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Ein Ehebruch Ein Ehebruch

Ein Ehebruch

Edoardo Albinati
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Roman

„(…) Jene reizvolle Spannung in Edoardo Albinatis Roman ›Ein Ehebruch‹ (liegt darin): Clementina und Eraldo begegnen einander tunlichst auf der Oberfläche. Und der Autor beschäftigt sich auf kunstvolle Weise mit dieser Oberfläche so oberflächlich wie nur irgend möglich.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Ein Ehebruch — Inhalt

Der neue Roman des "Literaturstars aus Italien" Maike Albath, Die Zeit

Schachmatt durch Dame? Erri und Clementina verbringen ein Wochenende auf einer kleinen Insel im Mittelmeer. Beide sind sie verheiratet, aber nicht mit einander. Die gestohlenen Momente dieser Tage erscheinen ihnen überdeutlich, übergroß... Was zieht einen hin zu einem Menschen, den man eigentlich kaum kennt? Was wird aus so einer Liebe? Präzise, ja ungerührt schildert Albinati eher einen Kampf als die Verschmelzung von Körpern und Seelen. Er lässt seine Helden Zug um Zug erzählen und enthüllt dabei, wie es zu ihrer Verbindung kam, aber auch die Koffer, die sie jeweils am Quai stehen ließen. Ob man eine Affäre hatte, vielleicht gern eine hätte, oder schon die Idee entrüstet ablehnt - in diesem Roman findet sich jeder liebende Mensch wieder.

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 04.11.2019
Übersetzt von: Verena von Koskull
128 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1407-8
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.11.2019
Übersetzt von: Verena von Koskull
128 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-8000-4
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"Edoardo Albinati siziert schonungslos eine Affäre"
Bunte

Leseprobe zu „Ein Ehebruch “

Samstag

In einem verborgenen Winkel ihrer Seele genoss sie es, Grund für die Schlaflosigkeit eines Mannes zu sein, von dessen Existenz sie zwei Wochen zuvor noch nichts gewusst hatte. David Vogel

Im Fahrtwind umwehte das Haar ihr Gesicht, und die längeren Strähnen flatterten ihr über die Augen und hefteten sich an ihre Lippen. Die vor wenigen Tagen geschnittenen Spitzen schmeckten bitter. Als der Matrose in dem knappen weißen T-Shirt die Festmacherleine mit einer gekonnten Bewegung eingeholt hatte, ohne sie mit einem einzigen Tropfen Wasser in Berührung [...]

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Samstag

In einem verborgenen Winkel ihrer Seele genoss sie es, Grund für die Schlaflosigkeit eines Mannes zu sein, von dessen Existenz sie zwei Wochen zuvor noch nichts gewusst hatte. David Vogel

Im Fahrtwind umwehte das Haar ihr Gesicht, und die längeren Strähnen flatterten ihr über die Augen und hefteten sich an ihre Lippen. Die vor wenigen Tagen geschnittenen Spitzen schmeckten bitter. Als der Matrose in dem knappen weißen T-Shirt die Festmacherleine mit einer gekonnten Bewegung eingeholt hatte, ohne sie mit einem einzigen Tropfen Wasser in Berührung zu bringen, und sein Kollege am Hafenkai mit den Tauen hantiert und die Gangway mit einer Achsendrehung hochgezogen hatte, als zeigte er die Dressurnummer eines stattlichen Schimmels, wurde Clementina mit einem Mal der ebenso freudigen wie gefährlichen Trennung vom Festland gewahr. Der jähe Schwenk, mit dem sich das Heck des Tragflügelbootes dröhnend von der Mole löste, und die wenigen Ellen dunklen Wassers zwischen dem Beton und der Schiffswand genügten für ein unauslöschliches Bild, als hätte sich ein Abgrund aufgetan, und schon war man auf offener See, das Land vom morgendlichen Dunst verschluckt, und es wieder zu betreten auf Monate oder Jahre hoffnungslos, wie an Bord jener Handelsschiffe, die erst heimkehrten, wenn der Laderaum voll war.

Während sie über die Mole, die Hügellandschaft, die Häuser, Palmen, Kräne, Container und Reihen hie und da geöffneter salzgebleichter Fenster blickte, während sie zurückblickte und das Tragflügelboot mit gedrosselten Motoren auf die Hafeneinfahrt zutuckerte, wartete Clementina darauf, dass Erri augenblicklich zu ihr käme, die Arme um sie schlang, zuerst um die Hüften, dann den Pullover hinauf bis unter den gewölbten Busen, und sie an sich zog. Vielleicht verharrte sie trotz der kalten Brise dort und starrte zum allmählich sich entfernenden Ufer zurück, um Erri die Chance zu geben, diese kurze, rauschhafte Reise damit einzuweihen. Doch er stand ein Stück abseits zwischen dem Touristengepäck auf der anderen Seite des Decks, klammerte sich an die Reling und rauchte auf eine Art, die ebenso angespannt wie erwartungsvoll erscheinen mochte.

 

Als Clementina nicht mehr damit rechnete und von dem schwindenden Hafen nur mehr die Molenfeuer zu erkennen waren, als sie sich umdrehen und zu den zugewiesenen Plätzen im Fahrgastraum zurückkehren wollte, weil ihr fröstelte und sie es leid war, sich das Haar zurückzustreichen, das ihr ins Gesicht peitschte, da das Schnellboot plötzlich Fahrt aufgenommen, den Bug aus dem Wasser gestemmt und die Kielspur in wirbelnden Schaum verwandelt hatte, war Erri mit einem Satz bei ihr, umschlang sie von hinten und hielt sie zurück. Er stützte das Kinn auf ihre Schulter und schloss die Augen. Seine Umarmung war weniger beschützend denn kindlich und unbeholfen, was ihrer Innigkeit aber keinen Abbruch tat, und von einer ungekannten Freude durchströmt, lachte Clementina auf, ohne sich daraus zu befreien, und nahm seine warmen in ihre eiskalten Hände.

 

Weil sie aus Diskretion oder wegen einer an diesem Punkt ihrer Affäre eher befremdlichen Befangenheit niemanden nach dem Weg fragen wollten, war es nicht leicht, das Hotel zu finden. Erri war Clementina stets ein paar Schritte voraus, als kennte er den Weg durch die steilen Sträßchen, die über enge, verwinkelte Treppen aufwärtsführten, doch schien es vielmehr, als wollte er nicht gleichauf mit ihr gehen, als wäre es ihm peinlich, sich mit ihr als Paar zu zeigen, als x-beliebiges Pärchen. Zumindest kam es Clementina so vor. Mehrmals bat sie ihn halb lachend, langsamer zu gehen. Ihre Umhängetasche war klobig, und es war seltsam, dass Erri, der nur einen winzigen Rucksack trug, ihr keine Hilfe angeboten hatte.

 

Clementinas Fehler, der immer gleiche Fehler war, zu viel Zeug in diesen formlosen geblümten Sack zu stopfen, der, wenn er leer am Boden lag, wie ein harmloses Stück Stoff aussah, ebenso luftig wie sein Muster, jedoch, kaum hatte man ihn gefüllt, bleischwer und unhandlich wurde, als hätte ein Dieb reiche Beute gemacht, und der ihr nun bei jedem Schritt gegen die Hüfte schlug. Sie hatte hineingepackt: zwei Seidenkleider, eine bunt gestreifte Tunika als Strandkleid, vier Badeanzüge, einer davon ein sehr knapper, weit ausgeschnittener Einteiler, ein Paar Espadrilles und ein paar Gummislipper für die Klippen, hohe Sandalen und Turnschuhe, drei T-Shirts und einen dicken Pullover, ein zusätzliches Paar Jeans zu denen, die sie anhatte, aber in Hellblau, leger geschnitten und bequem, noch einen Ledergürtel, um die beiden eleganten Kleider in der Taille zu raffen, einen speziellen Strohhut, der selbst dann nicht aus der Form geriet, wenn man ihn in den Koffer quetschte, und seine breite Krempe auf wundersame Weise unbeschadet entfaltete, kaum dass er unter den Kleiderschichten wieder zum Vorschein kam, zwei Romane von preisgekrönten amerikanischen Schriftstellerinnen, obgleich Clementina wusste, dass sie kaum dazu kommen würde, mehr als ein paar Absätze zu lesen … und in einer durchsichtigen gelben Tasche die nötigen Hygiene- und Kosmetikartikel einschließlich zweier Sonnencremes mit hohem Lichtschutzfaktor, fürs Gesicht und für den Körper. Die Creme gegen Dehnungsstreifen hatte sie zu Hause gelassen.

 

Einer der wichtigsten Gegenstände war federleicht und brauchte nur wenige Zentimeter Platz: die Schwimmbrille.

 

Selbst wenn sie zwei Wochen statt zwei Tage auf der Insel geblieben wäre, hätte sie unmöglich all die Sachen tragen, sich mit den Sonnenlotionen einreiben, die Romane lesen, die Pullover anziehen und die Bikinis gegen den Einteiler austauschen können. Die Tasche war hinter dem Rücken ihres Mannes gepackt worden, und sofort kam Clementina der Gedanke, dass sie sie gleich nach ihrer Rückkehr ebenso unauffällig würde leeren und die noch nassen oder feuchten Badeanzüge im hintersten Winkel irgendeiner Abstellkammer würde aufhängen müssen, in die er nie einen Fuß setzte.

 

Erri hatte es eilig, ins Hotel zu kommen, um sofort miteinander zu schlafen. Er lechzte förmlich danach, und das machte ihn nervös und beinahe gleichgültig gegen die Person, mit der er es zu tun gedachte.

 

Das Hotel hatte offenbar bessere Tage gesehen. Clementina konnte sich kaum daran erinnern. Luxus bedarf ständiger Pflege, sonst verkommt er schneller als Frugalität. Sie hatte es ausgewählt, weil ihre Eltern dort abgestiegen waren, als es praktisch das einzige Hotel auf der Insel gewesen war und fast ausschließlich exzentrische Ausländer beherbergt hatte. Später hatten sie mit ihr und den beiden älteren Schwestern über Jahre dort Ferien gemacht, bis mit der festen Gewohnheit, die zweite Septemberwoche auf der Insel zu verbringen, ohne jede Erklärung gebrochen worden war; zumindest hatte man der damals zehnjährigen Clementina keine gegeben. Weitere zehn Jahre sollten vergehen, ehe sie die Wahrheit erfuhr, nämlich dass ihre Mutter im Winter zuvor ein Techtelmechtel mit dem Freund der ältesten Tochter gehabt hatte, vielmehr eine brennende Liebschaft, von der sie so heftig entflammt war, dass sie alles für diesen jungen und aufgeblasenen Schönling hatte fahren lassen, der sein Glück kaum fassen konnte, zwischen der Zwanzigjährigen und der Vierzigjährigen vom selben Blut und mit den gleichen Augen und Haaren nach Lust und Laune wechseln zu können. Clementinas Vater hatte den Skandal unter dem Deckmantel der Diskretion erstickt, und nach Monaten blanken Wahnsinns, außer Haus verbrachten Nächten, hysterischen Szenen bis hin zu einem linkischen Versuch, sich das Leben zu nehmen, war die Mutter wieder zur Räson gekommen; doch die schönen, zwanglosen Reisen und Ferienunternehmungen der Eltern und ihrer drei Töchter in so eindrücklicher Familieneintracht waren jäh beendet und nie wieder aufgenommen worden.

 

Im Hotel war es indes zu früh, das Zimmer noch nicht fertig. „Wie lange dauert es noch?“, fragte Erri mit von mühsam unterdrückter Begierde angespanntem Lächeln. „Nun ja, ein paar Stunden“, lautete die lapidare Antwort: Bis dahin konnten sie ihr Gepäck dalassen und einen Spaziergang machen oder ein Bad im Meer nehmen, es war ja noch Zeit. „Und es ist ein so schöner Tag …“ Sie durften sich in den Toiletten auf der Etage umziehen.

 

Die Saison war fast vorbei, unten am Hafen hatten nur noch wenige Buden geöffnet, an denen man sich Ausrüstung zum Speerfischen, Ruderkähne und Schlauchboote leihen konnte. Viele Boote waren bereits zum Überwintern aus dem Wasser geholt worden. Erri sprach eine junge Frau an, die den Kiel eines kopfüber auf den Kai gelegten Kahns mit einem Wasserschlauch reinigte: Mit halbherzigen, kindlichen Bewegungen wischte sie darauf herum und spritzte ihn hie und da ab, aus Unfähigkeit oder Langeweile oder weil es ihr Spaß machte, mit dem Wasser zu spielen. „Mein Mann ist nicht da, er liegt mit Fieber im Bett“, sagte sie heftig errötend, normalerweise kümmere er sich um die Vermietung der Boote und Mopeds, aber das könne sie machen, schob sie rasch nach, aus Angst, einen Kunden zu verlieren, der sich am Ende als der einzige des Tages herausstellen könnte. Sie versprach, einen Sonderpreis für ein kleines Boot mit einem neuen, recht antriebsstarken Motor, Sonnensegel, Sonnenmatratze und allem Drum und Dran zu machen. Treibstoff nach Verbrauch. Erri war einverstanden und folgte der jungen Frau zu einem Sonnenschirm und einem Tischchen im Schutz der felsigen Steilwand, die den alten Hafen säumte. Er musterte sie von hinten, das kurze, türkisfarbene Kleidchen, den ausgeblichenen Pferdeschwanz, die knochigen Knie, die sich berührten, die Clogs. Ohne dass es nötig gewesen wäre, denn es war kühl und der Platz lag noch im Schatten, machte sich die junge Frau daran, den über und über mit Dosen eines Energydrinks bedruckten Sonnenschirm aufzuspannen. Es war ihre Art, den Laden in Abwesenheit ihres Mannes zu öffnen.

 

Sie beginnen mit der Umrundung der Insel. Der Motor brummt und gurgelt dumpf und gleichmäßig. Die Erregung steigt, kaum ist der Hafen nach Steuerbord verlassen. Nach Umschiffung des Vorgebirges eröffnet sich eine spektakuläre Flucht von Klippen in allen erdenklichen Farben, Grau, Ocker, Rot, Weiß, mit diagonal von rechts nach links verlaufenden, schwarz schimmernden Streifungen und Rinnspuren. Hinter jeder verbirgt sich eine weitere. Das Meer ist ruhig und tief, die Sonne bereits hoch und warm, der Wind nur der Geschwindigkeit geschuldet.

 

Nach kaum einer Viertelstunde entlang der Steilwand tut sich eine erste Bucht auf, in der das blaue Wasser in Grün übergeht. Es ist glatt und unbewegt wie durchsichtige Gelatine. Erri drosselt die Geschwindigkeit und steuert näher an die Küste heran, um sich den Grund anzusehen, Clementina bittet ihn, das Boot anzuhalten, um ins Wasser zu springen.

 

„Kommst du?“ Doch Erri schüttelt den Kopf und wirft den Anker. Er wird ihn an diesem Tag noch oft auswerfen und einholen.

 

Clementina schwimmt schnell, und das ist ihr das Allerschönste: allein im kühlen Wasser zu sein. Voranschnellen, immer voran, umgeben von Wasser, aber auch darüber hingleitend, an seiner Oberfläche. Das ist schöner als jede Gesellschaft. Unendlich viel weiter und freier, da es sie jeder Verpflichtung enthebt. Diese Bewegung hat keinen Zweck und kein Ziel. Die Wellen, die ihre abwechselnd durch das Wasser pflügenden Arme erzeugen, lassen die Welt abrücken, die bedrohlich flimmernde Materie ihrer Fragen. Auch die berückende Unterwasserwelt geht sie nur bedingt etwas an. Ihr genügt, was sie zwischen einem Luftholen und dem nächsten durch ihre Schwimmbrille sieht: abstrakte Landschaften, eine Blasenwolke, ein Blick zu dem vor Fischen wimmelnden Unterwasserfelsen, silbrige Blitze, die schrägen Sonnenlanzen, die sich in den blassgrauen sandigen Meeresgrund bohren.

 

Dann fällt ihr ein, dass sie Erri nur um einen kurzen Sprung ins Wasser gebeten hat, und mit einer Rollwende macht sie kehrt, erhöht den Rhythmus der Armschläge, bis sie den Schatten der Barke auf dem Grund erblickt. Das Wasser ist höchstens vier oder fünf Meter tief. Dort, an den Bootsrand geklammert wie ein Nichtschwimmer oder ein Greis, der sich nur zu einer kleinen Erfrischung ins Wasser gewagt hat, ist Erri, Erris siebenunddreißigjähriger Körper, dessen Beine träge im Blau des Wassers rudern. Eine rote Badehose und ein blonder Rumpf. Clementina taucht heimlich unter, hält den Atem an, bis sie fast platzt, und stößt spritzend neben ihm empor.

 

Erri will sofort mit ihr schlafen: Er hat nur auf ihre Rückkehr zum Boot gewartet. Er will es hier tun, im Wasser, und sie dreht sich um und klammert sich mit verdrehten Händen an den Bootsrand. Ineinander verschlungen spüren sie die Berührung kaum, und dennoch kommt sie laut und er ebenfalls. Kurz darauf lösen sie sich voneinander, und Erri flucht wegen der plötzlichen Kälte, die ihn befällt, er schlägt mit den Fäusten aufs Wasser, und Clem prustet keuchend los. „Als hätte man eine Betäubung gekriegt …“

 

Später, die Sonne brannte auf einen winzigen Strand, wenn auch weniger heiß als im Hochsommer, als wäre sie ebenfalls durchscheinend geworden. Das Boot hatte aufgehört, an der Ankerkette zu trudeln, und lag wie eine grellbunte Papprequisite reglos auf dem Wasserspiegel. Kurz nach dem Landgang waren sie beide eingeschlafen oder hatten vielmehr auf den harten Kieseln in unbequemen und absurden Stellungen das Bewusstsein verloren: Clementina splitternackt, das Gesicht zwischen den Steinen, Erri mit gespreizten Beinen und einem Arm über dem Gesicht. Als er für einen winzigen Moment in die blendende Sonne blinzelte, den feuchten Arm vom Gesicht löste, das Rauschen des Blutes in den Ohren, das sich mit dem rhythmischen Rischeln der Steine mischte, die das matte Vor und Zurück, Vor und Zurück der Uferwelle kollernd aneinanderrieb, wurde Erri bewusst, dass dieser intensive Augenblick nicht von Dauer sein konnte. So einem gleichförmigen Glück einen Monat oder auch nur eine Woche ausgesetzt zu sein, hätte ihre Körper und ihren Verstand restlos aufgezehrt, wie eine Schwingung von konstanter Stärke und Frequenz, ein seit undenklichen Zeiten gellendes Sirren. Vielleicht war das die Bedeutung der Sirene, dachte er, die Wurzel ihres Hinterhaltes: unmenschliches Glück. Die Leere des sengenden und dennoch kühlen Himmels, die Unschuld dieses pulsierenden Lichtes, das immerfort herabstach, ohne zu verletzen, die leuchtenden Farben, deren banale Reinheit jeden Blick überflüssig machte, diese ganz und gar klassische und reglose Zeit, wer könnte das ertragen? Der Takt der kurzen Wellen, so unfassbar sacht und zermürbend wie ein monotones Streicheln oder wie ein Kätzchen, das beharrlich Milch aus seiner Schüssel leckt, ließ ihn ein Fleckchen Schatten herbeisehnen, um sich darin zu verkriechen. Die nackte Frau neben ihm rührte sich mit einem Zucken, Clem erwachte jäh, strich sich, noch ehe sie die Augen aufschlug, das verklebte Haar aus dem Gesicht und nuschelte etwas kaum Verständliches. Auf ihrer Stirn und den Wangen hatten die Steine Abdrücke hinterlassen.

 

Die Reinheit des Himmels über dem Boot war bedrückend. Nur im September erreicht er diese durchdringende, wehmütige Intensität. Erri an der Motorpinne und Clementina, die auf der blau-weißen Klappmatratze lag, glitten langsam über die unbewegte, tiefblaue Fläche des Meeresarms, der die größere von der kleineren Insel trennte, und hatten fast gleichzeitig das zehrende, beängstigende Gefühl absoluten Glücks. Sie fühlten sich umzingelt. Der Tag war von unübertrefflicher Schönheit, und alles daran ließ folglich erahnen, dass diese Vollkommenheit kurz vor dem Verderben stand, dass sie es von vornherein gewesen war, durfte sie doch mit niemandem geteilt, niemandem erzählt und nach ihrer Rückkehr nicht einmal von ihnen erinnert werden, Stachel sinnloser Qualen. Jetzt waren sie unfähig, miteinander zu reden, übervoll und berauscht, niedergedrückt von einer Sattheit, die sie, würde sie fortdauern, ersticken würde. Und diese wenige Seemeilen lange Überfahrt wäre zu einer Ewigkeit geworden. Zudem war beiden bewusst, wie unwirklich all das war, das von weißem Schaum gesäumte Dreieck hinter dem Boot, ihre Nacktheit, das stille Rauschen des Blutes, das durch die von der niederbrennenden Sonne erhitzten und vom leichten Fahrtwind sogleich gekühlten Arme und Beine floss, der Schauder der Verwirrung, all das war unwiederbringlich, höchstwahrscheinlich würden sie es nie wieder erleben, nicht gemeinsam und erst recht nicht zu anderen Gelegenheiten und in anderen Konstellationen, mit ihren Ehepartnern, ihren Kindern, mit guten oder weniger guten Freunden, im Früh- oder Hochsommer. Da war nichts zu machen. Das, was gerade geschah, konnte fraglos nur ihnen beiden in diesem Moment geschehen: das Schaukeln des Bootes, der stumme Himmel, das sinnlose Blau, die sie einende Angst, die leise, beständige Taubheit, unter der die körperliche Erregung darauf lauerte, wieder und wieder und wieder zu erwachen. All das würde nie wiederkehren, nie mehr, nie mehr für sie und nie mehr in dieser unerträglichen Leichtigkeit. Und diese vergängliche Beglückung erfüllte sie mit Traurigkeit.

 

„Dort kann man die Fische sogar in fünfzehn, zwanzig Metern Tiefe sehen.“

 

„Ich habe noch nie etwas so Wunderschönes gesehen.“

„Ich auch nicht, seit meiner Kindheit nicht mehr.“

 

Die kleinere Insel war unbewohnt und zu dieser Stunde an diesem schattigen Küstenabschnitt menschenleer. Nicht ein Boot war in Sicht. Nur ein paar Vögel, die auf den gelben, schwarzen und rötlichen Felskuppen hockten oder sich in die Klüfte kauerten, die schräg ins Meer abfielen, als wäre die rasende Klaue eines Riesen über den Fels gefahren. Erri war leicht beklommen von dieser einzig vom Krächzen der Vögel durchbrochenen Stille, von der überwältigenden Schönheit der Natur, die Clementina indes beseligte, ihre Nerven bis zum Zerreißen spannte und sie in zitternde Erregung versetzte. „Sie hätte bersten mögen“, traf es genau. Und ausnahmsweise passte diese Wendung zu dem energiegeladenen, lebensvollen Äußeren einer so schönen jungen Frau. Die straffe Haut des Rückens, der Beine, des prallen Busens und selbst des Bauches, dem niemand die Spuren der wenige Monate zurückliegenden Schwangerschaft angesehen hätte.

 

Mit einer Drehung am Gasgriff hat er die Geschwindigkeit gedrosselt, jetzt ist das Pöttern des Motors überdeutlich zu hören, und ohne den winzigsten Schaum aufzuwerfen, gleitet das Boot über den glatten, grün und schwarz geschlierten Wasserspiegel, unter dessen Oberfläche sich das atemberaubende Unterwasserpanorama in seiner übernatürlichen Klarheit entfaltet. Ihr Kahn schwebt auf einer Linie, die zwei abstrakte, immaterielle Elemente voneinander trennt. Sie kauert wachsam am Bug, um möglichen Klippen auszuweichen, doch es gibt keine. Das Meer ist reglos, der Grund noch tief unten, obschon die dunklen Felsen, die verstreut auf dem weißen Sand liegen, riesenhaft zu pulsieren scheinen. Vielleicht überwältigt von dem allzu großen Farbspektrum, Topas, Onyx, Beryll, Lapislazuli, Obsidian, sowohl in Stein als auch wogend unter dem Kahn (hie und da ist das Wasser schwarz schillernd gemasert wie Opal und dennoch durchsichtig), sucht Clementina den Wasserspiegel nach einer neutralen Stelle ab, um den Blick ruhen zu lassen, doch sie findet keine. Alles glitzert. Also richtet sie sich kippelnd auf und springt seitlich ins Wasser, ohne dass ein Tropfen aufspritzt. Hastig stellt Erri den Motor ab, und während das Boot lautlos noch ein paar Dutzend Meter gleitet, ehe es zum Stehen kommt, taucht Clementina ein Stück entfernt wieder auf und macht ein paar Kraulzüge. Erri bückt sich und kramt, vielleicht auf der Suche nach einer Tauchermaske, in dem Sack mit der Ausrüstung, als sie plötzlich dicht hinter ihm an die Oberfläche steigt, direkt hinter dem Heckspiegel, und ihn nass spritzt. Erri protestiert, er hatte noch nie einen besonders ausgeprägten Sinn für Humor, und sie lacht ihn aus. An den Bootsrand geklammert, streicht sie sich das Haar aus der Stirn: Ihre riesigen, geröteten Augen sind wunderschön, ihre Zähne glänzen, ihre vom wasserfesten Lippenstift lodernden, tropfenbenetzten Lippen bewegen sich kaum: „Es ist salzig“, sagte sie und dann, „ich liebe dich so sehr“, ehe sie abtaucht. Eine Blasensäule ausatmend, sinkt sie kerzengerade in die Tiefe. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Verblüffung sieht Erri ihr nach. Er ist erregt und kribbelig von diesem Glück, diesem verstohlenen und unverdienten Hochgefühl; der unerbittlich hohe Himmel und die vielfarbigen Klippen, umgeben von dem klarsten Wasser, das er je gesehen hat, hundertmal klarer als in den Tropen; all das würde ihn schon schwindelig machen, auch ohne dass eine wunderschöne junge Frau, die er erst seit Kurzem kennt, ihm soeben eröffnet hätte, dass sie ihn liebt.

 

Nach einem langen gemeinsamen Bad, an einem kleinen Strand mit versprengten Felsbrocken, die vor einem Jahrtausend von der Steilwand herabgestürzt sein müssen, lieben sie sich im Stehen, versteckt hinter einem der riesigen Steine, obwohl niemand da ist und niemand auftauchen wird. Er hält sie bei den Hüften, sie hat einen Arm um seinen Hals geschlungen und den anderen verdreht hinter den Rücken geschoben, als wollte sie ihn verstecken, die krampfhaft geballte Faust verbergen. Sie ändern ihre Stellung nicht. Sie sind nackt, und ihnen ist kalt, die Sonne und die Liebe wärmen sie nicht genug, sie zittern halb fröstelnd, halb vor Erregung, versetzt mit einer unerklärlichen Angst vor dem, was sie tun. Über ihnen ertönt der stumpfsinnig heisere und monotone Schrei einer Möwe, das Boot schaukelt sacht am Anker auf zwei Meter tiefem Wasser, das so klar ist, dass das Gefährt in der Luft zu schweben scheint. All das könnte so bleiben, die Sonne an diesem Punkt am Himmel verharren, die erfüllte Lust und der Friede nie eintreten, die Körper nicht trocknen, ihr Schiffchen nicht wieder zu dem kleinen Hafen der Hauptinsel und das Tragflügelboot nie mehr Richtung Festland aufbrechen. Beide sind genau zwei Stunden von zu Hause entfernt, von der sogenannten Wirklichkeit, die sie allemal als solche empfinden, als ihre Wirklichkeit. Und was ist dann diese hier?

 

Clementina ist eine um Längen bessere, erfahrenere und ausdauerndere Schwimmerin als Erri. Bewegungen, die ihn Kraft kosten, vollführt sie ganz mühelos. Nachdem sie gemeinsam ins Wasser gegangen sind, um vermutlich vereinigt zu schwimmen, macht sie sich nach einigen Armschlägen von ihm los und scheint ihn über die routinierte, rhythmische Geschmeidigkeit, mit der sie davongleitet, zu vergessen. Sie dreht den Kopf leicht zur Seite, holt mit einer Grimasse Luft und stößt sie mit sichtlichem Vergnügen unter Wasser wieder aus. Ja, Clementina liebt das Schwimmen, vielleicht noch mehr als das Zusammensein mit Erri: Niemals würde sie diesen beglückenden Augenblick aquatischer Einsamkeit mit dem Sex tauschen, den sie eben noch gehabt haben. Das ist nicht vergleichbar, gewiss, doch das eine ist größer als das andere. Die konvulsive Erregung ist in einer weiten, gelösten, harmonischen Bewegung zergangen, die ungleich freier und unbeschwerter ist als die gegenseitige Umklammerung. Hier herrscht kein Kampf, sondern Eintracht. Clementinas idealer Seinszustand ist die Einsamkeit, das weiß sie genau, auch wenn sie alles tut, um ihr aus dem Weg zu gehen, fast macht sie ihr Angst; es verstört sie, welche Lust es ihr bereitet, ins Wasser zu gleiten, darin wegzutauchen, voller Mut, voller Energie und, kompliziert, wie sie ist, ausnahmsweise in völligem Einklang mit sich und ihren pfeilgeraden Zügen. Sie braucht keine Vergewisserung, worauf sie zustrebt, ob aufs offene Meer oder zu einer der weißen Klippen, die am Felskap aus dem Wasser blinzeln, hinter dem die Insel eine Kehre vollführt und der bewegteren See die andere Flanke hinhält, und ist berauscht von dem Gefühl, nur ein winziger Körper zu sein, der über diese gähnende, sich allmählich verdüsternde Unermesslichkeit zieht.

Als sie sehr viel später innehielt und sacht mit den Beinen schlagend wieder zu sich kam, war das Wasser, das unter ihr rund fünfzig Ellen in die Tiefe reichte, so dunkel, dass es schwarz erschien. Unter sich spürte sie den pochenden Druck der Wassermassen, als wollten sie sie hinausschleudern wie ein grellbuntes, aufblasbares Strandspielzeug.

 

Erri hatte sich im grenzenlosen Meer verloren. Regungslos, dümpelnd. Er hatte einen Stich in der Brust verspürt und einen Schreck bekommen. Suchend blickte er sich nach Clementina um und dachte dabei, dass er auf der Stelle an einem Herzschlag sterben und sein Körper wie ein Stein in die Tiefe sinken würde. Er starrte in den Himmel und sah nichts als dieses unbewegte, wilde, von Wolken unbefleckte Blau, und seine Furcht zu ertrinken erschien plötzlich dumm und abwegig. Es war denn auch nicht die Furcht zu ertrinken, sondern eine tiefere Angst. Im naiven Bemühen, sich wieder zu beruhigen, drehte er sich auf den Rücken und setzte sich mit bedächtigen Armschlägen in Bewegung, den Blick in den gleißenden Himmel gebohrt. Während der restlichen Zeit mit Clementina auf der Insel sollte ihn diese Angst nicht mehr loslassen. Hin und wieder, wenn Erri sich an sie drängte, sie umschlang oder in ihr war, flaute sie ab und legte sich, doch kaum ließ er von ihrem Körper ab, wurde diese Frau plötzlich allzu bedeutsam, als gäbe es keine andere auf der Welt, als hätte sich die Welt entvölkert und in eine unwirtliche Wüste verwandelt bis auf diesen einen Menschen, dieses Individuum, diese Überlebende, mit der es eine unermessliche und grenzenlose Einsamkeit zu teilen galt; kaum ließ er von ihr ab, wurde Erri erneut von der Angst gepackt, von einer absoluten, nie zuvor empfundenen Angst, als hätte er keine Bindungen mehr, als wären seine noch gar nicht alten Eltern und seine Frau gestorben, seine Töchter längst tot, und Erri hätte kein Zuhause, keine Arbeit, keine Brüder, Schwestern und Eltern, die tatsächlich gesund und quicklebendig waren; es gab niemanden mehr, mit dem man leben konnte, bis auf diese Frau, es gab nichts Gutes und keine Hoffnung auf Erden, hatte es nie gegeben. Es blieb nur der Kampf ums Überleben, ein sinnloser Kampf, der Preis, die Last, die Anstrengung, der Wille, das mühselige Erbeuten jedes einzelnen Augenblicks, Luft schlucken, den eigenen Atem schlucken. All das, sobald er vom Körper dieser Frau abließ, gerade so, als zöge man den Stecker und versorgte das Gerät über den Akku. Ist er voll? Halb leer? Schon am Ende? Clementina, ganz gleich, an welchem Punkt dieses feindselig schönen Meeres sie sich befand, Clementina, einziger, flüchtiger Halt, Clementinas Busen, ihre Beine, ihre sachte Stimme, wie das Summen eines Bienenstocks: In den kurzen Stunden, die ihre Flucht noch dauern würde, gab es für Erri keinen anderen Horizont. Weder aus Begehren noch aus Liebe zu ihr, nicht einmal um der Neugier und um des Neuen willen, das ein paar saftige, heimlich genossene Früchte vom Baum des Alltags schütteln sollte, sondern einzig, um die eigene Angst zu ersticken, wird Erri ihr in den folgenden Stunden, die sie gemeinsam auf der Insel verbringen, sie umschiffen und auf der Suche nach einsamen Buchten und Felszinnen, Höhlen und Schluchten durchstreifen werden, keine Ruhe lassen, er wird sie belagern, sie ausziehen, wenn sie nicht schon nackt ist, sie küssen und streicheln, sie umarmen, bis sie fast erstickt und ihr Rücken fast bricht, sein Gesicht in ihren Händen und in ihrem Körper, seine Zunge in ihrem Mund vergraben, um das Gegengift gegen die Angst herauszusaugen. Wo war sie jetzt? Welchen Sinn hatte es, sich so heftig an ihr zu entladen? Wer würde ihn vor diesem zehrenden Schutzbedürfnis schützen? Clem war gefährlich, eben weil neben ihr nichts als Gefahr lauerte, die Verzweiflung begann und also sie selbst zum Verzweifeln war, kaum dass sie für einen Wimpernschlag verschwand. Sich entfernte. Nicht mehr da war. „Doch kann ich so leben?“ Dieses Abenteuer musste Minute für Minute gelebt werden, Mund zu Mund. Sonst würde man ersticken.

 

Erri war in diesem Abenteuer auf eine dunkle Seite gestoßen, deren Dunkelheit und Tiefe seine Vorstellung weit überstieg und die weder etwas mit der Furcht zu tun hatte, von seiner Frau ertappt zu werden, noch mit dem schlechten Gewissen, sie betrogen zu haben: Es ging um ihn, nur um ihn, darum, wie er war; so war es schon gewesen, lang bevor er Clem getroffen hatte, vor der Heirat mit seiner Frau, noch ehe sie sich kannten und er überhaupt eine Frau geküsst oder ein Mädchen absichtsvoll angesehen oder nur den Wunsch danach gehegt hatte. Es ging allem voraus und würde womöglich alles überdauern. Auf dem Rücken treibend, fast regungslos, erschöpft, geblendet, überwältigt, matt mit den Füßen paddelnd, ohne die Kraft und den Willen, einen weiteren Armschlag zu tun: In der Leere des lichtgleißenden Himmels spiegelte sich Erris reinste Angst.

 

Clem lag bäuchlings am Bug. Die Sonne stand bereits niedrig, doch sie würden vor Sonnenuntergang zurück sein. Ständig musste Erri mit der Motorpinne den Kurs justieren: Das Boot kehrte leicht beschwipst zur Hauptinsel zurück, schlingernd zeigte der Bug mal zur Südspitze, mal zur anderen. Erri musste zugeben, dass der Blick auf die Insel, die während der Fahrt über das glatte und nunmehr fahl werdende Wasser zum gemächlichen Brummen des Motors langsam näher rückte und Clementinas nackten Körper in perspektivischer Verkürzung am Bug, ein berückendes Panorama ergaben. Was konnte schöner sein als dieses Bild in diesem Augenblick des Tages, des Jahres, des ganzen Lebens? Oder hat das Verlangen nicht einmal daran genug?

 

„Hinterlass mir ja keine Spuren“, hatte Erri gesagt, als sie das erste Mal zusammen im Bett gewesen waren und Clementina, die sich lustvoll unter ihm wand, ihn fest umklammert hielt und ihm die Nägel in den Rücken schlug. Sie verstand nicht, was er sagte, und Erri wiederholte es kühl und skandiert und sah ihr direkt in die Augen. „Du sollst keine Spuren auf mir hinterlassen.“ Das waren mehr oder minder die einzigen Worte, die sie bei jenem Mal wechselten. Clementina hatte genickt und ein schiefes Lächeln aufgesetzt, das sich befremdet oder spöttisch ausnahm oder aber die Offensichtlichkeit dieses vorausgesetzten Einvernehmens mit einem frisch erkorenen Liebhaber unterstreichen mochte, und seufzend hatte sie den Griff um Erris Hüften gelockert. Tatsächlich hätte die Sorge, dass ihre Begegnung, und sei sie noch so stürmisch, keinerlei Spuren auf ihren Körpern hinterließ, beiderseitig sein sollen.

 

Erri war kräftig und schwer, ungleich viel schwerer als Clementina: Wenn er auf ihr war, zerquetschte er sie, er walzte sie nieder. So blieb ihr vielleicht nur diese Geste, der Impuls, ihn zu kratzen, um Widerstand und Gegenwehr zu zeigen, auch wenn Erri dies nicht zu Unrecht für Leidenschaft hielt. Clementinas schlechtes Gewissen über ihr gemeinsames Tun kam und ging, war erst einmal die Hürde der Frage genommen, ob es richtig war oder falsch, ob es anstand. Denn viel mehr Fragen gab es nicht. Die gute Gelegenheit, schiere Lust, Neugierde, Konsequenzen, Furcht, all diese Stimmen zuckten wechselnd in ihr auf, mal schwach, mal gar nicht. Auch während ihrer ersten Nacht auf der Insel, die erst noch anbrechen muss, als Erri kurz vor Morgengrauen aufgewacht war, um am Wasserhahn im Bad geräuschvoll seinen Durst zu stillen, sie mit dem angeknipsten Licht geweckt, nach der Rückkehr ins Bett aufs Kreuz gelegt und bestiegen hatte, hatte Clementina, die, kaum dass sie die Augen aufschlug, bereits unter ihm lag, ihn instinktiv bei den Hüften gepackt und ihm, überrumpelt und zum Gegenschlag entschlossen, die Nägel in die Haut gebohrt. Erri war jaulend aufgefahren, um ihre Hände abzuschütteln, hatte sich wieder hinabgebeugt und ihr die gewohnte Mahnung zugezischt. Sofort lockerte Clementina ihren Griff, obschon sie diesmal, eben weil er ihr mit der üblichen heiseren Frostigkeit Einhalt gebot, ernstlich versucht war, sich zu widersetzen, ihn mit ihrer verbotenen Leidenschaft zu brandmarken, ihm wenigstens diesen kleinen kompromittierenden Preis abzunötigen, seine Schultern und Wangen zu zerkratzen oder an seinem Hals zu saugen und einen Knutschfleck zu hinterlassen, wie man ihn als Teenager entweder versteckt oder zur Schau stellt.

 

Es war bereits passiert und würde natürlich wieder passieren, angefangen bei dem Abend ihrer Rückkehr in die Stadt: wieder mit dem Ehepartner im Bett zu liegen. Im üblichen Bett also. Beide vermieden es, an den Moment zu denken, wenn sie mit ihrem offiziellen statt mit ihrem heimlichen Partner schlafen würden. Dieser Gedanke trieb Clementina wohl mehr um als Erri: Ihm gefiel seine Frau nach wie vor, er fand sie nicht weniger anziehend als zu ihren Anfangszeiten, sein Begehren war mit den Jahren nicht abgeflaut, sondern hatte sich vielmehr vertieft und verästelt, und die Aussicht, binnen weniger Stunden zwei verschiedene Frauen in den Armen zu halten, erregte ihn. Unter Umständen hätte er sich darauf eingelassen, es häufig, wenn nicht gar täglich zu tun. Ebenso schlicht und geradezu arglos verweigerte er sich der Tatsache, der Vorstellung, dem Bild der mit ihrem Mann vereinten Clementina, den Erri zudem gar nicht kannte und den sie nur sporadisch erwähnte, ein virtueller Mister X ohne Namen und Eigenschaften, bis auf die, dass er das Haar lang trug. „Clementina schläft mit ihrem Mann“: Dieser Satz wollte Erri einfach nicht in den Kopf. Es mochte einem übersteigerten Selbstwertgefühl geschuldet sein, dass er überzeugt war, Clems Sex mit ihrem Mann, wenn sie denn welchen hatten, sei belanglos und nichtig und hinsichtlich Leidenschaft und Emotion sowieso nicht mit ihren Stelldicheins vergleichbar; Eifersucht würde jede zukünftige Begegnung mit Clementina vergiften und sie mit den beiden ärgsten Feinden der Liebe infizieren, dem absoluten Besitzanspruch und dem Vergleichswahn. Sollte Clementina doch schlafen, mit wem sie wollte, dachte Erri arglos aufrichtig, wenn sie nur zu mir kommt, mit mir zusammen ist. Mit mir zusammen zu sein wird jeden anderen Liebesakt tilgen, überdecken, rechtfertigen, fortwaschen wie eine lässliche Schuld, ihn nichtig machen, als hätte es ihn nie gegeben. Folglich war er der arglosen Überzeugung, es gebe keinen. Es war für Erri schlicht undenkbar, dass Clems Mann oder sonst irgendjemand ihm etwas von ihr wegnehmen könnte. Jedenfalls würde es die in ihrem zierlichen Körper lodernde Flamme nicht im Mindesten trüben, wenn andere ihre Kerze daran zu entzünden versuchten.

Für Clem war es anders. Die Vorstellung von Erri, der nach Hause zurückkehrte, seine Frau in die Arme schloss und sich mit ihr den gleichen Spielen hingab, auf die mehr oder weniger gleiche Weise, und diesen Zeitvertreib ebenso enden ließ, ging ihr gegen den Strich. Der Abklatsch als solcher ärgerte sie, sie fand ihn lächerlich, beleidigend. Was sollte das? Welchen Sinn hatte es? Niemals hätte sie sich die Blöße gegeben, es Erri einzugestehen, doch es nagte an ihr, und selbst zu Beginn ihrer Flucht auf die Insel konnte sie an nichts anderes denken als daran, was gleich nach ihrer Rückkehr passieren würde. Obwohl sie selbst einmal dort gewesen war, quälte sie sich damit, sich das Schlafzimmer von Erri und seiner Frau vorzustellen, es sich geschmacklos und unpersönlich auszumalen wie das Filmset einer seit zwanzig Jahren über den Bildschirm flimmernden Billigserie: das Ehebett, die identischen Lampen auf den Nachttischen, das Bettzeug, die Dessous der Frau und die behutsame oder stürmische Art, mit der Erri sie ihr auszöge. Was hatten sie gemeinsam, was unterschied sie? Ist der Geschlechtsakt immer gleich, nur mit wechselnden Teilnehmern, ist es so? Oder ist jeder einzigartig und anders? Weshalb sollte ich nur darauf eifersüchtig sein und nicht auch auf alles andere, auf jeden einzelnen Augenblick, den Erri mit seiner Frau verbringt, auf jedes Wort, das er zu ihr sagt, auf jeden Blick, den er ihr schenkt, einschließlich der gereizten und feindseligen, sofern es sie gibt? Wäre es mir lieber, auch sie gälten mir und niemandem sonst?

 

Seit sie Erri kennengelernt hatte, hatte sie ihren Mann fraglos zu vernachlässigen begonnen, sie hörte ihm nicht mehr richtig zu, war für jeden seiner Vorschläge unempfänglich und reagierte erst recht auf seine Umarmungen verhalten. Vor der Geburt ihres Sohnes hatte Clementina bereits seit einer Weile nicht mehr mit ihm geschlafen. Erri war der erste Mann seit über einem Jahr gewesen, der erste, der nach der Geburt ihre Schenkel geöffnet hatte und in sie eingedrungen war. Als ihr Mann ihr durchaus rücksichtsvoll und behutsam Avancen gemacht, sie im Bett vor dem Einschlafen von hinten umarmt und ihren Hals auf die zärtliche Art geküsst hatte, auf die Clementina vor der Schwangerschaft stets angesprungen war, sich zu ihm umgedreht und ihn auf sich gezogen oder, ohne sich umzuwenden, den Rücken durchgebogen hatte, um ihm das Eindringen zu erleichtern, hatte sie nicht reagiert, ihn weder abgewiesen noch ermutigt, und bisher hatte ihre offenkundige Unlust genügt, um ihn davon abzubringen. „Mach dir nichts draus, dann warten wir eben. Ich verstehe das. Ich liebe dich, gute Nacht“, hatte er unvermindert zärtlich gesagt und nichts verstanden. Mit der Ausrede der Hitze war Clementina in den vergangenen Wochen immer entschiedener von ihm abgerückt. Nur Erri würde sie noch in sich einlassen, nur Erri. Wie lange konnte diese Abstinenz noch fortdauern, ohne Schatten zu werfen und Fragen, einen Streit, womöglich einen Bruch zu provozieren? Was würde es brauchen, damit sich ihr Mann anderen zuwandte, sollte dies – und dessen war sich Clementina insgeheim so gut wie sicher – nicht bereits geschehen sein?

 

Als sie das Hotel verließen, um zu Abend zu essen, klingelte in Clems Tasche zum ersten Mal an diesem Tag das Telefon. Das Gebimmel schreckte Erri auf, doch sie öffnete ungerührt die Tasche, holte, ohne lang darin herumzukramen, das Handy hervor und nahm den Anruf entgegen. Dem gedämpften und rein informativen Wortwechsel in schlichtem Englisch nach handelte es sich um das Mädchen, dem Clem den Jungen über das Wochenende anvertraut hatte. Zu Hause lief alles glatt. Der Kleine aß und schlief und hatte kaum geweint. Die Abwesenheit der Eltern hätte noch ewig fortdauern können, ohne dass das Baby etwas davon mitbekommen hätte. Clementinas Stimme klang ruhig und bestimmt, während sie Frage für Frage abhakte, als ginge ihre Sorge, den Jungen in andere Hände gegeben zu haben, nicht über die routinierte Sachlichkeit hinaus, mit der die Besitzerin besagter, vermutlich nicht sonderlich erfahrener Hände zu behandeln war. „Sie ist blutjung und bildhübsch“, sagte Clementina, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. Sie warf Erri einen mokanten Blick zu. „Was meinst du, sollte ich eifersüchtig sein?“ Während sie durch das Auf und Ab der Gässchen spazierten, an denen sich die Häuser allmählich lichteten und einer eigentümlichen, leicht gespenstischen Vegetation wichen, folgte Erri Clementina, die sich sicher durch die annähernde Dunkelheit bewegte, und grübelte dem Sinn dieses Satzes nach, dieses Wortes, Eifersucht: Wer hätte auf wen eifersüchtig sein sollen? Clementina auf ihren Mann? Wegen der attraktiven Babysitterin? Oder Clementinas Mann auf Clementina? War er es? Hatte dieser Mann nicht eine Frau, die ebenso begehrenswert war wie das Kindermädchen, das zu dieser Tageszeit vermutlich eine kleine Spieluhr mit niedlichen bunten Bienen über dem Gesicht ihres Sohnes aufzog, um ihn damit in Trance zu versetzen und endlich zum Einschlafen zu bringen? Welche Art Schmerz ruft die Eifersucht hervor, wovor genau schützt sie, vorausgesetzt, es ist der tiefere Sinn von Schmerz, uns von weiteren Fehlern abzuhalten? Bin ich auf diese Frau eifersüchtig, die vor mir hergeht wie ein Schatten, der hinter der nächsten Ecke verschwinden und sich in Luft auflösen kann? Ich bin eifersüchtig, wenn ich daran denke, dass sie einen Mann, einen kleinen Sohn, ein anderes Leben hat, das ihr wahres Leben ist. Ja, denkt Erri, ich bin eifersüchtig, und wie. Entsetzlich und himmelschreiend eifersüchtig. Nicht auf die Liebe, die sie für jemand anderen empfindet, nicht auf ihren Körper, den ein anderer oder andere berühren und küssen, sondern auf ihr Leben insgesamt, das ja. Wie übrigens auch auf das Leben meiner Frau, gestand Erri sich ein. Das geheime Leben, das sie jenseits unseres gemeinsamen Lebens hat, haben muss, der Eisberg, den ich nicht sehe und niemals sehen werde. „Wo willst du hin?“, rief er. „Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“

 

Clementina fiel es nicht sonderlich schwer zu lügen. Es lag ihr im Blut. Sie tat es spontan, ohne sich vertrackte Geschichten ausdenken zu müssen. Vor allem nahm man ihr die Begründungen ab, so glaubhaft war offenbar die Selbstverständlichkeit, mit der sie sie hervorbrachte. Nur ein einziges Mal hatte Erri gehört, wie sie ihrem Mann eine Lüge auftischte. Und er war erstaunt, geradezu baff, ja, schockiert gewesen, wie freiheraus Clementina ihre Märchen zum Besten gab (Termin beim Anwalt; Mofapanne; Erri bekam nicht alles mit, er wollte nicht alles mitbekommen, er wollte nicht lauschen und gar nicht wissen, was er belauscht hatte …), so schamlos, dass er kurz geglaubt hatte, sie lege es darauf an, ertappt zu werden. Bei ihrer Unbefangenheit musste man einfach misstrauisch werden. Schon möglich, dass ihr Mann nicht eifersüchtig war und keinen Grund dafür sah, oder er war es, vertraute aber seiner Frau, oder er vertraute ihr nicht, und Clementina schaffte es trotzdem, ihn einzuwickeln. Aber Erri, eifersüchtig? „Dazu bin ich zu egoistisch“, hatte er einmal zu Clementina gesagt, und sie hatte ihm nicht geglaubt. Im Gegensatz zu Clem war Erri kein bisschen überzeugend. Stets schwang in seinen Behauptungen ein Zweifel mit, eine Verstörung, und heimlich gefiel ihr das, es hatte ihr von Anfang an gefallen, die unerfindliche Unsicherheit dieses Mannes zog sie an: Sie zeigte sich weniger in seinem Tun als in seinem Denken und Reden. Deshalb kosteten Lügen Erri eine große Überwindung, und wenn er seine Frau anlog, um noch ein oder zwei Stunden mit Clementina herauszuschlagen, klangen diese Flunkereien weder mehr noch weniger glaubhaft als seine meist aufrichtigen Wahrheiten, in denen stets ein Stich Unsicherheit mitschwang. Selbst wenn er ehrlich war, schien Erri zu lügen, sich zu widersprechen, nicht recht zu wissen, wie er die Dinge darstellen sollte. Es gab keine Überzeugung oder Beschreibung oder Erinnerung, deren Vermittlung ihn nicht Überwindung kostete, als müsste er sich Wort für Wort aus den Fingern saugen. Zum Glück war seine Frau gerade in Gedanken, als er ihr wenige Tage vor der Abreise gesagt hatte, er würde Samstag und Sonntag auf eine Finanzberatertagung fahren. Unfähig, seine Lügen aus der Luft zu greifen, hatte er ein tatsächlich in diesen Tagen stattfindendes Treffen vorgeschoben, zu dem er selbstverständlich nicht gefahren wäre. Der wahrheitsgemäße und vollkommen überflüssige Aufhänger drohte ihn in zahllose Widersprüche zu verstricken, schon schwanten ihm die möglichen Ungereimtheiten, seine Versprecher, das eventuelle Nachhaken, wo er tatsächlich gewesen sei und was er tatsächlich gemacht habe, er hörte es zwischen den Zeilen knirschen, noch ehe er sie ausgesprochen hatte, noch während er sie dachte. Er war der Erste, der sich nicht glaubte und das Klimpern von Falschgeld in seinen Worten vernahm. Doch seine Frau hörte gar nicht zu, sie war ganz Ohr für die jüngere Tochter, die gerade von ihrem ersten Tag an der Oberschule erzählte, und erkundigte sich nach ihren neuen Mitschülern. Also hatte Erri den Mund gehalten, erleichtert, nicht weiter ins Detail gehen zu müssen: wie, wo, Bahn oder Flieger oder Auto.

 

Clementina machte sich über Erris Schwäche lustig. Wieso betrügst du deine Frau, wenn es dich dermaßen umtreibt, hätte sie ihn am liebsten gefragt. Gefalle ich dir besser als sie? Nur weil ich dir gefalle, bist du bereit, Risiken einzugehen? Wie viel bedeute ich dir, oder besser, welchen Punkt würdest du nicht überschreiten, um dein Kartenhaus aus verklemmten Lügen und halb garen Vorkehrungen nicht einstürzen zu sehen? Welchen Sinn hat es, mit mir ins Bett zu gehen? Welchen Stellenwert hat es für dich? Welchen Stellenwert hatte es in deiner Fantasie bei unserer ersten Begegnung? Bedeute ich dir jetzt mehr oder weniger? Und was empfindest du, wenn du auf mir bist, mich belagerst? Spaß? Risiko? Liebe? Erregung? Angst?

 

Dennoch mochte Clementina Erris Entschlusslosigkeit. Sie irritierte sie, aber sie gefiel ihr. Das, was sie an Erri niemals geliebt hätte, war das, weshalb sie sich in ihn verlieben könnte, oder vielleicht hatte sie das bereits. Etwas, das nicht von Dauer war, das nervte, nachdem es erregt hatte, etwas Unstetes, das ebenso machtvoll wie trügerisch war und die gefährlichste Seite in Clems Persönlichkeit zum Schwingen brachte: den brennenden Wunsch, sich zu verlieren.

 

Der Fußmarsch durch Farnkräuter und unheilvoll aufragende Kaktusfeigen, deren Stacheln im Mondlicht schimmerten, hatte sich gelohnt. Die Terrasse des Restaurants, das Clem ausgesucht hatte, war atemberaubend, mit schwindelndem Blick über eine Bucht, die glitzerte und flirrte wie ausgerolltes Silberpapier. Die steil abfallenden Felswände beschrieben den Viertelkreis eines riesigen Kraters, dessen Reste vor Millionen von Jahren im Meer versunken waren. Dank nicht vorhandener oder leicht zu umgehender Vorschriften, um die sich offenkundig niemand scherte, hatte irgendjemand die absurde Idee gehabt, an diesem Fleck unweit des Abgrunds eine lang gestreckte, versetztgeschossige Holzbaracke zu errichten, die dann durch mehrere solide Anbauten erweitert und mit einem komplizierten System aus Treppen und Stiegen versehen worden war, die die Innenräume, die Küche und die wohl zum letzten Mal in der Saison mit rund einem Dutzend Tischen bestückte Terrasse verbanden. Eine leichte Brise hätte genügt, um die Rücken der vom Sonnentag erhitzten Gäste in Eis zu verwandeln und die Terrasse unbenutzbar zu machen. Doch wundersamerweise schwieg der Wind, und die Nachtluft war weich und ebenso unbewegt wie das Buschwerk, das den Abgrund säumte.

 

Ein einzelnes Mädchen in einem kurzen Blumenkleid hatte alle Hände voll damit zu tun, die Tische mit einer losen Folge überbordender Teller zu bewirten, die man sich nicht aussuchen konnte und die man unter anderen Umständen enttäuschend genannt hätte. Gekochte Eier, Sardellen, Linsen in sämiger Tomatensoße, Perlzwiebeln, gedünstete Zichorie, schwarze Oliven, frittierte Fischchen und später zum Abschluss dicke Scheiben zuckersüß duftender Honigmelone. Erri hatte gar keinen Hunger. Die überwältigende Aussicht, Clem an seiner Seite, das überreichliche Essen hatten ihm den Appetit verschlagen. Er konnte vor Ergriffenheit kaum atmen, die umso größer wurde, als er den eigentlichen Grund seiner Verstörung nicht ausmachen konnte.

 

Ist ein altes oder neues Paar auf Reisen, wo es niemanden kennt, verdichten sich in ihm alle nur denkbaren menschlichen Beziehungen und werden von ihm verkörpert und gelebt; nach und nach schlüpft jeder der beiden in Rollen, die normalerweise von Kindern, Freunden, Bekannten, Kollegen, Priestern, Ärzten, Schwestern, Lehrern, Anwälten, Polizisten oder Kunstkritikern gespielt werden. Die Sätze, die man zu einer Freundin sagen würde, der Streit mit einem Kellner, der Rüffel des Vorgesetzten, die Fragen, die man einem Tennis- oder Yogalehrer stellen würde oder einem Katasterbeamten, die Hilfe, um die man seinen Vater nie freiheraus zu bitten wagte (ebenso wie man es sich aus dummem Stolz oder Schüchternheit verkneift, einen Passanten nach dem richtigen Weg zu fragen …), alle denkbaren Wortwechsel finden zwischen diesen beiden Menschen statt, die miteinander zu Abend essen, ins Bett gehen, herumflanieren und Denkmäler besichtigen. Die ganze menschliche Gesellschaft spiegelt sich in dieser Zelle, deren Bestandteile einander ansehen, streiten, sich befragen, träumen, Versprechungen machen, drohen, verkünden, beratschlagen, einander widersprechen oder schweigen, als gäbe es nur noch sie auf der Welt.

 

Sämtliche Gäste und Angestellte des Lokals wirkten wie die Nebenfiguren eines Romans: eines eingehenden und dennoch kurzen Blickes durchaus würdig, so die junge Bedienung, von der man eines Tages höchstens noch den Pferdeschwanz oder das verwaschene, geblümte Fähnchen erinnern würde. Menschen mit einer Persönlichkeit, einer eigenen Geschichte, die jedoch als Beiwerk dienten, während Clem und Erri in ihrer Blase schwebten, an die niemand heranreicht, zu der niemand Zutritt hat.

 

Niemand, mit einer Ausnahme. Von einem Nachbartisch erhob sich ein hochgewachsener, braun gebrannter, soignierter Herr in hellem Anzug, der, wenn es keine versteckten physischen Gründe für sein Torkeln gab, dem Alkohol sichtlich zugesprochen hatte. Doch als er unser Paar erreichte, die Fingerspitzen auf den Tisch stützte, sich zu ihnen hinunterbeugte und sie ansprach, roch sein Atem keineswegs nach Wein, sondern angenehm frisch. Der Mann mochte um die sechzig sein, vielleicht etwas älter, und obwohl er sich an Erri wandte, konnte er den Blick nicht von Clementina losreißen, die der eigentliche Grund war, weshalb er seinen Tisch verlassen und, so könnte man meinen, schwache Knie bekommen hatte. Ein eigenartiges Schielen: Der Mund des Mannes war ganz auf Erri, die Augen auf Clem gerichtet. Erri lächelte liebenswürdig und versuchte, aus dem geschniegelten Herrn schlau zu werden. Es gibt Männer, die anderen Männern zu schmeicheln suchen, indem sie eine Lobrede auf deren Frauen halten oder diesen mit einer leisen Mischung der Zwillingsgefühle Ironie und Neid den Hof machen. Die Komplimente, die auf die Schönheit der Frauen, Verlobten oder Freundinnen anderer abzielen, gelten tatsächlich denen, die das Glück oder das Geschick hatten, sich mit ihnen zu schmücken, um dann erneut zu der Person zu springen, die ihr Auslöser war. So sprach der ältliche Stenz mit den grünen Augen und den welken Wangen, ein Peter O’Toole mit einem wo auch immer verschlissenen Charme, er sprach mit Erri, um ihm klarzumachen, welcher Schatz ihm da in die Hände gefallen war: Seine Sätze fügten sich mit einer feierlichen Präzision und Geschmeidigkeit aneinander, die eine diplomatische oder zumindest hochrangige Karriere vermuten ließen. Obwohl seine Augen und Lippen lächelten, strahlte er eine herzzerreißende Wehmut aus. Mit einem Wort, er war ergriffen auf jene Art beherrschter Menschen, die verschwiegen und dennoch beredt sind, eben weil die Erziehung ihnen Einhalt gebietet. Er sagte zu Erri und Clem, sie seien „von der Anmut berührt“, und in diesem Augenblick gebe es auf der ganzen Insel niemanden, der solches Glück hätte wie sie. Clems Schönheit wurde gebührend gepriesen. „Genau deshalb solltet ihr euch vorsehen.“ Vor was, vor wem, drängte es Erri zu fragen. „Nun, das ist offensichtlich, mein Lieber, in erster Linie vor euch selbst.“

 

Und wieder klingelt während des Abendessens das Telefon. Clem leert das Glas Rosé, das sie in der Hand gehalten hat, stellt es ab und nimmt den Anruf entgegen. Es ist ihr Mann, Erri erkennt seine durchdringende Stimme. Ohne ins Detail zu gehen, erzählt sie ihm, sie sitze mit ein paar sehr netten Kollegen beim Abendessen, und der erste Kongresstag sei ebenso interessant wie langweilig gewesen. Während sie spricht, nimmt sie Erris Hand und drückt sie fest oder schiebt vielmehr ihre Finger sanft in seine Handfläche und bohrt die Nägel hinein, als führe sie die Krallen aus, um ihm wehzutun, was sie ansatzweise auch tut und ihn zugleich daran hindert, seine Hand zurückzuziehen. Dabei lacht sie herzlich über irgendeine Bemerkung ihres Mannes, der offenbar ein witziger Typ ist. Erri kennt ihn nicht und legt auch keinen Wert auf seine Bekanntschaft, erst recht nicht durch Clems Beschreibungen. Er weiß nur, dass er ein gut aussehender, eleganter Mann mit vorzeitig ergrautem, langem Haar ist, und allein die Kenntnis dieses letzten (von ihr ausgeführten) Details stört Erri so sehr, dass er nicht mehr wissen will. Am Ende ihres irrealen Wortwechsels aus Lügen und Scherzen (Erri ist zu dem Schluss gekommen, dass Clementinas Mann ebenfalls lügt und ihr etwas verheimlicht, was dem gekünstelt unbeschwerten Telefongeplänkel zusätzlichen Schwung verleiht) steckt Clementina das Telefon in die Tasche zurück, ruft das Mädchen im Blumenkleid heran und bittet sie, die Karaffe abermals mit dem Hauswein zu füllen, der weniger rosé denn von undefinierbarer Farbe ist und dessen Harzigkeit als genuines Gütezeichen herhalten muss. Dann steckt sie sich ein frittiertes Fischchen in den Mund. Während sie kaut, umspielt noch das Lachen des eben geführten Telefonats ihre Lippen, als wären seine amüsanten Noten noch nicht ganz verklungen. Doch als sie den allzu lang und mechanisch gekauten Bissen hinunterschluckt, bemerkt Erri, dass Clems Augen voller Tränen stehen. Seine Hand greift nach ihrem Gesicht, um die Tränen aufzuhalten, die ihr plötzlich über die Wangen rollen. Doch sie will nicht. Kopfschüttelnd weicht sie zurück. Na bitte, schau? Der Ausbruch ist schon vorüber. Und hastig wischt sie ihre Tränen mit dem Handrücken fort.

Edoardo Albinati

Über Edoardo Albinati

Biografie

Edoardo Albinati wurde am 11. Oktober 1956 in Rom geboren, wo er auch heute noch lebt. Er ist Drehbuchautor (u.a. von Fai bei sogni für Mario Bellocchio) und Übersetzer (von Vladimir Nabokov, Ambrose Bierce, Robert Louis Stevenson, John Ashbery, William Shakespeare ...). Ab 1984 arbeitete als...

Pressestimmen
Bunte

"Edoardo Albinati siziert schonungslos eine Affäre"

Madame

"Ein schmaler Roman über die Flucht aus dem Alltag, erzählt wie ein erotischer Fiebertraum."

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„(…) Jene reizvolle Spannung in Edoardo Albinatis Roman ›Ein Ehebruch‹ (liegt darin): Clementina und Eraldo begegnen einander tunlichst auf der Oberfläche. Und der Autor beschäftigt sich auf kunstvolle Weise mit dieser Oberfläche so oberflächlich wie nur irgend möglich.“

Landshuter Zeitung

„Albinatis Prosa glitzert wie die Wasseroberfläche rund um die Insel des Betruges im Sonnenlicht.“

Buchkultur

„Meisterhaft und brillant geschliffen in Stil und Wortwahl“

Heilbronner Stimme

„Detailliert lotet Albinati alle Gefühlsregungen seiner beiden Protagonisten Erri und Clementina aus, dreht und wendet ihre Ängste, Hoffnungen und Wünsche vor den Augen des Lesers.“

NDR Kultur "Gemischtes Doppel"

„Eine kleine, auch in Details ergreifende Geschichte.“

Buch-Magazin

„In diesem Roman findet sich jeder liebende Mensch wieder.“

Kommentare zum Buch
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