung: Friedrich Schleiermacher)
Der platonische Eros ist weitaus mehr als das sexuelle Streben, es geht um das Streben nach Vollkommenheit und Selbstverwirklichung in Gemeinschaft mit einer anderen Person. Dies ist zugegebenermaßen nicht ganz im Einklang mit einem modernen, individualistischen Verständnis von Partnerschaft. Diese soll ja gerade dadurch geprägt sein, dass die einzelnen Beteiligten ihre je individuelle Autonomie nicht verlieren, sondern sich in einer Partnerschaft zum wechselseitigen Vorteil zusammenfügen, gegründet auf gleichem Respekt und gleicher Würde. Vielleicht ist aber das eine – romantische – mit dem anderen – partnerschaftlichen – Ideal durchaus verträglich, oder anders formuliert: kommt das partnerschaftliche Ideal ohne dieses erotische Element der Nähe, ja des Strebens nach einer dauerhaften Bindung nicht aus. Wir können diese Frage an dieser Stelle offenlassen und uns darauf beschränken, unter Erotischem Humanismus ein Denken und eine Praxis des Miteinanders zwischen den Geschlechtern zu verstehen, das humanistisch geprägt ist.
Unter „Humanismus“ wird sehr viel und sehr Unterschiedliches verstanden. Von der Pflege der alten Sprachen bis zum biblischen Auftrag an den Menschen „Macht euch die Erde untertan“. Wir verstehen unter Humanismus eine bestimmte Vorstellung, was das Menschsein eigentlich ausmacht, verbunden mit einer Praxis, die diesem humanistischen Ideal möglichst weitgehend entspricht.
Wenn hier von Humanismus die Rede ist, dann nicht im Sinne einer historischen Epoche, etwa der des italienischen Frühhumanismus (Petrarca), des Deutschen Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert (Erasmus) und schließlich des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert (Humboldt). Es ist auch kein spezifisch westliches oder europäisches kulturelles Phänomen gemeint, denn humanistisches Denken und humanistische Praxis gibt es auch in anderen Kulturkreisen. Man benötigt keine ausgearbeitete humanistische Philosophie, um eine humanistische Praxis zu realisieren. Aber in Zweifelsfällen hilft ein wenig philosophische Klärung, und mit einer solchen wollen wir dieses Buch beginnen.
Im Zentrum humanistischen Denkens und humanistischer Praxis steht die Vorstellung, dass eine Person für das, was sie tut, verantwortlich ist und anderen Personen Anerkennung und Respekt gewähren sollte. Über das, was Verantwortung eigentlich ausmacht, gibt es unterschiedliche Auffassungen innerhalb und außerhalb der Philosophie. Manche bestreiten, auch unter dem Eindruck neuerer wissenschaftlicher Befunde, dass es so etwas wie Verantwortung für eigenes Tun überhaupt gibt. Demnach sei das alles ein Mythos, Menschen seien von anderem als Gründen geleitet, zum Beispiel von ihren eigenen Interessen, von ihren bewussten oder unbewussten Ängsten und Erfahrungen. Die Vorstellung, das menschliche Handeln sei von Gründen geleitet und menschliche Individuen seien in der Lage, Gründe vernünftig abzuwägen, beruhe auf einem rationalistischen, manche würden sagen logozentrischen Missverständnis. Hat nicht die Psychoanalyse gezeigt, dass es unbewusste Motive gibt, die unser Verhalten steuern? Zeigen nicht Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften, dass es bestimmte Vorgänge im Gehirn sind, die unsere Bewegungen determinieren? Sind wir nicht ohnehin als biologische Wesen, wie andere Tiere, zu verstehen, die nach instinktiven Prägungen und angelernten Reflexen agieren?
Jede dieser Fragen hätte eine ausführliche Antwort verdient, und teilweise wurden diese in anderen Publikationen gegeben,[i] aber es ist hier nicht erforderlich, darauf einzugehen. Es reicht, wenn wir an dem festhalten, was die menschliche Lebensform in hohem Maße prägt: Wir machen Menschen, nicht nur Erwachsene, sondern schon kleine Kinder, verantwortlich für das, was sie tun, wir machen ihnen unter Umständen Vorwürfe, weil sie unverantwortlich waren, wir nehmen uns wechselseitig etwas übel, wenn wir den Eindruck haben, dass Menschen ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, wir nehmen andere ernst, weil wir ihnen zutrauen, verantwortlich zu handeln und zu urteilen. Wenn wir als Humanisten also die Verantwortung des Menschen und seine Freiheit verteidigen, dann knüpfen wir nur an das an, was die allermeisten Menschen ohnehin tagtäglich tun: Wir beurteilen Gefühle, Meinungen und Überzeugungen, wir fragen andere nach ihren Gründen, erläutern ihnen, welche Gründe wir haben, überlegen, was wir tun sollten und welche Überzeugung gerechtfertigt ist – in dieser Weise gehen wir alle als verantwortliche Personen miteinander um. Wer fragt, woher wir wissen, dass wir frei und verantwortlich handeln können, den können wir auf seine eigene Praxis verweisen. Jede Person, die die menschliche Verantwortlichkeit infrage stellt, stellt ihr eigenes Verhalten, ihre eigene Praxis infrage. Philosophen nennen das einen performativen Widerspruch, in den sie sich verwickelt.
Eine humane Lebensform ist durch die Praxis gekennzeichnet, sich wechselseitig als Personen zu respektieren. Das bedeutet, dass wir uns wechselseitig zutrauen, aus Gründen zu handeln und gute Gründe für unsere Gefühle, unsere Einstellungen wie auch unsere Urteile zu haben und – wenn wir mit einem besseren Argument konfrontiert werden – diese Gefühle, Einstellungen und Urteile revidieren zu können.
Humanistisches Denken und humanistische Praxis richten sich gegen inhumane Lebensformen und Praktiken. Der digitale Humanismus richtet sich gegen inhumane Praktiken unter Nutzung digitaler Technologien,[ii] der Bildungshumanismus wendet sich gegen inhumane Bildungstheorien und Praktiken[iii] und der ökonomische Humanismus gegen ein ökonomisches System und eine ökonomische Praxis, die in ihrer alleinigen Fokussierung auf Optimierung inhuman wird.[iv]
Der Erotische Humanismus wendet sich gegen ein inhumanes Miteinander, bei dem Menschen auf Rollen und Geschlechterstereotype reduziert werden. Er zielt auf ein menschliches Verständnis der Geschlechterbeziehungen und der Erotik ab sowie darauf, dass Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen und Männer mit Männern unbeschwert und uneingeschränkt durch gesellschaftliche Vorurteile oder erzwungene Einschränkungen miteinander kommunizieren, sich verständigen, austauschen oder gar – im Sinne der platonischen Kugelwesen – zusammenschließen können.
[i] Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit. Reclam 2005 und Verantwortung. Reclam 2011.
[ii] Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Piper 2018.
[iii] Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Edition Körber 2013.
[iv] Julian Nida-Rümelin: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie. Irisiana 2011.
Worum geht es in Ihrem Buch?
Es geht um die Vision eines humanen Umgangs miteinander. Das bedeutet: ein Umgang, der auf der Anerkennung gegenseitiger Würde und Autonomie beruht. Auch auf dem Recht auf den Schutz des Privatlebens. Seit einigen Jahrzehnten verändert sich das Verhältnis des Privaten zum Öffentlichen. Die Grenzen werden fließend, und viele fühlen sich gedrängt, das Privateste offenzulegen und andere zu beurteilen. Ein erotischer Humanismus bedeutet auch, Menschen zuzutrauen, ihre erotischen Beziehungen selbst gestalten zu können. Dass in den USA etwa Angestellte untereinander ernste Probleme bekommen, wenn sie eine Beziehung miteinander anfangen, entspricht nicht dem Recht des Einzelnen auf erotische Autonomie. Die Hauptbotschaft des erotischen Humanismus ist, die alte platonische Vision eines guten Lebens in einer Partnerschaft von Menschen, die sich ergänzen und vertrauen und sich wechselseitig jeweils als Autoren und Autorinnen ihres Lebens anerkennen, unter modernen Bedingungen zu realisieren. Um dieses Ideal zu realisieren, bedarf es der Anerkennung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit.
Welche LeserInnen sprechen Sie mit Ihrem Buch an?
Alle, die frei denken und sich Gedanken machen, wie sie ihr Leben mit anderen gestalten möchten.
Was macht das Thema so aktuell?
Es herrscht eine immer größer werdende Spannung zwischen den Geschlechtern. Frauen, aber wohl auch besonders Männer sind sich unsicher, wie sie mit dem anderen Geschlecht umgehen sollen. Schuldzuweisungen und Feindbilder belasten das Verhältnis der Geschlechter und erschüttern das Selbstbewusstsein vieler. Beugt euch nicht unter das Joch ideologischer Voreingenommenheit, sondern lebt euer eigenes Leben, und geht auf andere Menschen zu!
Vorwort von Nathalie Weidenfeld
Vorwort von Julian Nida-Rümelin
Einführung
Von erotischen Kugelwesen, oder: Was ist „Erotischer Humanismus“?
1 Hirn auf zwei Beinchen – Entwürdigung
2 Warum der Strauß schnell sein darf – Diskriminierung
3 Warum es wichtig ist, dass die Sicheln der Männer glatt und die der Frauen gezähnt sind – Normierung und Nivellierung des Arbeitsmarktes
4 Das harmonische Miteinander von Raub- und Beutetieren – Quotenpolitik
5 Von gepuderten Perücken zu grauen Businessanzügen –Ungleiche Arbeitswelten
6 Die traurige Geschichte von Pamela – MeToo
7 Exklusive Partys und flambierte Scampi – Erotik der Macht
8 Der Prinz von Wales, seine neue Frau, seine abgelegte Mätresse und sein unehelicher Sohn – Erotische Gesellungsformen
9 Wie man durch Strippen seine Selbstachtung wiedergewinnt – Für und wider Pornografie
10 Wer nicht für mich ist, ist gegen mich – Ideologisierung und rhetorische Tricks
11 Runter mit den Nymphen – Sexismus in der Kunst
12 „Ey, Süße, willst du nicht etwas trinken?“ – Catcallings, Manspreading und Stereotypisierung
13 „Eine einzige Ohrfeige für uns Frauen“ – Kulturkampf vs. Sozialkampf
14 „Würdest du mir Pralinen auf die Station bringen?“ – Paradoxien der Identität
15 Wenn gut aussehende Prinzen fremdgehen – Norm und Normierungen in Liebeskonstellationen
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