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Ein Sommer mit Hugo — Inhalt
Als Harold Cobert und seine spätere Frau sich in Biarritz kennenlernen, trifft sie die Liebe wie der Blitz. Aus einer sommerlichen Romanze reift eine Beziehung, und mit ihr der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Doch ist es genau dieser Wunsch, der schon kurze Zeit später das inzwischen verheiratete Paar auf eine harte Probe stellt. Als seine Frau ihr ungeborenes Kind auf tragische Weise verliert, liegen Coberts Nerven blank. Er ist außer sich vor Angst und Zorn, über die Ungerechtigkeit des Lebens, er hadert mit dem Schicksal und allen zuständigen Göttern. Immer wieder versucht seine Frau mit viel Zartgefühl und ihrem tapferen Lebensmut ihn auf den Boden zurückholen. Denn schließlich bleibt immer noch die Hoffnung, dass sich ihr Wunsch eines Tages doch noch erfüllt.
Leseprobe zu „Ein Sommer mit Hugo“
Juni 2008
Samstagmorgen. Ich bin aus dem Schlaf geschreckt. Ein schlechter Traum. Meine Frau hat gesagt: Das Baby ist tot.
Vor knapp drei Monaten war sie früher als sonst nach Hause gekommen. Hatte ihre Tasche aufs Sofa gelegt, mich geküsst und im Badezimmer ein Glas Wasser getrunken. Dann war sie vor der Tür des Zimmers, in dem ich am Schreibtisch saß, stehen geblieben. Sie trug ihre goldbraunen Stiefeletten und die Jeans, die ich so mag, ein weißes Oberteil und eine beige, gerippte Strickweste. Dazu ihre Kette mit den Anhängern, die bei jeder Bewegung [...]
Juni 2008
Samstagmorgen. Ich bin aus dem Schlaf geschreckt. Ein schlechter Traum. Meine Frau hat gesagt: Das Baby ist tot.
Vor knapp drei Monaten war sie früher als sonst nach Hause gekommen. Hatte ihre Tasche aufs Sofa gelegt, mich geküsst und im Badezimmer ein Glas Wasser getrunken. Dann war sie vor der Tür des Zimmers, in dem ich am Schreibtisch saß, stehen geblieben. Sie trug ihre goldbraunen Stiefeletten und die Jeans, die ich so mag, ein weißes Oberteil und eine beige, gerippte Strickweste. Dazu ihre Kette mit den Anhängern, die bei jeder Bewegung leise klimpern und ihr ein apartes Hippieflair verleihen.
„Wie war dein Tag?“, fragte sie.
„Gut … Und deiner?“
Sie zuckte unmerklich zusammen, als hätte sich eine Erinnerung in ihr geregt. Inzwischen hatte ich die kleine, rechteckige Schachtel bemerkt, die sie in der linken Hand hielt.
„Ich habe in der Apotheke einen Test gekauft …“
In einem Atemzug hatte sie das gesagt.
„Ich bin schon eine Weile überfällig …“
Es war, als würde die ganze Welt stillstehen. Stumm lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und lächelte sie an.
„Urteilsverkündung in fünf Minuten …“
Der Holzboden knarrte unter den Sohlen ihrer Stiefeletten. Als ich wieder allein war, schweifte mein Blick ziellos durch den Raum, bis er durchs Fenster auf das von den Regengüssen verwaschene Blau des Himmels fiel. Langsam sank die Dämmerung über die Stadt.
Die zweite Märzhälfte neigte sich dem Ende zu. Ich hatte gewusst, dass es früher oder später passieren würde. Aber nicht so schnell. Wir waren seit dem 22. September verheiratet und hatten seit anderthalb Monaten allen Vorsichtsmaßnahmen wie auch dem Rauchen Adieu gesagt. Wobei ich mir jetzt zur Ablenkung gern eine angezündet hätte. Meine Gedanken überschlugen sich. Der erste, den ich seltsamerweise zu fassen bekam, war dieser: Ich bin nicht steril. Bis ich meine Frau kennenlernte, hatten meine Beziehungen nie länger als drei Monate gedauert. Drei Tage, drei Wochen oder drei Monate. Höchstens. Und immer drei. Angst, sich zu binden. Angst um jedes Zentimeterchen Freiheit, das man verlieren könnte. Zudem hatte ich den Sex in Zeiten des Aidsbooms entdeckt – Gummis hatten verhindert, dass ich in derartige Situationen überhaupt erst geriet.
Ich würde also Vater werden, mit vierunddreißig Jahren. Vielleicht. In weniger als fünf Minuten würde ein blauer Streifen meinem Leben eine neue Richtung geben. Oder auch nicht.
Ich war aufgestanden und hatte rasch nachgerechnet. Die zeitliche Übereinstimmung war verblüffend. Das Gedicht Le Revenant von Victor Hugo kam mir in den Sinn. Meine Freundin Christel hätte den Termin als Zeichen gedeutet, als Bestätigung ihrer Prophezeiungen, als eindeutigen Gottesbeweis. Absurde Dinge, an die ich nicht glaube. Abergläubische Wahnvorstellungen, denen ich mit der Haltung eines Oscar Wilde begegne: „Man sollte nicht überall Zeichen sehen, es macht einem das Leben zur Qual.“ Das Thema Gott hat mich lange verfolgt, vermutlich weil alle anderen darauf hinauslaufen. Wenn es ihn gibt, hat die Welt, hat das Leben, haben sogar Gut und Böse wirklich einen Sinn. Wenn nicht, ist alles totaler Nonsens und wird nur vom Zufall und vom Gesetz des Stärkeren regiert. Endlose Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Ich reagiere schon seit Langem mit einem wohldurchdachten Agnostizismus, einer Art pascalscher Wette, nur umgekehrt. Anstatt auf die Existenz von Gott zu setzen und mich sklavisch nach Seinen Geboten zu richten, erfreue ich mich lieber meines Lebens im Hier und Jetzt. So habe ich, wenn es Ihn wirklich nicht gibt, wenigstens nichts verpasst. Sollte Er aber doch existieren, werde ich meine Sünden mit ehrlicher Reue schon wiedergutmachen können. Theologie im Schnellverfahren, aber trotzdem eine raffinierte Argumentation, schließlich bin ich nicht umsonst zwölf Jahre bei Ignatius von Loyola in die Schule gegangen. Jedenfalls weigere ich mich, das Leben und seine irdischen Freuden einem hypothetischen Paradies im Jenseits zu opfern.
Ich zuckte also mit den Schultern, fuhr mir durchs Haar und versuchte, über Omen und andere Albernheiten nicht länger nachzudenken. Ich hatte gerade angefangen, trotz allem doch noch einmal nachzurechnen, da stand sie wieder vor mir. Endlich.
„Und?“
„Babyblau“, war die Antwort.
Ich stand auf und schloss sie in die Arme.
Ich wusste, wie sehr sie sich in diesem Moment freute, aber auch, wie schmerzhaft die Erinnerungen sein mussten, die jetzt wieder über sie hereinbrachen.
„Ich hole uns einen guten Tropfen.“
Wenn es ein besonderes Ereignis zu feiern gibt, ziehe ich einen guten Bordeauxwein jedem Champagner vor. Liegt wahrscheinlich an meiner Herkunft. Nicht auszuschließen, dass meine Mutter mir, dem Schreibaby, hin und wieder ein bisschen Bordeaux ins Fläschchen gepanscht hat, wenn sie endlich mal wieder durchschlafen wollte …
„Du weißt doch, Alkohol ist für mich jetzt tabu“, sagte sie.
„Aber nicht für mich!“
Sie schien sich über meine Reaktion zu freuen und folgte mir Richtung Küche. Im langen, schmalen Flur ließ ich sie vorgehen. Verschwommene Bilder aus Kindertagen schossen mir durch den Kopf, das Landhaus meiner Großeltern, meine spielenden Cousins und Cousinen auf der Wiese mit dem riesigen Baum, den wir den „Monarch“ nennen. Ich sah uns beide im Gras sitzen, die rot-weiß karierte Tischdecke vor uns ausgebreitet, daneben die Baby-Tragetasche und der Picknickkorb. Kitschige Klischees von Familienglück, wie man sie auf Kaminsimsen und neben Graburnen antrifft. Vor ein paar Jahren hätte ich es noch gehasst, mich solchen Phantasien hinzugeben. Sie standen für alles, was mir damals ein Gräuel war: Verlust von Freiheit und Jugend, Ketten mit Eisenkugeln, Gefängnistore, die vor dem Ausbrecher zuschlagen. Jetzt, in diesem Augenblick, wirkten die Bilder beruhigend auf mich.
Ich hatte die Weinflasche geöffnet. Sie tauchte ihre Lippen in mein Glas, um wenigstens zu erahnen, was ihr entging. Ein paar Schlucke Pomerol reichten: Das vorzügliche Bouquet des Rotweins ließ das wilde Gedankenkarussell in meinem Kopf langsamer kreisen. Ich hörte zu. Hörte ihr zu, wie sie mir erklärte, was nun Schritt für Schritt zu tun sei.
Bis zum ersten Ultraschall bloß niemandem etwas sagen, man wollte ja sicher sein, dass alles in Ordnung war. Blutuntersuchungen machen, um zu erfahren, ob unsere Rhesusfaktoren kompatibel waren. Krankenhauszimmer reservieren, sobald der Gynäkologe den Geburtstermin errechnet hätte, und natürlich Kontakt mit dem Arzt aufnehmen, der die Geburt begleiten sollte.
Ich nahm alles zur Kenntnis, stellte Fragen, bat sie hin und wieder, auf ein Detail näher einzugehen. Sie beruhigte mich, sie war so gelassen, so gefasst. Diese Welt, deren Regeln und Gesetze sich mir jetzt erst erschlossen, war ihr ja längst nicht mehr fremd. Ich spielte nicht auf ihre Vergangenheit an. Versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Doch ich konnte nicht umhin, mir Sorgen zu machen.
An diesem Samstagmorgen im Juni, an dem ich aus dem Schlaf geschreckt war, drehte sich meine Frau zu mir um und fragte, was passiert sei. Ich erzählte es ihr. Sie sah mich mit einer Mischung aus Überraschung und Resignation an. Aus ihrem Blick sprach unendliche Traurigkeit.
„Ist ja nichts passiert“, sagte sie schließlich und nahm mich in den Arm. „Nichts passiert. Nur ein schlechter Traum.“
Ich erwiderte ihre Umarmung und stand auf, um Frühstück zu machen. Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Mitte Juni. Sommerhimmel. Ich warf einen ängstlichen Blick auf das Bild an unserer Wohnzimmerwand, hinter dem vielleicht verstohlen ein Omen lauerte. Die erste große Ultraschalluntersuchung, herbeigesehnt und gefürchtet, war für Mittwoch vorgesehen, in vier Tagen. Dritter Schwangerschaftsmonat. Eigentlich konnte nichts schiefgehen.
Trotzdem wurde ich das bange Gefühl nicht los, das der Traum in mir ausgelöst hatte. Ja, irgendwas stimmte nicht. Es kam mir so vor, als hätte mich meine Frau gerade genauso angesehen wie im Traum, als sie mir sagte: Das Baby ist tot.
Zum zweiten Mal fühlte sie, dass sie Mutter wurde.
Victor Hugo
Le Revenant – Der Wiedergänger
Meine Frau ist eine Tanagra-Figur. Der Inbegriff harmonischer Proportionen. Sie ist keins dieser langbeinigen Wesen, nach denen sich Männer auf der Straße den Hals verrenken, mit Glotzaugen und heraushängender Zunge wie der Wolf von Tex Avery. Meine Frau zieht verstohlene Blicke auf sich. Sie ist eine diskrete, ätherische Schönheit à la Verlaine, unaufdringlich und bar jeder Pose.
Sie ist voller Anmut.
Das brünette Haar fällt wellig über ihren Rücken herab. In der Mitte gescheitelt, umrahmt es ein fein geschnittenes Gesicht mit einer hübschen Nase und haselnussbraunen Augen, deren grüne Sprenkel ihren Blick je nach Wetterlage zum Leuchten bringen. So wie manche Steine ihre Farbe ändern, wenn der Himmel aufklart. Ihre Stimme ist melodisch, in den höheren Tonlagen leicht modulierend. Sie wird klangvoller, wenn sie ein bisschen zu viel getrunken hat. Diese Klangfarbe ist für mich zu einem Gradmesser geworden, an dem ich erkenne, wie beschwipst sie ist. Hässlich an ihr ist nur der unförmige rechte Daumen. Allerdings verdankt sie ihm auch ihr handwerkliches Geschick, mit dem sie vielen Männern überlegen ist. Ich zum Beispiel habe zwei linke Hände und kann keinen Nagel in eine Wand schlagen, ohne dass diese einstürzt oder ich mir sämtliche Finger zertrümmere. Vor allem aber unterstreicht dieser Daumen, wie vollkommen der ganze Rest ist.
Meine Frau ist ein ausgeglichener Mensch. Wenn sie vor Wut kocht, sagt sie nur: „Ich bin sehr wütend.“ Wenn sie außer sich vor Freude ist, heißt es bei ihr: „Ich freue mich sehr.“ Ohne dass sie dabei jemals die Stimme heben oder gar hysterisch herumschreien würde.
Dennoch fehlt es ihr nicht an Temperament. Auf den ersten Blick wirkt sie vielleicht wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, dahinter verbirgt sich ein fester, energischer Charakter. Aufgewachsen auf dem Land als Spross einer Industriellenfamilie der Provinz, hat sie sich geweigert, in den Familienbetrieb einzutreten, und ist lieber nach Paris gegangen, um dort ihren Traum zu leben. Um frei zu sein, ging sie dieses Risiko ein, anstatt sich den Zwängen eines bequemen, aber vorgezeichneten Lebens zu unterwerfen. Dank ihrer Erziehung und Herkunft steht sie mit beiden Beinen fest auf der Erde und hat zugleich die kreative Melancholie einer Träumerin. In ihrem Bereich ist sie so begabt, dass sie inzwischen als Art Director in einer auf Luxusartikel spezialisierten Werbeagentur arbeitet. Auch wenn das Klischee ein anderes ist: In der Werbung dreht man nicht kiffend oder Cola trinkend Däumchen und wartet lässig auf Inspiration. Nein, da wird vor Projektschluss auch mal nächtelang durchgearbeitet, da gibt es Konkurrenz zu anderen Agenturen und Wahnsinnsbudgets, die um jeden Preis ergattert werden müssen. Jenseits von allem Glamour ist die Werbung ein anstrengendes Metier, in dem man Nerven wie Drahtseile braucht.
Sie ist also eine robuste und sensible Frau, fröhlich und tiefsinnig zugleich. Boshaftigkeiten sind ihr fremd, für sie ist das Glas immer halb voll, niemals halb leer. Es gilt der berühmte Jesuitenspruch: „Wenn meine Freunde einäugig sind, betrachte ich sie im Profil.“ Und zwar von der guten Seite, versteht sich.
Was mich am meisten an ihr berührt, ist der fast ins Traurige reichende Ernst, der manchmal, ohne dass sie es merkt, ihr Gesicht überschattet. In ihren Zügen liegt etwas Tragisches, das mich zutiefst erschüttert, ein Schatten, so fragil wie die Spur eines in den Sand gezeichneten Wortes und doch unauslöschlich – der Verlust eines Kindes.
„Ein ehrlicher, sehr persönlicher Roman, der zu einer großen Liebeserklärung nicht nur an seine Frau und sein Kind, sondern an das Leben selbst geworden ist.“
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